Am 26. Juli veröffentlichte das DIW Berlin eine Studie zum Wahlverhalten in Ost und West, insbesondere in Bezug auf AfD und BSW. Und dabei wurde auch deutlich, dass es vor allem demografisch geplagte Regionen sind, in denen die beiden populistischen Parteien ihre Erfolge feiern – mit Themen, die eigentlich wenig bis nichts mit den tatsächlichen Problemen dieser Regionen zu tun haben. Aber Menschen wählen nun einmal mit Gefühl. Und Gefühle führen oft zu irrationalen Entscheidungen.

Am 26. Juli nahm Marcel Fratzscher, Präsident des DIW, dieses Thema auch in seine Kolumne auf „ZEIT ONLINE“ auf: „Bei den Europawahlen haben viele Menschen in Deutschland die AfD und das BSW gewählt. Das liegt an der Unzufriedenheit mit Migrationspolitik, lautete bisher eine Erklärung. Doch das stimmt nicht.“

Er verwies auf die am selben Tag veröffentlichte Studie, die das Wählerverhalten zur Europawahl untersucht hatte.

Insbesondere widerlegte die Studie das von (Rechts-)Populisten und auch vielen konservativen Politikern verbreitete Narrativ, Migration sei das größte Problem in diese Regionen. „Wichtigere Gründe sind Zukunftsängste und Sorgen dort, wo junge Menschen abwandern, die Daseinsvorsorge geschwächt und die wirtschaftliche Situation unsicher ist.“

Aber Fratzscher ist nur zu bewusst, dass das Pushen des Themas Migration vor allem durch rechte Netzwerke natürlich einen Effekt darin hat, dass viele Wählerinnen und Wähler Migration tatsächlich für das größte Problem halten.

„Zugleich zeigen Umfragen des European Council on Foreign Relations, dass immerhin 29 Prozent der Deutschen die Migration heute als das größte Problem betrachten. Der Wert ist in keinem anderen europäischen Land so hoch wie hierzulande. Vor allem stufen deutlich mehr Deutsche Migration als das wichtigere Problem als etwa den Klimawandel, geopolitische Konflikte und Kriege, die wirtschaftliche Zukunft oder die soziale Absicherung ein“, stellt Fratzscher fest.

Da sei es naheliegend, dann das Thema Migration auch als Begründung für die hohen Wahlergebnisse von AfD und BSW zu interpretieren.

Das Gefühl des Angehängtseins

Doch die ausgewerteten Zahlen zur Europawahl erzählen etwas anders.

„Unsere Studie zeigt, dass die Demografie die wichtigste Erklärung für die hohen Zustimmungswerte für die AfD darstellt, in einem geringeren Maß gilt das auch für den hohen Zuspruch für das BSW. Der Anteil der über 60-Jährigen an der Bevölkerung in einem Kreis ist sowohl bei der AfD als auch beim BSW die wichtigste Variable. Auch ein geringerer Anteil an jungen Menschen mit Abitur scheint einen Einfluss zu haben: Je weniger junge, gut gebildete Menschen in einem Landkreis leben, desto höher sind die Wahlergebnisse für die AfD“, so Fratzscher.

Man hat es also mit einem nicht artikulierten Verlusterleben zu tun, das sich auch in die Kurzformel packen lässt: „Die Eltern der Abgewanderten stimmen für AfD und BSW“.

„Die AfD ist besonders dort stark, wo viele junge und vor allem gut qualifizierte Menschen abwandern – sei es, weil sie anderswo bessere Chancen auf einen Job haben oder weil sie schlicht nicht dort leben wollen, wo sie aufgewachsen sind“, so Fratzscher. Und: „Es sind offenbar vor allem die Eltern und andere Menschen in den Kreisen, aus denen junge Menschen besonders stark abwandern, die überproportional häufig für die AfD und auch für das BSW stimmen.“

Und auch er sieht, dass sowohl Bundes- als auch Länderpolitik das Thema Demografie seit 30 Jahren völlig unterschätzt haben und es versäumt haben, rechtzeitig gegenzusteuern. Denn natürlich sucht sich das Gefühl, aussortiert, abgehängt und zurückgelassen zu sein, ein Ventil. Was dann viele Facetten hat, die auch direkt die Politik betreffen. Oder die versäumte Politik. Denn die Transformation der 1990er Jahre wurde ja von vielen Ostdeutschen nicht als selbst gestaltete Entwicklung erlebt, sondern aus übergestülpt. Sie wurden zu Objekten der Politik.

