Gottfried Böhme hat einen Brief geschrieben, der auch die Unterstützung zahlreicher Bürgerrechtler/-innen fand. Einen deutlichen Brief, der sich zwar besonders mit den immer wieder geäußerten Positionen von Sahra Wagenknecht und ihrem BSW beschäftigt. Aber wer sich die Plakatierungen zur sächsischen Landtagswahl anschaut, sieht von verschiedensten Parteien lauter plakative Forderungen nach Frieden. Als wäre das Schicksal der Ukraine den Plakatierenden völlig egal.

Geschickt wurde der Brief in dieser Woche an die Kultusminister und -ministerinnen der Länder, an die Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung und die Lehrerverbände in Deutschland. Er thematisiert den Holodomor in der Ukraine, der in den immer neuen Appellen zu Waffenstillstandsverhandlungen und Frieden nie thematisiert wird.

„Hierzulande kann man über Wahrheit und Lüge öffentlich streiten. Damit dieser Streit auf Dauer faktenbasiert geführt werden kann, müssen die Schulen jedoch einiges Grundlagenwissen vermitteln. Leider wissen die meisten deutschen Abiturienten nämlich so gut wie nichts über den Holodomor“, stellt Uwe Schwabe, Vorstandsvorsitzender des Archivs Bürgerbewegung Leipzig e.V. fest.

„Wer sich mit dem Holodomor nie befasst hat, der versteht nur unzureichend, warum es eine Ungeheuerlichkeit war, dass Wladimir Putin 2014 einen Krieg gegen die Ukraine begann. Wieder, wie in der Stalinzeit, beschlossen Machthaber im Kreml, der Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung zu verweigern. Genauso ungeheuerlich ist der Vorschlag, die Ukraine im Kampf gegen diesen Aggressor allein zu lassen, indem man ihr westliche Waffen, ohne die sie sich gegen Putins Armee nicht erfolgreich wird wehren können, verweigert.“

Ein ungeheuerlicher Krieg

Im Wahlprogramm des BSW klingt das eher harmlos: „Wir verurteilen den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine. Wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen ohne Vorbedingungen. Eine Friedensarchitektur für Europa lässt sich dauerhaft nur dann etablieren, wenn die Sicherheitsinteressen aller Seiten respektiert werden. Dies haben die Vereinigten Staaten als Führungsmacht der NATO jahrzehntelang missachtet.“

So wenige Sätze genügen, und schon ist man wieder bei der „Schuld der NATO“. Das Leids und die Leidensvorgeschichte der Ukrainer werden einfach ausgeblendet.

„Wer sich mit dem Holodomor nie befasst hat, der versteht nur unzureichend, was für eine Ungeheuerlichkeit es ist, dass WLADIMIR PUTIN seit 2014 gegen die Ukraine Krieg führt. In Millionen von ukrainischen Familien sind die Erzählungen darüber noch wach, was ihre Vorfahren in den Jahren zwischen 1931 und 34 erleiden mussten“, schreibt Gottfried Böhme in seinem Brief.

„Dieses Leid hat sich ins kulturelle Gedächtnis des ukrainischen Volkes eingebrannt. Lange wurde darüber geschwiegen, musste geschwiegen werden. Im Zuge von Glasnost und Perestroika wurde 1991 die Ukraine jedoch selbständig. Und schon im ersten Jahr als souveräner Staat begannen immer mehr ukrainische Historiker, aber auch einfache Bürger, das zusammenzutragen, was sich 60 Jahre zuvor in ihrem Land ereignet hatte.“

Das Imperium und Stalin

Als Putin 2021/2022 seine Panzerverbände an der ukrainischen Grenze auffahren ließ, glaubte die Welt nicht wirklich, dass er es wagen würde, das Nachbarland zu überfallen. Und dennoch ließ er die Truppen los, um seinen imperialen Traum von einem Russland zu verwirklichen, in dem die Nachbarländer dem Regiment in Moskau wieder hörig sind. Wie sehr der alte Traum vom Russischen Imperium Putins Politik bestimmt, beschrieb Martin Schulze Wessel ja in seinem Buch „Der Fluch des Imperiums“.

Und zu diesen imperialen Träumen gehört auch die neue Verherrlichung Stalins.

