Die Ergebnisse der Landtagswahl in Sachsen und Thüringen sind keine Überraschung. Dennoch ist es mehr als ernüchternd, das bestätigt zu sehen, was sich seit Monaten abgezeichnet hat: in Thüringen wird die rechtsradikale AfD durch das Votum der Wähler/-innen zur stärksten und in Sachsen knapp hinter der CDU zur zweitstärksten Partei.

Die Ergebnisse werden auch dadurch nicht besser, dass die AfD gegenüber ihrem Hype zu Beginn des Jahres sowohl in Thüringen wie in Sachsen deutlich unter dem damals befürchteten Zustimmungswert – der lag bei bis zu 40 % – geblieben ist. Dazu hat das millionenfache Aufbegehren vieler Bürger/-innen in ganz Deutschland gegen den offenen Rechtsradikalismus der AfD nach den Enthüllungen von „Correctiv“ geführt. Dennoch ist es ein bedrohliches Zeichen, dass fast ein Drittel der Wähler/-innen aus freien Stücken und viele aus innerer Überzeugung ihre Stimme der AfD gegeben haben – einer Partei, die nicht deswegen rechtsextremistisch ist, weil es der Verfassungsschutz feststellt.

Die AfD verachtet die parlamentarische Demokratie und will die europäische Einigung, die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft aushebeln und zerstören. Darüber hinaus knüpfen sie und ihre ideologischen Steigbügelhalter in ihrem völkischen Nationalismus an die Ideologie der NSDAP vor 90–100 Jahren an.

Im vollen Wissen um diese Inhalte verhelfen ein Drittel der Wähler/-innen einer solchen Partei durch ihre Stimmabgabe zu Macht und Einfluss – und das an dem Tag, an dem vor 85 Jahren Deutschland den Vernichtungskrieg gegen Polen entfachte, eine der verheerenden Folgen einer systematischen Verharmlosung rechtsextremer Demokratie- und Freiheitsfeinde in der Weimarer Republik. Ein erschreckendes Fanal!

Keine Frage: Auch der traurige Zustand der Ampelkoalition, das oft so ferne, abgehobene und gleichzeitig unbeholfene Auftreten ihrer Repräsentant/-innen, das Unvermögen, die notwendigen Entscheidungen zu kommunizieren, werden zu dem erschütternden Wahlergebnis beigetragen haben. Die SPD wird im jetzigen Zustand auch in westdeutschen Bundesländern Schiffbruch erleiden, wenn sie ihre Regierungspolitik nicht stärker ausrichtet an der eigenen Programmatik.

Auf der anderen Seite: Bei näherem Hinsehen erweist es sich als große Herausforderung, auf all den Gebieten, die das Leben der Menschen unmittelbar berühren, dringend notwendige politische Entscheidungen zu treffen, die auf eine größtmögliche Akzeptanz bei Bürger/-innen und Bürgern stoßen: Klimaschutz, Energie- und Mobilitätswende, ausreichender Wohnraum, auskömmliche Renten, Schutz vor Terror und Krieg.

Insofern ist der mantramäßig vorgetragene Vorwurf des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU), die Ampelregierung trage die Hauptverantwortung an dem hohen Stimmenanteil für die AfD, ein billiges Ablenkungsmanöver. Nein: Verantwortlich für die Stimmabgabe ist zunächst allein der Wähler bzw. die Wählerin.

Entscheidend für das gestrige Wahlergebnis ist aber etwas anderes: Immer mehr Menschen projizieren alles, was sie persönlich betrifft und umtreibt, insbesondere ihre eigenen Probleme, auf die politischen Entscheidungsträger/-innen und die „Systemparteien“, weil es ihnen selbst an einem eigenständigen Umgang mit Krisen und Verwerfungen jeder Art mangelt. Es mangelt ihnen an einem die eigenen, bis ins Maßlose hinein gesteigerten Ansprüche Korrektiv.

Es mangelt ihnen auch daran, ein diffuses Unbehagen den gegenwärtigen Lebensumständen, mit all den Unsicherheiten gegenüber, adäquat einzuordnen und eine Zielrichtung zu geben. Es mangelt ihnen an einem Antrieb, sich selbst an den Geschehnissen zu beteiligen und Verantwortung zu übernehmen.

Wenn Menschen dann noch im ländlichen Raum erleben, wie in den letzten Jahrzehnten die Infrastruktur zerbröselt und sie sich familiär und gesellschaftlich allein gelassen, ansonsten aber fremdbestimmt vorkommen, dann paaren sich Ohnmachtserfahrung und Rettungsphantasien zu einem bräunlichen Gebräu: ein Führer, einer wie Höcke, muss es richten.

In Gesprächen bricht sich das dann in allgemeinen Vorwürfen Bahn: Die da in der Regierung tun nichts für mich, stattdessen wirtschaften sie in die eigene Tasche und führen das Land an den Abgrund. Daraus resultiert das merkwürdige Vertrauen, das solche Menschen gegenüber Autokraten bzw. autokratischen Systemen an den Tag legen: Die werden meine Probleme beseitigen – zumal „Die“ vorgeben, alles sofort lösen zu können, nicht ohne vorher noch kräftig die Ängste zu schüren.

Dass dieser scheinbar einfache Weg nicht funktioniert, sondern eine Gesellschaft über kurz oder lang ruiniert, wird damit kompensiert, dass sich Menschen in die „Ruhezonen“ zurückziehen, die autokratische, diktatorische Systeme nicht nur versprechen, sondern mit Zwang und Gewalt durch den Ausschluss von Vielfalt durchzusetzen versuchen. Das alles hat sich vor 100 Jahren nicht nur angebahnt, mit einem grauenhaften Ausgang. Genau diesen Weg wollen Wähler/-innen wieder beschreiten. Was für ein gruseliges Szenario!

Auf diesem Hintergrund erscheint das Wahlergebnis vom 01. September 2024 nicht nur erklärbar. Es muss jedem Menschen, der die freiheitliche Demokratie nicht aufgeben will, zutiefst erschrecken. Denn das Dramatische des Wahlergebnisses liegt darin: je größer der Stimmenanteil rechtsextremer Parteien, desto „normaler“ erscheint ihre völkisch-nationalistische Programmatik. Es wird aber darauf ankommen, dass möglichst viele Bürger/-innen in der Lage sind, ihr eigenes Leben einordnen können in die gesellschaftlichen Zusammenhänge.

Es wird darauf ankommen, das Selbstbewusstsein eines jeden Menschen so zu stärken, damit er zu Empathie, sozialem Verhalten, Nächsten- und Feindesliebe in der Lage ist, also die Interessen und Lebensmöglichkeiten des Anderen achtet.

Spätestens hier wird deutlich, vor welch großer Aufgabe alle Institutionen stehen, die Menschen stärken wollen: Gewerkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Ausbildungsstätten, Sport- und Kulturvereine. Niemals dürfen die sich dem Ansinnen beugen, völkischer Homogenität zu dienen. Im Gegenteil: Sie müssen Garanten für das sein, was jetzt auf dem Spiel steht: demokratische Vielfalt in einer offenen Gesellschaft.

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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