Es ist ein geschichtsträchtiges Jahr, dieses Jahr 2024. Ein mehr oder weniger runder Jahrestag folgt auf den anderen. Grund genug, zurückzublicken und „Geschichte zu befragen“,- auch um aktuelle Entwicklungen besser verstehen zu können, denn: „Ein Volk, dass seine Geschichte vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“
Vor 85 Jahren hat Deutschland den 2. Weltkrieg begonnen,- das war die Ursache der späteren deutschen Teilung. Vier Jahre nach Kriegsende, mitten im heraufziehenden „Kalten Krieg“, wurde am 23.05.1949 die BRD und am 7.10.1949 die DDR gegründet. Die DDR wäre am 7. Oktober 75 geworden, verschied aber an Erstarrung und Verkalkung, bevor sie die 41 erreicht hatte.
35 Jahre sind seit dem Beginn der „Friedlichen Revolution“, mit dem entscheidenden 9. Oktober 1989 in Leipzig verstrichen, der unwissentlich den Anfang vom Ende einleitete. Die vermeintliche Revolution wurde sehr schnell von großen geopolitischen Rädern überrollt, ohne dass sie sich recht entfalten konnte oder gar später weiter oder zu Ende geführt worden wäre. Die damaligen Ziele und Utopien, die über die Verhinderung des Zusammenbruchs der DDR und den geordneten Beitritt zur BRD hinauswiesen, sind bis heute nicht eingelöst.
Es folgte nur eine brave Machtübergabe an Runden Tischen, – doch nicht etwa an die Revolutionäre, sondern letztlich an den Westen, dem nach der Maueröffnung am 9.11.1989 alle Türen offenstanden, was er sofort mit seiner geballten ökonomischen, finanziellen und medialen Macht ausnutzte.
Der 9. Oktober 89 in Leipzig wurde dann so etwas wie der Gründungsmythos des wieder vereinten Deutschland. Hier ist es passiert, hier wurden die Weichen gestellt…, so heißt es. So titelte die SUPERillu denn auch schon am 2.10.2024 mit: „35 Jahre Mauerfall“ (der ja erst am 9.11.1989 erfolgte) bezüglich des 9.10.89 in Leipzig und wirft so alles in einen Topf.
Aber: Wir wollten ja die DDR retten und reformieren, begrünen und demokratisieren.
Vom Protest zur Wiedervereinigung
Von Wiedervereinigung und deutscher Einheit war in den ersten zwei Monaten der Proteste keine Rede. Das änderte sich erst allmählich nach der Maueröffnung, – der letzten Rache des Politbüros, wie manche scherzten.
Jetzt kamen andere Leute und andere Forderungen auf die Demo: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“ hieß es nun. Das waren die Leute, über die später gewitzelt wurde: „Dafür hamm mer nich hinter der Gardine gestanden!“
Als bei einer November-Demo dann die nachgemachten 100-DM-Scheine vom Glockenturm des Krochhauses schwebten, war klar, um wessen Freiheit es jetzt geht, – um die des Kapitals.
Erneute Massenflucht 1989 und 90, ökonomische und finanzielle Krise, Wirtschafts- und Währungsunion, sowie überstürzter Anschluss, statt einer Vereinigung auf Augenhöhe, waren bekanntlich das letztliche Ergebnis der offenen Grenzen. Das Ende der Revolution und der Utopien war sehr schnell eingeläutet.
Unsere Revolution hatte keine Zeit und auch keine Macht, wirkliche Spuren zu hinterlassen. Doch den demokratischen, zivilgesellschaftlichen und utopischen Impuls der Vorwende- und Wendezeit sollten wir verteidigen und ins Heute transformieren.
Denn es ging nicht nur um Freiheit (schon gar nicht um die des Kapitals), sondern um Gerechtigkeit, Verantwortung, ums „Hierbleiben“, um demokratische Teilhabe, um Frieden, nachhaltige und zukunftsfähige Gesellschaftsgestaltung, – alles heute wieder aktuell. Eigentlich war der real existierende Sozialismus, auch die DDR, ein Segen für Westdeutschland, für den Kapitalismus, da er ihn durch die Systemkonkurrenz zwang, sich zu zivilisieren und zu humanisieren. Das war nun vorbei, wie die nächsten Jahre zeigten.
Von der Revolution zur Schocktherapie
Kein Mensch hatte eine Ahnung davon, was eine sofortige Wirtschafts- und Währungsunion für Ostdeutschland bedeuten würde, nämlich eine ökonomische und soziale Katastrophe für das eh angeschlagene Land. Und wenn, dann wurde ihm nicht geglaubt.
Es wurde die D-Mark, die „Freiheit“, die deutsche Einheit gefordert, die dann auch kam und Ostdeutschland im Schweinsgalopp und als Sturzgeburt zu einem Entwicklungsland machte, das jahrzehntelang wieder aufgebaut werden musste (Aufbau Ost).
Die DDR-Wirtschaft stand nach der Wirtschafts- und Währungsunion plötzlich völlig ungeschützt durch einen Währungswechselkurs (früher etwa 1:6, also eine D-Mark kostete etwa sechs DDR-Mark, was den Produktivitätsnachteil ausglich) in Konkurrenz mit der westdeutschen Wirtschaft, die eine viermal höhere Produktivität hatte, und natürlich auch mit der ganzen europäischen und der Weltwirtschaft.
Hinzu kam, dass durch den Übergang der DDR zur D-Mark faktisch eine Aufwertung des Zahlungsmittels der DDR-Wirtschaft um 600 % erfolgte. Für die bisherigen Handelspartner, die RGW-Länder und viele Länder aus der Dritten Welt, verteuerten sich dadurch die Produkte aus der DDR um das Sechsfache, was zum weitgehenden Zusammenbruch dieser Handelsbeziehungen führte und zum Schrumpfen und zum Zusammenbruch von Betrieben und zu Massenentlassungen.
Hinzu kamen noch vielfache völlig absurde Regelungen, wie z.B. Rückgabe vor Entschädigung und die Altschuldenregelung, die aus reinen Buchwerten echte Kredite der Staatsbank machte, die von den Betrieben zurückgezahlt werden mussten. Zusammen mit der kriminellen Treuhandpolitik führte dies zu einer weitgehenden Deindustrialisierung der einstmals zehntgrößten Wirtschaftsnation der Welt.
Ich bin mir inzwischen äußerst unsicher, ob diese Konstruktionsfehler bei der Wirtschafts- und Währungsunion und beim Einigungsvertrag versehentlich, im Zeitdruck des Einigungsprozesses passiert sind, oder ob sie willentlich und wissentlich eingebaut wurden. Z.B. um die ostdeutsche Konkurrenz auszuschalten und mit einer großen industriellen Reservearmee die Tarif- und Gewerkschaftsstrukturen in Westdeutschland auszuhebeln.