Was Demokratie erst erlebbar macht

Aber Demokratie lebt davon, dass Menschen sich als Handelnde verstehen können und mitgestalten können. Doch dazu braucht es Handlungsräume – und zwar ganz unten, auf lokaler Ebene, wo die Menschen all diese Veränderungen erleben. Subsidiär nennt sich das. Doch das Subsidiaritätsprinzip, das eigentlich in der ganzen EU gelten sollte, wird meist genau da unterlaufen, wo es drauf ankommt.

Auch in Sachsen. Der Freistaat spart sich auf Kosten der Gemeinden nicht gesund – denn gesund ist an diesem Ansparen von Vermögen für irgendwelche künftigen Geldbedarfe nichts, während es in allen Kommunen an nötigen Investitionsgeldern fehlt.

Das thematisierte z.B. der Präsident des Sächsischen Städte- und Gemeindetages (SSG), der Radebeuler Oberbürgermeister Bert Wendsche, als er am 17. Juli darauf verwies, dass sich sowohl der Freistaat Sachsen (mit deutlichen Einschränkungen) als auch die sächsischen Städte, Gemeinden und Landkreise in einer sehr prekären Finanzsituation befinden.

„Trotz der vereinbarten Eckpunkte für den kommunalen Finanzausgleich 2025/2026 werden viele kommunale Haushalte in den nächsten beiden Jahren nicht ausgeglichen werden können. Die Erlöse aus der Veräußerung des sog. Bitcoin-Sachsenschatzes sind eine Chance, die strukturell unterfinanzierten Haushalte von Land und Kommunen auszugleichen und dringend benötigte Investitionen auf den Weg zu bringen“, sagte Wendsche.

„Es ist gute Tradition im Freistaat und teilweise auch gesetzlich abgesichert, dass Freistaat und Kommunen sich gegenseitig an zusätzlichen Einnahmen beteiligen. Diese Grundsätze sollten auch auf die 2,64 Mrd. Euro angewandt werden, die der Freistaat bei der Verwertung der sichergestellten Bitcoins erlöst hat.“

Das ist ein Faktor, der noch dazu kommt und den das DIW nicht explizit beleuchtet hat: Wie fehlende Investitionen und Kommunen in permanenter Haushaltsklemme ebenfalls das Bild bestimmen, aus dem Wähler dann den Eindruck gewinnen, dass ihnen das Geld vorenthalten wird, während es „der Staat“ anderswo mit der großen Schaufel ausgibt. Da ist der Schritt, die Migration für alles verantwortlich zu machen, nicht weit. Es ist so ein leicht mit Neid aufzuladendes Wahlkampfthema.

Geschwächte Daseinsvorsorge

Auch wenn die Ursachen der Frustration in einer verfehlten Finanz- und Demografiepolitik liegen, die zusammen erst das gärende Gefühl von Abgehängtsein und Benachteiligung erzeugen. Etwas, was in einer demokratischen Gesellschaft deutlich kontraproduktiv ist.

„Zusammenfassend bedeutet dies, dass das Narrativ von der Unzufriedenheit mit der Migrationspolitik wohl nicht der einzige Faktor ist, warum Menschen die AfD oder das BSW wählen. Deutlich bedeutsamere Gründe sind Zukunftsängste und Sorgen dort, wo junge Menschen abwandern, die Daseinsvorsorge geschwächt und die wirtschaftliche Situation unsicher ist“, schreibt Fratzscher.

Und prophezeit: „Politische Strategien im Umgang mit diesen Sorgen und Ängsten werden wohl scheitern, wenn sie sich allein auf das Thema Migration verengen. Es gibt wichtigere Gründe für die zunehmende politische Polarisierung und die Stärke antidemokratischer Parteien und Positionen als Migration.“

Und so sind auch aus seiner Sicht „Zukunftsinvestitionen, die die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit auch strukturschwächerer Regionen verbessern“, dringend angeraten. „Zudem braucht es eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die gerade strukturschwächere und demografisch schnell alternde Regionen besser unterstützt.“

Und die – das muss man hinzufügen – den Menschen auch wieder das Gefühl gibt, ihr eigenes Leben und die Zukunft ihrer Region gestalten zu können. Mitgestalten zu können und gefragt zu sein. Eine politisch nicht allzu leichte Übung, wenn man sich angewöhnt hat, ein Land wie ein Königreich aus der Staatskanzlei heraus zu verwalten.

Was aber nur funktioniert, wenn die untersten politischen Ebenen dazu die nötigen – auch finanziellen – Handlungsspielräume haben. Und nicht wieder anonyme Ämter weiter oben in der anonymen Hierarchie entscheiden, die ihre Entscheidungen in bürokratischen Papierwälzern und mit Paragrafen gespickt preisgeben.

Genau das sorgt für Frust. Und für das Gefühl, doch wieder nur verwaltet zu werden.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar