Jeder konnte wissen, was die demokratiefeindliche und völkische AfD mit den Machtmöglichkeiten anfangen wird, die ihr von den Wähler/-innen eröffnet werden. Jeder konnte wissen, dass die Höcke-AfD von der ersten Minute der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Landtages in Erfurt an all das umzusetzen versucht, was sie sich programmatisch vorgenommen hat: nämlich unter Berufung des „Volkswillen“ die repräsentative, parlamentarische Demokratie und mit ihr die Grundrechte auszuhöhlen.

Dabei spielt es kaum eine Rolle, welchen Stimmenanteil die AfD für sich verbuchen kann. 30 % und mehr sind für sie schon die Mehrheit. Kein Wunder, dass der 73-jährige Alterspräsident Jürgen Treutler (AfD) in seiner Rede davon sprach, dass es im neu gewählten Landtag eine „nicht zu übersehende Option für eine stabile parlamentarische Mehrheit“ geben würde. Gleichzeitig stellte er „in gewissen Teilen der politisch-medialen Elite eine offenkundige Verachtung des Volkes“ fest.

Mit anderen Worten: Was sich am Donnerstag, dem 26. September 2024, im thüringischen Landtag abgespielt hat, ist keine Überraschung. Langfristig geplant und strategisch geschickt hat die AfD den 73-jährigen Jürgen Treutler als Landtagskandidaten aufgestellt, damit dieser nach der Landtagswahl als Alterspräsident im Interesse der AfD wirken kann. Diese Erwartung hat er gestern voll erfüllt.

Er hat die Mehrheitsverhältnisse im Landtag systematisch ignoriert und seine Position als Alterspräsident dazu missbraucht, im Interesse der AfD die Sitzung ins Chaos zu führen. Dies geschah natürlich mit der Absicht, den Parlamentarismus auf diese Weise ad absurdum zu führen, die Missachtung des vermeintlichen Volkswillens anzuprangern und gleichzeitig die AfD in die Opferrolle zu bringen.

So kann die parlamentarische Demokratie als morbides „System“ vorgeführt und ihre Abschaffung betrieben werden. Das Drehbuch hierfür wurde vor 100 Jahren geschrieben.

Wer jetzt noch behauptet, die AfD sei eine „normale“ Partei im demokratischen Spektrum, der verschließt Augen und Ohren vor den wahren Absichten dieser Partei. Leider aber haben gerade die CDU und mit ihr sehr viele Medien diese Position bis zuletzt bezogen. Nach den Wahlergebnissen bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg war zu lesen, dass die Brandmauer nicht mehr funktioniere, dass man den Willen der Wählerschaft respektieren müsse, dass man die AfD nicht länger ignorieren und ausgrenzen dürfe.

Die Wahlerfolge der AfD wurden insbesondere der Ampel-Regierung angelastet – so als ob diejenigen, die die Politik der Ampel-Koalition kritisieren oder diese ablehnen, gezwungen seien, AfD zu wählen. Sind sie natürlich nicht! Gewählt wird die AfD von Bürger/-innen aus freien Stücken, meistens aus Überzeugung und im vollen Wissen darum, dass die AfD die parlamentarische Demokratie zerstören will.

Viel zu viele, vornehmlich junge Wähler/-innen nehmen das billigend in Kauf – offensichtlich in völliger Unkenntnis dessen, was am Ende eines solchen Weges steht – und dass sie dafür persönliche Verantwortung tragen!

Auf diesem Hintergrund erweist es sich als besonders fatal, dass die AfD seit den Europawahlen am 09. Juni 2024 sowie dem mutmaßlich islamistischen Terroranschlag in Solingen am 23. August 2024 faktisch keinen Wahlkampf mehr zu machen brauchte. Sie konnte händereibend zusehen, wie die demokratischen Parteien den Fokus ihrer Argumentation und Auseinandersetzung auf die sog. illegale Migration und die Abschiebungen richteten und sich dabei den Forderungen (und Narrative) der AfD bedienten: Die sog. illegale Migration muss beendet werden.

Weil diese Forderung auch von den meisten Medien als vordringlich und notwendig erachtet wurde, verstärkte sich der Eindruck: Wenn die demokratischen Parteien jetzt nicht AfD-Positionen besetzen, dann wird die AfD noch mehr Wählerstimmen auf sich ziehen. Erreicht wurde aber etwas ganz anderes: Die AfD hat ihren Stimmenanteil behalten bzw. ausbauen können. Gleichzeitig hat sich der allgemeine Diskurs über Migration verschärft, mit der Folge, dass Menschen mit Migrationshintergrund zutiefst verunsichert und auch gebrandmarkt fühlen.

CDU- und FDP-Politiker gehen inzwischen so weit, die Änderung von Artikel 16 vorzuschlagen. Mit dem zunehmenden und unverhohlenen AfD-Zungenschlag in der gesellschaftspolitischen wie medialen Debatte verfestigte sich der Eindruck, als seien alle Probleme ursächlich mit der Migration verbunden: Wohnungsnot, Erwerbslosigkeit, industrieller Niedergang, Kriminalität. Kann es da noch verwundern, dass Menschen alle, auch die persönlichen Probleme der angeblich gescheiterten Migrationspolitik anlasten und sich dem Original ausländerfeindlicher Politik zuwenden, nämlich der AfD?

Vor allem aber: Weil inzwischen etliche AfD-Forderungen gesellschaftlich scheinbar konsensfähig sind, konnte die AfD im Windschatten dieser katastrophalen Debattenlage die nächste Radikalisierung ihrer Forderungen nachschieben. Dafür stehen der auf der Wahlparty der Brandenburger AfD im Beisein der gesamten Parteispitze begeistert gegrölte Song „Jetzt geht’s ab, wir schieben sie alle ab“ (auf dem entsprechenden Video ist ein großes Plakat zu sehen: „Millionenfach abschieben!“) und die skandalösen Vorgänge in Thüringen.

Es ist bei der AfD wie bei Donald Trump: Ihre jetzt schon bekannten demokratiefeindlichen, menschenverachtenden Absichten werden sich nicht in dem Moment „abschleifen“, in dem sie politische Verantwortung wahrnimmt. Nein, die AfD wird dann alle Möglichkeiten nutzen, um ihre Absichten zu radikalisieren und ebenso radikal umzusetzen. Diese Gefahr ist leider sehr real.

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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