Politisch machtlos und strukturell benachteiligt
Doch nicht nur ökonomisch und finanziell ist Ostdeutschland in einem abhängigen Verhältnis
zum Westen, – auch die politischen Strukturen im wieder vereinten Deutschland benachteiligen den Osten.
Das Verhältnis von Bevölkerung und also auch Abgeordnete beträgt 4:1 zugunsten des Westens. Selbst wenn alle Ostabgeordneten sich einig wären, also 100 % der Ostabgeordneten etwas durchsetzen wollten, könnten sie es nicht, da sie nur über ein Fünftel der Stimmen verfügen. Es gibt nicht mal eine Sperrminorität! Fair ist das nicht und auch nicht gerecht!
Auch beim Verhältnis von Vermögen, Grundbesitz, Einkommen und Steueraufkommen, – überall ist der Westen deutlich im Vorteil.
Die Ostbevölkerung hatte in der Regel kein Eigenkapital, um Betriebe zu übernehmen. Mit dem Thema „Volkseigentum“ hätte man sich eben etwas eher auseinandersetzen müssen. Der Osten wurde faktisch unter den westdeutschen Konzernen aufgeteilt oder einfach verramscht und oft völlig unnötig platt gemacht.
Natürlich gibt es diesen strukturellen Nachteil auch bei Vitamin B, also bezüglich Verbindungen, Lobbys in allen Bereichen. Hier standen dem Osten jahrzehntelang eingespielte Netzwerke und informelle Machtstrukturen gegenüber, gegen die er im Wortsinn völlig „machtlos“ war.
Fakt ist: Ostdeutschland ist weitgehend deindustrialisiert, die 100 größten Ostunternehmen sind zusammen kleiner als BMW. Zwar sind die Altstädte schön restauriert, aber was kommt danach? Es gibt keine ausreichende selbsttragende regionale Wertschöpfung, sondern eine anhaltende Abhängigkeit von finanziellen Transfers.
Über lange Zeiträume gab es eine sehr hohe Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Die vermeintliche Freiheit war somit für viele Entwurzelung, Verunsicherung, Demütigung. Eine Unfreiheit wurde gegen die nächste Unfreiheit eingetauscht, denn ohne Arbeit und Geld nutzt auch die schönste Freiheit nichts.
Im größeren Deutschland spielte Ostdeutschland (einst die – vielleicht – zehntgrößte Wirtschaftsmacht der Welt) nur die Rolle einer alimentierten nationalen Minderheit,– hatte also faktisch nichts zu sagen und war ja eh historisch belastet („Alles Stasi, außer Mutti!“). Obwohl es vielfache hartnäckige Proteste gegen die Treuhandpolitik gab, z.B. in Bischoferode und auch die Montagsdemos in Leipzig wieder auflebten, konnte kein wirklicher Kurswechsel durchgesetzt werden.
Siehe auch meinen Artikel „Ich kann mir gut eine Million protestierender Ostdeutscher in Bonn vorstellen: Leipzig – die Heldenstadt; Überlegungen zur Realität einer Legende (Langfassung) in Unfrieden in Deutschland“; (1992), Seite 477-482 (Unfrieden in Deutschland – SLUB Dresden – Katalog).
„Ich such die DDR und keiner weiß, wo sie ist…“
Diesen launigen Coversong eines tschechischen Schlagers („Ich such die Ivetta“ von Vaclav Dingsda) veröffentlichte die Ostberliner Spaßpunkband „Feeling B“ 1990 als Bonus auf der Neuauflage ihrer Amiga-LP von 89. Die mit dem grünen Fluchtweg-Schild,- mancher wird sich vielleicht erinnern. Eine tolle Scheibe, u.a. auch mit: „Unter dem Pflaster, da liegt der Strand“).
Feeling B gründeten kurz darauf, gemeinsam mit einem lyrisch begabten Leistungssportler und weiteren Ex-Ost-Punkern die mittlerweile weltberühmte geliebt-gehasste Band „Rammstein“. Als Aufrüstungskoordinierungstreffpunkt ist der Name jetzt wieder regelmäßig in den Medien.
Ach ja, wie geht der Song denn weiter? In etwa so:
„Ich such die DDR und keiner weiß, wo sie ist,
ich hätte nie gedacht, dass sie mich so schnell vergisst.
Käm sie zurück zu mir, verzeih ich ihr!“
So fühlten in den 90er Jahren, mit der extrem hohen Arbeitslosigkeit und ständiger hoher Ausreise in den Westen wahrscheinlich ziemlich viele. Anfang der 2000er mit Treuhandprotesten und der Agenda 2010, abgewickelt, evaluiert, arbeitslos, in „Maßnahmen“ aufgefangen, war es sicher auch nicht viel anders.
Und laut einer aktuellen Umfrage, wünschen sich sogar heute noch zwei Drittel der Ostdeutschen die DDR immer mal wieder zurück, obwohl es heute materiell vielen weit besser geht. Das Land befindet sich scheinbar immer noch in einer anhaltenden posttraumatischen Belastungsstörung, in der das einzig Verlässliche, die Vergangenheit zu sein scheint.
Damals durfte man schon froh sein, wenn man die eigene Fabrik mit abreißen durfte. Ihr seid eben nicht produktiv genug, hieß es. Die ökonomischen Zwänge, der Kostendruck, die Globalisierung, die Chinesen…
Und plötzlich war auch noch überall Krieg: NATO und BRD-Bomber gegen Serbien ohne UN-Mandat, Irak, Afghanistan usw. Alles sehr beängstigend!
Die Funktionseliten im Osten kamen fast alle aus dem Westen und sie brachten ihre Netzwerke mit, woran sich bis heute nichts geändert hat.
Schon das Bekenntnis, Ostdeutscher zu sein und die vergleichende Rede von der DDR hat einen für Höheres disqualifiziert und als potentiellen Systemgegner und Störenfried geoutet, der die unvergleichliche BRD mit etwas geschichtlich Gescheitertem vergleichen wollte. Das wollten die Sieger nicht mehr hören.
Heimatverlust? Identität?
Das sind doch alles rechte Kategorien…
Die von Herrn Mühlfenzel (einst Medienbeauftragter der Bundesregierung) mit eisernem Besen gereinigten Medien, verdammten ostdeutsche Musik, ostdeutsche Kultur, ostdeutsche Geschichte zu einem marginalisierten Nischendasein.
In Berlin ist es immer noch so, dass nur etwa fünf, immer gleiche DDR-Songs in größeren Abständen im Radio laufen.