„Es muss auf viele wie ein Schock, wie ein Déjà-vu gewirkt haben, als die gegenwärtigen Machthaber Russlands begannen, den Mann zu rehabilitieren, der Millionen ihrer Vorfahren ganz bewusst in den
Hungertod getrieben hat. Aber damit nicht genug. PUTIN scheut sich nicht, politisch und militärisch da anzuknüpfen, wo STALIN seinerzeit durch andere Projekte abgelenkt wurde“; schreibt Böhme.

„Während STALIN Millionen ukrainischen Bauern nicht nur das Saatgetreide wegnahm, sondern buchstäblich sämtliche Essensvorräte entzog, sodass sie zum Hungertod verurteilt waren, zerstört PUTIN die Infrastruktur, speziell die Elektrizitätswerke, und setzt viele Ukrainer der Gefahr aus, im kommenden Winter erbärmlich zu frieren – wenn es schlimm kommt, werden etliche von ihnen erfrieren. Jetzt schon gehen manche Beobachter davon aus, dass im Winter 2024/25 mit einer neuen Flüchtlingswelle zu rechnen ist.“

Und auch das Verdrehen der Wahrheit gehört zu den alten stalinschen Rezepten, wie Böhme feststellt: „1932 gelang es STALIN, der Weltöffentlichkeit gegenüber das ganze Ausmaß des Hungerterrors zu vertuschen. Einzelnen Berichten, die es dennoch gab, wurde zu wenig Glauben geschenkt. Heute mobilisiert PUTIN über diverse Kanäle pausenlos Falschinformationen, die viele naive Nutzer letztlich doch für wahr oder halbwahr halten. Außerdem gelang es ihm, europäische Parteien vor allem vom rechten Rand des Parteienspektrums zu beeinflussen.

Diese tun ihr Bestes, um die Versorgung der Ukraine mit Waffen infrage zu stellen – wie das beim BSW der Fall ist. Dabei weiß jeder, was dann passieren würde: PUTIN würde seine klar artikulierten Kriegsziele vollständig durchsetzen. Die freie Ukraine gäbe es dann nicht mehr, ungezählte ihrer Bürger müssten, wie bei Stalin, um ihre Existenz bangen.“

Aktuell ist Böhmes Brief auch deshalb, weil der Börsenverein des deutschen Buchhandels Anne Applebaum den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen hat, unter anderem für ihr Buch „Roter Hunger“. In diesem wird auf verständliche Weise über Motive, Ablauf und Nachwirkungen des Holodomor berichtet.

„Dieses Buch hatte ein Ukraine-Freund gerade gelesen, als er sich im Sommer in Markkleeberg bei Leipzig mit Gleichgesinnten traf“, erzählt Uwe Schwabe. „Es kam der Gedanke auf, die Kultusminister/-innen dazu aufzufordern, den Holodomor in die Lehrpläne der Schulen aufzunehmen.“

Das ist der offene Brief, den Gottfried Böhme daraufhin formuliert hat und der in der Zwischenzeit von vielen Historiker und Historikerinnen, Journalisten und Autoren und Vertreter von Aufarbeitungsinitiativen, Museen und Gedenkstätten unterschrieben wurde.

Offener Brief an die Kultusminister Endfassung 21.08.2024

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Es gibt 3 Kommentare

@fra
Man stelle sich vor im 2. Weltkrieg wäre im November 1942, zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung des Deutschen Reiches, ein Waffenstillstand vereinbart worden. Nur “damit nicht weiter Menschen sterben”. Was wäre aus den besetzten Gebieten geworden? Hätte sich Hitler freiwillig zurückgezogen oder wäre er nach Verhandlungen so ohne weiteres abgezogen? Hätten die besetzten Länder freiwillig auf ihre Gebiete verzichtet? Wahrscheinlich nicht. So wünschenswert ein Ende des Krieges auch für die beteiligten Menschen wäre, er könnte nur unter bestimmten Bedingungen greifen. Frau W. kann ja mal gerne zu Putin fahren, sie wäre die Heldin wenn er die Waffen schweigen liese. Aber ohne die Idee, wie man ihn dazu bringen könnte, ist das alles nur populistisches Geplapper des BSW im Wahlkampf.

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