Das schreckliche Messerattentat eines syrischen Geflüchteten in Solingen am Abend des 23. August 2024 hat wieder die immer selbe politische Debatte ausgelöst: Schuld an der schrecklichen Bluttat sei eine „verfehlte Migrationspolitik“. In allen Variationen findet sich dieser Vorwurf in Kommentaren und Statements wieder – je nach Parteicouleur – an CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP gerichtet, versehen mit dem Unterton, wenn diese oder jene Maßnahme früher getroffen worden wäre, dann könnten die drei in Solingen auf so brutale Weise ermordeten Menschen noch leben.

Jedoch: Keine Maßnahme, kein Gesetz wird schuldhaftes Verhalten von Menschen verhindern. Wer sein Leben verwirken will, indem er andere Menschen tötet, wird dazu immer einen Weg finden. Darum ist die eigentliche Herausforderung, der wir uns nach einer solchen Tat wie in Solingen stellen müssen: Was können Bürger/-innen, was können Politiker/-innen, was können Institutionen, Vereine und Verbände dazu beitragen, dass Menschen einander in ihrer Unterschiedlichkeit ertragen und tragen, ohne ihren jeweiligen Vernichtungsphantasien freien Lauf zu lassen?

Im Kern geht es um Bedingungen für Liebe und Solidarität, für Würde und Menschenrechte. Letzteres mag sich für manchen naiv anhören – aber ohne diese Bedingungen werden Demokratie, Vielfalt und ein friedliches Zusammenleben nicht gelingen.

Darum müssen wir sehr klar benennen: Das Verbrechen von Solingen ist nicht deswegen so horrend, weil es vermutlich ein Syrer verübt hat. Das Verbrechen ist unendlich schrecklich, weil ihm drei Menschen zum Opfer gefallen sind und acht weitere Männer und Frauen schwer verletzt wurden.

Das Verbrechen ist deswegen so verwerflich, weil mit ihm alle Werte, die uns friedliches Zusammenleben ermöglichen, von den Tätern zerstört werden sollen. Darum sind jetzt zwei Dinge vordringlich:

  • Über den politischen Debatten dürfen die Menschen, die jetzt in tiefe Trauer und Verzweiflung gestürzt wurden und deren Lebensperspektive zerstört worden ist, nicht aus den Augen verloren werden. Das sollten alle bedenken, die jetzt nach schnellen „Lösungen“ rufen und gleichzeitig mit Parolen wie „nationale Notlage“ (so der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz) Untergangsszenarien beschwören und rechte Narrative bedienen.
  • Nüchtern müssen wir festhalten: Seit vergangenem Freitag werden in unserem Land leider wieder schreckliche Gewalttaten verübt – von Menschen an Menschen. Sie müssen verfolgt und geahndet werden – und gleichzeitig dürfen wir uns nicht auf die Ebene des und der Täter, auf die Ebene von Rache und Gewalt, religiös-ideologischem Fundamentalismus und politischer Enthemmung ziehen lassen. Gerade weil der mörderische Angriff auf Menschen in Solingen auch der Art und Weise des freiheitlichen, demokratischen, solidarischen Zusammenlebens galt, muss in der Reaktion auf die Tat diese Lebensweise im Vordergrund stehen und sichtbar werden.

Dies bedenkend gilt es, der derzeitigen Stimmungsmache sehr selbstbewusst entgegenzutreten: Wenn Friedrich Merz mal so eben das Grundrecht auf Asyl (Artikel 16a Grundgesetz) und europäisches Recht aushebeln will, Sahra Wagenknecht ein „Scheitern der Willkommenskultur“ ausruft (von den unsäglichen Hass-Tiraden im Netz ganz zu schweigen), dann ist das genauso daneben wie die Radikalforderung der AfD, überhaupt keinen Geflüchteten mehr in Deutschland aufzunehmen.

In der Konsequenz kommt das der absurden Forderung gleich: Weil ein Mensch einen anderen umbringt, wäre es am besten, wenn gar kein Mensch mehr geboren würde. Nun stammen wir Menschen – von der biblischen Überlieferung her gesehen – nicht nur von Adam und Eva ab, sondern auch Kain, der seinen Bruder Abel umgebracht hat (Die Bibel: 1. Mose 4). Also ist unsere Aufgabe eine andere: Wir haben gerade angesichts von Gewalttaten in den Mittelpunkt zu stellen, dass alles Leben zunächst und vor allem auf Gnade beruht.

Das Besondere in unserem Leben ist nicht, dass es durch Krankheiten, Gewalt, Mord, Totschlag zerstört werden kann.

Das Besondere und Außergewöhnliche ist, dass wir trotz der selbstzerstörerischen Kräfte im Menschen dem Nächsten mit Würde und Respekt begegnen und ihn als Geschöpf Gottes achten und dafür die Kraft aufbringen können: „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch“, so der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau (1931–2006) in seiner Rede bei der Trauerfeier für die Opfer des Massakers an der Gutenbergschule in Erfurt 2002. Wer sich auf das christliche oder biblische Menschenbild beruft, der muss davon reden und dieses beachten.

Gott sei Dank ist der demokratische Rechtsstaat in Deutschland von diesem Geist durchaus durchdrungen. Aber derzeit wollen sich politische Kräfte wie eine AfD und ein BSW davon lösen bzw. haben sich schon längst gelöst. Doch damit wird Unmenschlichkeit politisch sanktioniert – ein brandgefährlicher, unmenschlicher Weg!

Wenn Sahra Wagenknecht eine „Zeitenwende“ in der Flüchtlingspolitik fordert und die Willkommenskultur für gescheitert erklärt, dann surft sie damit nicht nur auf der rechtsradikalen AfD-Welle – ihre Feststellung ist eine bodenlose Unverschämtheit und Beleidigung gegenüber den Hunderttausenden Bürger/-innen, die sich seit Jahren und mit großem Erfolg für die Integration von Geflüchteten in Städten und Gemeinden einsetzen.

Frau Wagenknecht kann sich einmal fragen, wer ihr die Pakete von Amazon, Hermes, DHL ins Haus bringt; wer in den Krankenhäusern als Ärzt/-innen und Pflegepersonal tätig ist, wer den Bus- und Straßenbahnverkehr aufrecht- und wer als Reinigungskraft Kliniken, Verwaltungs- und Betriebsgebäude funktionsfähig erhält. Es sind Zehntausende Geflüchtete nicht zuletzt aus Syrien und Afghanistan, die einen wertvollen Dienst in und für unsere, für ihre Gesellschaft ausüben – und das trotz täglicher Angriffe und Beschimpfungen (gerade in Bussen und Straßenbahnen) und den vielfältigen, würdelosen Signalen: Eigentlich wäre es besser, wenn ihr nicht hier leben würdet.

Darum: Es ist grotesk, wie schnell ein autokratisches Staatsverständnis auch hochintelligente Menschen in den Tunnel menschenverachtender Seelenlosigkeit führt.

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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