„Hat es die DDR überhaupt gegeben?“
Das fragte schon 1998 satirisch, aber auch sehr nachdenklich der Ostberliner Kabarettist Peter Ensikat (1998, Eulenspiegel Verlag/Heyne Verlag). Aus dem Cover-Text: „…der Streit um die einzig richtige Antwort (auf obige Frage) droht das deutsche Volk in wenigstens zwei Antworten zu spalten. Auf der einen Seite stehen die, die dabei waren, sich aber nicht mehr so genau erinnern können, auf der anderen die, die zwar nicht dabei waren, aber alles umso genauer wissen.“
Am besten, man redet nicht mehr drüber!? Doch das eigene Leben kann man nicht so leicht vergessen, selbst wenn man es wollte.
„Die größte DDR der Welt“, wie Ostdeutschland seinerzeit wegen der übertreibenden offiziellen Erfolgspropaganda, oft ironisch bezeichnet wurde, war ja wirklich ein erstaunliches kleines Land. Es stellte fast alles selber her, hatte also eine erstaunliche Fertigungstiefe, die es im weltmarktoffenen Westen schon längst nicht mehr gab.
Es versorgte die Sowjetunion und die RGW-Länder und zusätzlich noch westdeutsche Versandhäuser. Im Sport dritterfolgreichste Nation und das nicht nur wegen Doping. Und die DDR war der einzige deutsche Staat, der keinen Krieg geführt hat und eine konsequente Solidaritätspolitik mit den früheren Kolonien, also der 3. Welt betrieben hat, – wo sie noch immer einen guten Ruf hat. Linke, antikapitalistische Kräfte wurden in der DDR wie Staatsgäste empfangen und sie wurden unterstützt.
Meine Generation hat den Vietnam-Krieg noch miterlebt, den Putsch in Chile, – wir wussten noch, wer Kongo-Müller war und wer das weiße Südafrika aufrüstete. Wir wussten auch etwas von Berufsverboten und Notstandsgesetzen und von Arbeitslosigkeit und Ausbeutung.
Und natürlich waren wir gegen Aufrüstung und Krieg und gingen zu „Rock für den Frieden“. Kapitalismus war für uns nie eine Alternative.
Historischer Exkurs: Volksentscheide, Teilung, Abwanderung
Die DDR wurde fast 41 Jahre alt und existierte damit sehr viel länger, als das Großdeutsche tausendjährige Reich, dass nach 12 Jahren und beispiellosen Verbrechen militärisch besiegt wurde. Es hatte in seinem Größenwahn auch den Kapitalismus als menschenverachtendes System entlarvt. Kurz nach dem Krieg gab es in Deutschland eine starke antikapitalistische Stimmung, selbst ein neutrales Deutschland mit sozialistischen Tendenzen schien möglich.
1946 gab es Volksentscheide zur Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher in Sachsen, Hessen, Berlin und NRW, wo jeweils über 70 Prozent für die Enteignung stimmten und sich damit für sozialistische Entwicklungen offen zeigten.
Die Sowjets und die SED wollten diese zeitweise vorhandene antikapitalistische Stimmung nutzen und die Einheit Deutschlands bewahren und schlugen einen neutralen Status vor. Ich wunderte mich schon immer über die „Straßen der Einheit“, die man überall in der DDR finden konnte und die bezeugen, dass die DDR noch sehr lange eine gesamtdeutsche Option anstrebte, ehe sie eine konsequente Zweistaatenpolitik betrieb.
Doch der Westen wollte lieber einen westdeutschen Separatstaat und schuf mit der Währungsreform Tatsachen. Adenauer meinte damals: „Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb!“. Am 23.05.1949 wurde die BRD und am 7.10.1949 die DDR gegründet. Das war schon mitten im „Kalten Krieg“.
Von der Gründung der DDR 1949 bis zum Bau der Mauer (August 1961) verließen übrigens 3,8 Millionen Ostdeutsche ihr Land. Nach der Öffnung der Mauer 1989 und 1990 gab es erneut eine starke Abwanderung in den Westen, – von 785.000 Personen. Insgesamt waren es von 1949 bis 1997 6,6 Millionen Menschen, die ihre Heimat verließen, was für ein Aderlass! In den 90ern pendelten täglich bzw. wöchentlich 500.000 Ostdeutsche in den Westen inklusive Westberlin,- zur Arbeit.
Eigene Wege gehen
In unseren Gesprächskreisen in den 80ern lehnten wir den Versuch Honeckers, den Westen einzuholen, mehrheitlich ab. Das hieß damals Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, also mehr Konsumgüter um Kaufkraft abzuschöpfen und für Devisen war man bereit, fast alles zu verkaufen.
Wir waren der Meinung, die DDR und der Sozialismus hätten nur eine Chance, wenn ein eigener Weg, auf eigenen Grundlagen versucht würde,- ohne Konsumwettlauf. Vielleicht wie in Kuba oder aktuell in Costa Rica. So eine Art Buen Vivir, also gutes Leben!
Das ist nach meiner Meinung für Ostdeutschland wieder aktuell!
Ostdeutschland kann und wird den Westen niemals einholen. Das sollte auch gar nicht das Ziel sein. Am Ende der DDR gab es in der DDR etwa vier Millionen Autos. Aktuell produzieren deutsche Autokonzerne weltweit mehr als 12 Millionen Fahrzeuge und der PKW-Bestand in Gesamtdeutschland liegt bei etwa 50 Millionen. Das ist einfach nur noch krank. Das derzeitige globalisierte Wirtschaftsmodell ist eine evolutionäre Fehlentwicklung, die nicht dauerhaft möglich ist und auf einer exzessiven Mobilität und einem mindestens zehnmal zu hohen Energie und Rohstoffverbrauch beruht und zunehmend die Reproduktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen zerstört.
Die derzeitigen Wirtschaftsstrukturen sind befangen in einer Vielzahl von antagonistischen Widersprüchen, z.B. der Vernichtung von regionalen, kleinteiligen, nicht so produktiven, aber dafür nachhaltigeren Wirtschaftseinheiten (wie wir auch in Ostdeutschland erleben mussten) zugunsten der großen, starken, weltmarktfähigen und weltmarktorientierten Strukturen, die fast alle ihren Sitz in Westdeutschland haben. Das gilt es zu ändern.
Es muss beides geben. Der Osten sollte Subsistenzstrukturen aufbauen und nachhaltige Spitzentechnologien anziehen und entwickeln.
Ostdeutschland sollte hier entschlossen vorangehen: Mit der Förderung von regionalen Wirtschaftskreisläufen, von Reparaturen (da gab es in Leipzig mal ein riesiges Gebäude), erneuerbaren Energien, von ökologischer Landwirtschaft, mit Selbsthilfe-Projekten, Land und Stadtkommunen, sowie nachhaltigen Verkehrs, Infra- und Energiestrukturen.
Die derzeitigen Strukturen sind weder zukunftsfähig noch resilient und äußerst verletzlich. Dürre und Hitze der letzten Jahre haben auch in Deutschland die Wälder schwer geschädigt und gefährden die Landwirtschaft. Auch Energieversorgung und das Transportsystem kommen bei schweren Hitzewellen schnell an ihre Grenzen.
Die Erneuerung der Demokratie
Die kommenden Generationen und die Natur sind in unserer Demokratie faktisch nicht vertreten, während finanzstarke Interessengruppen mit ihrer Lobbyarbeit die Demokratie aushöhlen und wesentliche Entscheidungen in informellen, nicht demokratisch legitimierten Machtstrukturen fallen (siehe Thilo Bode, Die Diktatur der Konzerne, 2018).
Notwendig ist eine demokratische Reform des politischen Systems, die Schaffung eines Ökologischen Rates, eines Ökologischen Oberhauses, der/das Richtlinienkompetenz hat und den Rahmen eines nachhaltigen Stoffwechsels mit der Natur ermittelt und vorgibt, innerhalb dessen die gesellschaftlichen Akteure unter Beachtung der Interessen der kommenden Generationen agieren können. Energie und Rohstoffe müssen tatsächlich teurer werden, damit sich Sparen lohnt und belohnt wird.
Weiterhin müssen demokratisch nicht legitimierte Sonderinteressen und informelle Machtstrukturen, wie die des Großkapitals, der Finanzlobbys, der Großkonzerne, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung und der Fortsetzung des Status Quo haben und dies mit ihren Machtmitteln anstreben, demokratischer Kontrolle unterworfen, eingegrenzt und entmachtet werden.
Die direkte Demokratie sollte eine viel größere Rolle spielen und nicht als lästiger Ballast entsorgt werden, wie es die Grünen praktiziert haben. Möglicherweise könnte jetzt auch die überfällige Verabschiedung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung Sinn machen und einen notwendigen Diskussionsprozess anstoßen und so einen Demokratisierungsimpuls geben. Siehe hierzu auch der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, an dem ich seinerzeit gemeinsam mit der „Demokratie-Initiative 90“ bei der Ausgestaltung der direktdemokratischen Elemente mitgearbeitet habe.
Es gilt zudem, die Debatte über eine wirkliche gesellschaftliche Alternative zur fossil-mobilen Wachstumsdiktatur wiederzubeleben, über eine sozial gerechte, lebensdienliche Ökonomie, die nicht länger die Natur, den Süden und die Zukunft zerstört. Es geht um den Aufbau einer Gesellschaft, deren zentrales Paradigma nicht Wachstum um jeden Preis, sondern der Fortbestand des Lebens und der Menschheit ist.
Die Freiheit der Anderen
Eine exklusive Freiheit ohne Gerechtigkeit kann es nicht geben. Wenn wir ausgrenzen, Migranten ausschließen, dann bauen wir neue Mauern, auch in den Herzen und Köpfen, – wo wir doch gerade das Einreißen der „Mauer“ feiern. Wenn wir unsere Treibhausgase und unseren Müll externalisieren, laden wir den Preis unserer Freiheit, die Kosten unserer imperialen Wirtschafts- und Lebensweise anderen auf und beschränken ihre Freiheit, ja ihre grundlegenden Menschenrechte.
Es geht bei der Freiheit, die wir uns (heraus)nehmen auch immer um „Die Freiheit der Anderen“,- wenn wir diese negieren, zerstören wir auch unsere Freiheit und die Grundlagen des Lebens.
„Die Freiheit aller kommenden Generationen steht mittlerweile auf dem Spiel, denn unsere angemaßte und missbrauchte Freiheit bedeutet nicht weniger als ihre künftige Unfreiheit. Wir schaffen Tatsachen, die von den kommenden Generationen nicht wieder korrigiert werden können und ihre Lebensmöglichkeiten und Handlungsspielräume auf ein Minimum reduzieren.
Unsere angeblichen Freiheitsrechte auf Reichtum, Konsum und Mobilität gefährden nicht nur die Freiheit, sondern die grundlegenden Menschenrechte unserer Kinder und Enkel auf Leben und Gesundheit, denn durch unser Nichthandeln versäumen wir gerade die letzte Möglichkeit für eine Begrenzung der Klimakatastrophe.“ (Dies schrieb ich bereits 2018, siehe „Ungerechtigkeit im Treibhaus oder die Freiheit der Anderen“).
Machen wir aus der glänzend-blendenden Selbstfeier des Lichtfestes für eine Freiheit von Gestern, ein Fest und einen Begegnungsort für Demokratie, Klimaschutz, Frieden und Gerechtigkeit. Geben wir dem 9.Oktober einen neuen Sinn,- auf der Höhe der Zeit. Lassen wir uns die Utopie, den Glauben an eine bessere Welt nicht austreiben, auch wenn die Geschichte sich gerade zu wiederholen scheint.
Jürgen Tallig: Der Autor hat 1989 das Neue Forum in Leipzig mit gegründet und ist auch bekannt als der Tunnelmaler vom Leuschnerplatz.
Es gibt 16 Kommentare
Ergänzung und Hinweis:
Ich habe unter den zwei Reden von Elke Urban einen längeren Kommentar hinterlassen, der meinen eigenen Artikel gut ergänzt und noch etwas weiter ausführt.
Bei Interesse einfach zu:
“Montagsdemo und Lichtfest: Zwei Reden von Elke Urban”
klicken und dort zum Kommentar “Der Geist der friedlichen Revolution” von Jürgen Tallig gehen.
Hier ist der Link:
https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2024/10/montagsdemo-und-lichtfest-zwei-reden-elke-urban-605872
Mit Verlaub,
seit der Artikel veröffentlicht wurde, agiert dieser Thomas 2 hier ständig destruktiv, konfrontativ, inzwischen mehrfach direkt persönlich beleidigend und zieht die Debatte immer wieder auf ein affektives Stammtischniveau,- er betrachtet die anderen Disputanten offenbar als seine persönlichen Feinde, die es fertig zu machen gilt. Das finde ich sehr bedauerlich und äußerst unangenehm und offengestanden auch etwas grenzwertig . Ohne auch nur einmal konkret Bezug auf den Text zu nehmen oder etwas Konstruktives beizusteuern verteilt der hier anmaßenderweise Zensuren. Bei der Stasi gab es einen Begriff dafür: “Zersetzung”! Das waren genau solche Typen : Zwiespalt und Zwietracht säen, Konfrontationen schüren, vom Eigentlichen ablenken!
Ich würde vorschlagen, sich auf diesen “Stänkerer” garnicht erst einzulassen und diesen Menschen einfach zu ignorieren.
Vielleicht ist es ja auch ein Troll!? Er hat ja nichts zu sagen.
Da kommt nur negative Energie rüber und die erzeugt bekanntlich wieder negative Energie.
Lasst uns respektvoll miteinander umgehen und versuchen positiv und konstruktiv zu denken!
Zum interessanten Beitrag von Sebastian:
Die Absicht meines Artikels war ja nicht, ein allgemeines “Wunden lecken” auszulösen, sondern anzuknüpfen an das, was vor und direkt nach der Wende, auch noch aktuell war und was durch den Anschluss und die folgenden ökonomischen, kulturellen und sozialpsychologischen Verwerfungen ziemlich in den Hintergrund gedrängt wurde, aber heute erneut zentral geworden ist. So ist die Bürgerrechts- und Menschenrechtsbewegung in der DDR ja sehr stark geprägt durch den Widerstand gegen das (atomare) Wettrüsten in den 80er Jahren und den Übergang zur Entspannungspolitik. “Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung” war damals das Leitmotiv; “Absage an die Abgrenzung” war ein weiteres. Heute stehen wir erneut vor einem Rüstungswettlauf und vor einer bedrohlicher Kriegseskalation…
Helmut Kohl hat damals unsere Revolution sofort ins Museum befördert und auf das Streben nach der deutschen Einheit reduziert. Aber so war es nicht!
Und Sebastian hat völlig Recht:
“… ist das Lichterfest denn gemacht für Leute, die mal wieder “anständige” Plakate und Forderungen hochhalten wollen, oder als ziemlich geniales Marketingkonzept (jedenfalls im Vergleich zu Leipziger Bergparade und Weinfest), um die “Marke” zu festigen?”
So ist es, das Ganze ist zu einem hohlen, sinnentleerten Ritual geworden,- ohne Gegenwartsbezug! Hat das noch was mit unserer Revolution zu tun? Nein, hier wird der Gründungsmythos des geeinten Deutschland gefeiert. Der Kanzler redet, der Ministerpräsident, der OB und eine Alibi- Bürgerrechtlerin. Kritische Bürgerrechtler, wie ich, werden nicht einmal mehr eingeladen, ins Gewandhaus. Ich habe damals auf den Montagskungebungen drei wichtige Reden gehalten und zu Selbstbestimmung, Demokratisierung, Vergesellschaftung zuerst in der DDR aufgerufen (Hausaufgaben machen),- wenn, dann später Konförderation, wie auch Frau Urban sagte- und vor einem überstürzten Anschluß gewarnt.
Die drei Reden siehe: “Wir haben nur die Straße”, Link ist im Urban- Artikel zu finden. Das soll jetzt keine Rechthaberei sein, nach dem Motto: “Wer nicht hören will, muss fühlen”.
Mir geht es darum, dass wir uns unsere Revolution und auch die Gedenkdemo nicht von den “Bonzen” wegnehmen lassen sollten und sie uns wieder aneignen sollten. Derzeit wird sie missbraucht, als eitle, affirmative Selbstbeweihräucherung von denen da oben und als clevere Marketingmaßnahme durch die Stadt (ganz recht), aber auch als eitle Selbstfeier der alten und neuen Leipziger Spaziergänger. Das Museum hat Ausgang und sonnt sich in den vermeintlichen Heldentaten von gestern, ohne noch etwas zu wollen. Mit Plakaten zu heutigen Themen, könnte man der Sache wieder Sinn und Inhalt geben und sie ins heute zurück holen.
Wenn sich gestern und heute dergestalt berühren würden, würden wieder Energien fließen und es würden die Funken sprühen. Dazu müsste man sich natürlich zu der Erkenntnis durchringen, dass diese Welt dringend geändert werden muss, damit sie nicht verblendet und in eitlem Größenwahn, die Welt erneut ins Verderben stürzt,- womit wir wieder am Anfang des Artikels angelangt wären.
Leute, lasst mal die Kirche im Dorf. Es geht doch nicht um jammern oder beweihräuchern; es geht um das erinnern und nicht vergessen, denn die Umstände waren ganz andere als heute. Kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen, aber die Nachfolgenden sollten die damaligen Umstände verstehen (lernen) und – um daraus zu lernen.
Nur im “Osten” gab es “Toleranz, Verständnis und Einfühlsamkeit”? Kann man ja mal raushauen.
Maline, ich rate mal: Wendeverliererin?
Ansonsten einfach mal die “Alles-Scheiße-Brille” abnehmen. Ist es nämlich nicht.
“Sehr schön das Wort “Jammer-Ossi” erklärt.
Klar war es Kacke, das ist jetzt aber über 30 Jahre her! Da könnte man sich doch mal eingelebt haben und überkommene Vorstellungen könnte man überwunden haben.
Und die Chancen und Möglichkeiten einfach mal nutzen, anstatt über die Vergangenheit zu jammern.”
Für manche Leute, die als Kinder zu Toleranz, Verständnis und Einfühlsamkeit erzogen wurden, könnte es schwierig sein, die heute erforderliche Mentalität zu entwickeln.
Wer damals eine Arschloch war, kommt mit dem Heute natürlich gut klar, da es Grundvoraussetzung ist.
Phrasengedresche, Gejammer, im Artikel sowie den Kommentaren, Herr Tallig.
Können Sie mit den Scheuklappen anscheinend nicht erkennen. Auch gut! 🙂
““Weniger ist mehr! Zeit ist wichtiger als Geld! Arm, aber sexy! usw.usf.””
Naja, es gibt halt bewusst bis verkopft lebende Zeitgenossen, und es gibt die, die es sich leichter machen und einfach opportun leben, quasi von Wochenende zu Wochenende. Man kann dagegen ankämpfen, wird es aber immer schwer haben dabei. Und wenn man die oben genannten Schlagworte mal aus der Entfernung sieht: sie sind halt auch schon schwer verbrannt durch diverse Marketingaktionen und Sprüchekalender. So wahr, wie sie natürlich sind.
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Mir fallen dann, wenn mal wieder über die Wende nachgedacht oder daran erinnert wird, die krassen Unterschiede ein, die zwischen den Leuten in dieser Zeit waren. Und auch die, wie meine Eltern, die es ganz gut geschafft haben über diese Zeit, wurden nicht nur von ihren Erfolgserlebnissen wie erfolgreiche Umschulung, erstes eigenes Auto oder vielleicht auch das irgendwann abgezahlte Eigenheim geprägt. Da sind bis heute die Erinnerungen von den geschiedenen Männern, die nicht selten im Suff und Arbeitslosigkeit umgekommen sind. Ich kenne konkrete Beispiele von Nachbarn, die ich kannte. Die Zustände konnte man ganz gut im Gundermann-Film sehen, als er seinen Ex-Kollegen mit dem Kacheltisch besucht. Ich war direkt wieder im Jahr 1991, als ich das sah.
Dann gibts noch die, die über JAHRE “auf Montage” gefahren sind zu ihren Jobs in den Westen. Freitag ab Mittag heim über die A4, Sonntag Nachmittag zurück. Dann letztes Jahr in Stuttgart der Bahnfahrer ehemals aus Bitterfeld, der erzählte, dass er 93 “rübergemacht ist” und inzwischen (es war wie gesagt 2023) “ganz gut” angekommen sei. Er fiebert jedes Jahr auf den Sommerurlaub hin, wo er mit seinen Ossifreunden (o-Ton) auf den Darß zelten kann. Wie in seiner Jugend. Stuttgart ist halt einfach eine Notwendigkeit für ihn, bis heute.
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Ich finde es richtig, wenn Thomas2 sagt, dass wir über sowas mal langsam hinweg kommen können und nicht ewig die Wunden von damals lecken müssen. Vergessen wird es aber nicht werden. Und all diese Erfahrungen, die ja auch weitergetragen und erzählt werden, am Küchentisch im abgezahlten Fertigteilhaus am Stadtrand zum Beispiel, prägen auch eine gewisse Einstellung zum Leben und zur Politik. Wer damals mit vielen Anderen im muffigen neu geschaffenen Arbeitsamt stand, dort von Leuten Sach-bearbeitet wurde, die er vorher von ganz anderer missliebiger Stelle kannte, und dann über 20-30 Jahre jeden Morgen um 6 auf irgendeiner Arbeitsstelle stand, der sieht das alles nicht so locker, wenn von modern empfindenden Menschen Forderungen gestellt werden, die etwas weltfremd (in deren Welt) anmuten. Und Herr Böhmermann ist da nur die skurile Spitze.
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Und: ist das Lichterfest denn gemacht für Leute, die mal wieder “anständige” Plakate und Forderungen hochhalten wollen, oder als ziemlich geniales Marketingkonzept (jedenfalls im Vergleich zu Leipziger Bergparade und Weinfest), um die “Marke” zu festigen? Ist das “Freiheits- und Einheitsdenkmal” fest für Leipzig verbucht, oder könnte es nicht besser am Dresdner Hauptbahnhof stehen, wo randaliert und verhaftet wurde, als der Botschaftszug angekündigt war?
“Vorwärts immer, rückwärts nimmer!”, sagte schon Erich Honecker. Auch das Kapital will immer nur vorwärts kommen, – obwohl wir uns längst am Rande des entropischen Abgrunds befinden und bietet seine abgründige “Freiheit” weltweit an, notfalls auch mit Waffengewalt (siehe Serbien).
Übrigens wüßte ich nicht, wo in dem Artikel gejammert wird und auf die Jugend geschimpft, wie Herr Thomas 2 behauptet. Sie sind wahrscheinlich im inneren Monolog?
Das ist doch eine völlig nüchterne und kritische Bestandsaufnahme der Wendemythen und des Nachwendegeschehens. Wenn man die Divergenzen und Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Ost und West verstehen will, dann muss man sich schon, -wenigstens alle fünf Jahre einmal-, der kleinen Mühe unterziehen und hinschaun und zurückschauen.
Das Äußern von Kritik ist nach meinem Dafürhalten auch kein Jammern, sondern notwendig, um überhaupt etwas ändern zu können.
Was für eine erbärmliche Debatte!
Es herrscht offenbar derselbe Opportunismus und dasselbe resignierte “nölende Bewusstsein” wie in der DDR. Kein einziger konstruktiver Gedanke! Man glaubt nicht, dass “so ein Artikel etwas bringt und das wird die oben nicht erreichen und es wird auch die Jugend nicht erreichen… ” Gähn!
Das durfte ich mir schon in der DDR jahrelang anhören!
Und jetzt haben den Artikel aber schon 600 Leute gelesen!?
Kein Mensch geht auf die Passagen ein:
“Eigene Wege gehen” und “Die Erneuerung der Demokratie” oder auf “Die Freiheit der Anderen”, wo ja eine ganz konkrete Kritik der heutigen Zustände erfolgt und eine kritische Hinterfragung unseres Freiheitsbegriffs.
“Ich befürchte nur, seine Botschaften kommen bei denen, die uns heute die Welt erklären und das Sagen haben, nicht an.”,
schreibt Herr Lasch und beweist damit immerhin eine gewisse Emphatie.
Aber da sollen sie ja gar nicht ankommen, die Botschaften, sondern bei denen, die alljährlich um den “Ring” promenieren. Wenn da wieder Plakate gegen den Krieg und die Klimazerstörung, gegen Demokratieabbau und Überwachungsstaat und für Reichensteuer und Abrüstung auftauchen, dann ist schon etwas erreicht.
Das war doch die Lektion von 89, dass sich erst etwas bewegt, wenn wir uns bewegen!
Bei der Gelegenheit noch der Hinweis auf die Rezension zu dem Buch “Deglobalisierung” (oben, gleich unter dem Text).
Dort habe ich im Kommentar einen kostenlosen Link zu einem ähnlich gelagertem Zeitschriftenartikel von mir platziert: “Earth First oder der Preis des Lebens”.
Also, wen es interessiert… Mal oben klicken!
Noch ein Debattenvorschlag am Schluß: Was haltet ihr, liebe Leute, von einem spezifischen nachhaltigen ostdeutschen Entwicklungsweg, der aus der Not quasi eine Tugend macht und sich von der Nachahmung des Westens verabschiedet?
Nach dem Motto: “Weniger ist mehr! Zeit ist wichtiger als Geld! Arm, aber sexy! usw.usf.”…
Ne, überkommene Vorstellungen überwinden heißt, im hier und jetzt zu sein und zu handeln, und nicht einer theoretischen (und utopischen), in den 80ern / 90ern gedachten Zukunft, die ja nun offensichtlich nicht so gekommen ist, hinterher zu trauern (zu jammern). Jede Generation schimpft auf die Jugend, soweit auch nichts Neues.
Wenn man was ändern will, dann klappt das besser, wenn man die Menschen dort abholt, wo sie sind (btw: mit verbissenen Texten wird es nix). Die AfD macht das sehr erfolgreich vor, DIE erreicht die Jugend.
@ Thomas_2: Welche “überkommene Vorstellungen” wären denn so zu überwinden?
Gerechtigkeit? Respekt? Widerstand gegen Gier und hemmungslose Unmoral? Menschlichkeit? Die Ablehnung grobschlächtiger Ellenbogen-Mentalität? Die Verurteilung von Besserwisserei bei völliger Ahnungslosigkeit?
Entspricht das Schweigen zur Umdeutung der Geschichte zu Gunsten mächtiger Interessengruppen der Überwindung überkommene Vorstellungen? Oder das Schweigen zur pathologischen Überflutung der Gesellschaft mit postfaktischen Verschwörungserzählungen? Heißt “Überwindung überkommener Vorstellungen” den Weg frei zu machen für die wachsende Begeisterung einer sich ohnmächtig fühlenden Bevölkerung für autoritäre “starke Männer”? (Und von ein paar toxischen Frauen als Steigbügelhalter künftiger “Reichskanzler”.)
Heißt Überwindung überkommener Vorstellungen zur Seite zu treten, wenn Faschisten in den Startlöchern stehen, mit den Hufen scharren und von Machtergreifung träumen?
Wie Jürgen schon am 14.09.1990 in Das Parlament sinngemäß schrieb:
Die Helden von Leipzig mögen 300-500 “Rowdys” gewesen sein (Sprachduktus der Stasi), “destrktiv-konterrevolutionäre Kräfte” – die Verschwörer, die Rebellen, der Widerstand, als es noch gefährlich war. dazu kamen einige Tausend Bürger, die – viel zu spät aber doch – endlich Mut fassten, und sich den Rebellen zugesellten, als es noch ein wenig gefährlich war. Die endlich ausbrachen aus dem stumpfen, gleichgültigen Opportunismus von Jahrzehnten.
Auch wenns ihnen nicht gefallen mag – aber die Hunderttausenden die dann auf die Strasse strömten waren die Nutzniesser der Mutigen, Spaziergänger wie Tallig schreibt – und das sind sie bis heute. Denn wieder wird Demokratie abgewickelt, von Autoritären unterwandert, von Reichen aufgegessen wie ein Kuchen. Und wieder sitzen sie bis zum letzten Moment zu Hause, schimpfen in ihr Bier und wollen, dass ihnen ihre Freiheitsrechte wie eine Lieferpizza bis vor den Fernseher gebracht werden. Die Helden von Leipzig haben ab Anfang 1990 die Geschichte nicht mehr geschrieben, als Helmut Kohl die Ossi-Revolution schnell ins Museum gebracht hat, damit die nicht auf Ideen kommen, wenn der große Raubzug beginnt. Die Helden von Leipzig hätten ganz sicher eine andere Geschichte geschrieben, die allen mit weniger 50.000 Jahreseinkommen besser gefallen hätte. Aber “das Volk” lässt sich leicht ablenken, folgt gern den falschen Propheten wenn es bequem erscheint und jammert dann über sein Opfer-Dasein, wenn´s mal wieder schief gegangen ist.
Helden haben zu Jammern keine Zeit: die analysieren und kommentieren Geschichte, ziehen die Lehren, die “die Masse” gerne nicht aus der Geschichte zieht, macht Entwürfe für eine bessere Gesellschaft, weil das NIEMAND für uns macht und machen Geschichte, wenn kurze Möglichkeitsfenster aufgehen. Zum Jammern haben wir keine Zeit. Aber Kritik als Jammern zu diskreditieren ist ein alter und billiger Trick um den Diskurs aus westdeutscher Interessen-Perspektive zu dominieren. Und wer´s nicht versteht: ich meine die Konzerne und ihre Politiker-Pressesprecher und nicht die Lohnabhängigen im Westen.
Übrigens: Spaziergängern mag es wichtig sein “Helden” zu sein, die haben nichts anderes – die Helden von Leipzig wissen genau, was sie wann getan haben, aber das “Helden” sein um seiner selbst willen ist ihnen herzlich egal.
PS: Was soll ich mit einer “Zielgruppe”, deren politische Bildung aus dem Desinformations-Malström des Internet und von “Influenzern” kommt, die meist nicht oder unwesentlich älter sind als sie selbst? Es gibt nicht viele Rezo´s in dieser volldigitalisierten Generation, deren Aufmerksamkeitsspanne in der Regel 5 Minuten nicht überschreitet und die dazu erzogen wurde, selbst die komplexesten Zusammenhänge nur im Entertainment-Format zu sich zu nehmen.
Ich beschreibe und bestehe auf Wahrheiten – wissenschaftliche und gesellschaftliche – während die niederen menschlichen Triebe stumpf gen HighTech-Barbarei und Neuauflage von Diktatur und Chaos drängen. Ich bestehe auf Fakten und objektiver Realität, wo das faule Subjekt glaubt, ein Recht zu besitzen, sich seine “Realität” selbst ausdenken zu dürfen. Tja – so ist das halt bei vorbewussten, vorzivilisierten Gesellschaften, die “irgendwie nicht fühlen, dass sie noch´n paar Meter Evolution zu gehen hätten”, bevor sie bei den Grossen mitspielen dürfen.
Will ich das erklären? Will ich nicht. Denkt selbst!
Viele gute Gedanken, aber – wie schade! – ein heilloses Durcheinander der Aspekte, Argumentationsketten, die ins Nirgendwo führen, eine unglückliche Vermischung von persönlicher Betroffenheit und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die willkürliche Platzierung der Kommata scheint mir da wie ein Symptom für das Gedankenwirrwar. Die Redaktion hätte da helfen können, ja müssen. Ich schreibe das nicht aus abgehobener Perspektive, sondern war selbst dabei bei dem, was “Revolution” genannt und mit Marlboro, Mallorca und Golf GTI abgwürgt wurde. Wenn man nach Jahren des Widerstands, Durchhaltens und Ideenschmiedens von einer dumpfen Masse rechts überholt wird, hinterlässt das Spuren. Ich kann den Autoren also gut verstehen und möchte seine Anmerkungen nichtherabwürdigen. Ich befürchte nur, seine Botschaften kommen bei denen, die uns heute die Welt erklären und das Sagen haben, nicht an.
Das klingt doch sehr nach 1920er, was Roger Schaumberg da schreibt. Schön gebrüllt, Tiger, möchte man sagen.
Und damit erreicht er wen? Die junge Generation? I doubt.
Das ist ein Kommentar von Roger Schaumberg:
Chapeau Jürgen –
bei dem Artikel ist kein Wort hinzuzufügen oder wegzulassen.
Stehender Beifall!
Du reifst wie alter Wein und wirst immer besser, Du unermüdlicher Kämpfer
um die späte Erleuchtung einer renitent bildungsresistenten Rasse!
Ich stimme wie meistens in allen wesentlichen Punkten mit Dir überein.
In diesem Fall unterschreibe ich jedes Wort.
Ich füge mal als Ergänzung, statt eines Kommentars,
noch einige Passagen aus meinem Artikel zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution an, den Du ja beim Podcast auch schon zitiert hast:
„Würden die Linken ein einziges Mal ihre Theoretiker lesen und auch richtig verstehen, was sie mit Verlaub noch nie konnten (ganz im Gegensatz zu ihren kapitalistischen Konkurrenten) würden sie finden, was da steht über die konterrevolutionären Konsequenzen, wenn „das Neue vom Alten übernommen wird“…. 35 Jahre ist die erste erfolgreiche Revolution der deutschen Geschichte und die ersten Revolution der Menschheitsgeschichte her, die ausdrücklich keine soziale Hunger-Revolution war, sondern eine kulturästhetische Revolution.
Die Kernempörung der DDR-Bürger, deutlich vor Reisefreiheit und Mangelkonsum, galt den unverschämten ungebrochenen Medienlügen und der ignoranten ungeheuerlichen Selbstbeweihräucherung der DDR-Führung, die angesichts der Krise wie Schläge ins Gesicht waren.
Dann ging ja alles sehr, sehr schnell!
Durch kurzsichtige Profitgier und zur Bewältigung der westdeutschen Wirtschaftskrise Ende der 80er mittels neoliberaler Anpassung und Verbilligung von Arbeit am wiedervereinten deutschen Markt, unter Missbrauch der „ostdeutschen Brüder und Schwestern“ und hochgeschätzten „Helden von Leipzig“ als Billig-Wanderarbeiter und Streikbrecher aus Not … wurde das Erbe der Friedlichen Revolution von 1989 verspielt. Die vermeintliche Revolution erweist sich letztlich als Konterrevolution des Kapitals und die Reaktion marschiert.
Wenn die lohnabhängige Bevölkerungsmehrheit wegen linker theoretischer und praktischer Inkompetenz keinen resilienten progressiven gesellschaftlichen Grundkonsens mehr bewahren kann, dann trägt die linke Führung eine wesentliche Mitverantwortung für den Erfolg der Reaktion.
Wer nicht versteht, dass man erst den Planeten erhalten muss, bevor man Gewinn machen kann und soziale Umverteilungskämpfe führt, wer unfähig ist zu pluralistischer Disziplin, intelligenter Kommunikationsstrategie, wer ausgerechnet die marxistische Dialektik von Ursache und Wirkung nicht versteht, ist zum Scheitern verurteilt und verhindert progressive Einheitsfronten in der Bevölkerung (siehe Frankreich). Das ist eine bittere Tatsache.
Es steht zu befürchten, dass sich das noch bitter rächen wird.
Zumal der von politischer und ökonomischer Korruption zerfressene bürgerliche deutsche Staat und sein „demokratisches“ Parteienspektrum sein politisches Handlungsprimat an fossil-mobile Großkonzerne, globale Hedgefonds, organisierte „Banken-Kriminalität“ und globale rechtspopulistische ThinkThank-Strategen … abgegeben hat und zum Erfüllungsgehilfen geworden ist.
Wir werden ca. 2055 eine um 4,5°C erhöhte durchschnittliche Jahrestemperatur haben, diskutieren aber immer noch 1,5 oder 1,8 °C (jüngst bietet die IEA schon einmal 2,4 Grad) für 2100,- die aber nur noch zu erreichen wären, wenn wir sofort die gesamte Weltproduktion ersatzlos einstellen und den Waldbestand der Erde verdoppeln würden…
Die Menschheit in den Industriegesellschaften schläft aber tief und fest,- sie hält ihre Sklaverei für Freiheit und ihre gleichgültige Abstumpfung für Wellness und Selbstliebe. Sie hält ihre Ernährung für gesund, „30 Jahre Bauer sucht Frau“ für gutes Entertainment und ihre Gehirnwäsche für freien Willen.
WIR werden die Generation sein, die ihre eigenen Kinder getötet hat.
Wir sind als Spezies auf dem Gipfel unserer Macht angekommen, haben aber nwv. das Bewusstsein hungriger Raubaffen. Wir radieren alles Schöne und Wertvolle von Tausenden von Jahren aus. Warum? Weil wir es können! Fortschritt? In 150 Jahren ist die Menschheit Geschichte, die aber niemanden mehr interessieren wird. Niemand gewinnt gegen die Naturgesetze.“
(Auszüge aus: „Einige Überlegungen und historische Richtigstellungen zum 30ten Jahrestag der Friedlichen Revolution“ von Roger Schaumberg, Mitbegründer der Gruppe „Neues Denken“ (IG Dialog), Herbst 2019, leicht überarbeitet)
Gibt doch genug Leute die die Chance ergriffen haben sich mit Ellenbogen einzuleben. Auch die Möglichkeiten seinen Rassismus / Militarismus / Imperialismus usw. einfach mal zu nutzen wird extensiv gelebt. Viele Medien bieten durch Empfehlungen auch Beiträge Hass und die Hetze zu intensivieren. Wie der Tallig das nur aushält?
Sehr schön das Wort “Jammer-Ossi” erklärt.
Klar war es Kacke, das ist jetzt aber über 30 Jahre her! Da könnte man sich doch mal eingelebt haben und überkommene Vorstellungen könnte man überwunden haben.
Und die Chancen und Möglichkeiten einfach mal nutzen, anstatt über die Vergangenheit zu jammern.
Die Menschen im Osten hatten sich sehr viel von dieser neuen anderen Demokratie versprochen. Wir hatten noch die Idealvorstellungen von Demokratie und bedingtermaßen keine Erfahrungen mit der bundesdeutschen Entwicklung von Demokratie und dem Rechtssystem. Wir hatten andere Vorstellungen von der sog. Freiheit, die keine uneingeschränkte Freiheit sein kann.
Und was haben wir bekommen mit dem Beitritt zur Bundesrepublik und zum Grundgesetz?
Zuerst die Abwertung unserer Lebensläufe; die Umstellung von einem politisch-stalinistischem System auf ein vollkommen anderes, entgegengesetzes marktkonformes System; die Erfahrung von hunderttausendfacher Arbeitslosigkeit und die damit verbundene soziale Unsicherheit bis hin zur Arbeitslosigkeit, die wir nicht kannten; und die gnadenlose ungeregelte Umstellung auf ein vollkommen anderes Geldsystem, das das bisherige Leben und die Erfahrungen ausgrenzte bzw. auf den Kopf stellte. Die Erfahrungen der Menschen zum Leben waren von heute auf morgen nichts wert. Sie mussten im Prinzip mit ihrem Leben vollkommen neu anfangen und wurden aber gleichzeitig von anderen neuen Leuten aus dem Westen bevormundet. Man musste sich an ein vollkommen anderes Rechtssystem, andere Gepflogenheiten im Umgang miteinander, an eine andere Währung und den neuen Umgang im normalen Lebensablauf damit, anpassen. Da es keinen Gegenpol mehr gab, gab es in Ostdeutschland der 90ziger und Nuller Jahre einen gewissen rechtsfreien Raum, der zu frühkapitalistischen Ausbeutungsmechanismen führte.
Das hat mit der Demokratie, für die wir 1989 auf die Straße gegangen sind, nicht viel zu tun. Das wirkt sich auch auf die jüngeren Menschen aus, die ebenfalls diese Diskrepanz sehen und erleben. Davon haben die Menschen hier im Osten die Nase voll. Das ist aus meiner Sicht das eigendliche Dilemma.