Es ist schon erstaunlich, dass man bei den großen Krisen unserer Zeit, die sich alle über Jahrzehnte angebahnt haben, immer wieder das Gleiche erlebt: Man kann die Lösungen benennen, kann es den aktiven Politikern ins Stammbuch schreiben – doch die handeln nicht und riskieren, dass die Krisen sich tatsächlich bis zu jenem Punkt entwickeln, an dem nichts mehr repariert werden kann.

Das trifft auf die Klimakrise genauso zu wie auf das Erstarken populistischer Parteien wie AfD und BSW. Eine DIW-Studie gibt Anlass, da genauer hinzuschauen.

Auch und gerade aus sächsischer Perspektive, wo seit 1990 ununterbrochen die CDU regiert – in den letzten Jahren immer mit kleineren Koalitionspartnern, die da und dort ein paar Korrekturen in die Regierungsarbeit einbringen konnten. Aber die Generallinie sächsischer Politik wird von CDU-Ministerpräsidenten und CDU-Finanzministern bestimmt. Wer das Geld verteilt, bestimmt, wohin sich ein Land entwickelt.

It’s about demographics, stupid!

Sachsen hatte sogar mal einen Finanzminister und Ministerpräsidenten, Georg Milbradt, der verstanden zu haben schien, dass am Ende die Demografie bestimmt. Nicht nur dahingehend, ob ein Land wirtschaftlich erfolgreich und wettbewerbsfähig ist, sondern auch, ob es politisch stabil bleibt oder auf einmal anfängt zu schwanken wie ein Haus auf Stelzen, dessen Stelzen morsch geworden sind.

Und auf einmal steht dann das Gespenst einer Regierung im Raum, an der dann Parteien wie AfD und BSW beteiligt sind oder gar den Ton angeben.

Die am Freitag, dem 26. Juli, vorgestellte DIW-Studie hat jene Faktoren untersucht, die bei der Europawahl am 9. Juni direkt mit den guten Wahlergebnissen von AfD und BSW korrelierten.

Geringe Einkommen, Überalterung, niedriges Bildungsniveau

In der Studie wird das zum Beispiel so zusammengefasst: „Beim BSW wie bei der AfD gilt, dass ein höheres Einkommen negativ mit dem Wahlerfolg zusammenhängt. Ebenso sind beide Parteien in Kreisen stark, die eine ältere Bevölkerung und einen höheren Anteil an Menschen ohne deutschen Pass haben. Somit hängen auch die Wahlergebnisse des BSW nicht mit einzelnen Faktoren zusammen. Einen hohen Effekt hat erneut die Konstante, die für die ostdeutschen Kreise positiv ist.

Das heißt, dass das BSW grundsätzlich in Ostdeutschland stärker ist. Aber es gibt auch Unterschiede: Die AfD ist in Regionen mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit, mit niedrigeren Abiturquoten und mit einer hohen Dichte an Handwerksunternehmen stärker, für das BSW gilt das eher nicht. Das weist darauf hin, dass die AfD in Regionen mit besonders vielen negativen Strukturmerkmalen erfolgreicher ist als das BSW.“

Negative Strukturmerkmale: Das ist das, was die Menschen dort erleben, wo sie wohnen. Ist alles (noch) da, was man zu einem würdigen Leben braucht? Oder wurde es einfach irgendwann – meist aus Kostengründen – dicht gemacht?

Ostdeutsche Regionen können davon ein Lied singen, auch wenn meist nur auf die umfassende Deindustrialisierung und den Verlust von Millionen Arbeitsplätzen in den 1990er Jahren verwiesen wird. Stichwort: Treuhand. Entsprechende Bücher über die Arbeit der Treuhand haben wir hier, hier und hier rezensiert.

Doch das Problem der Fokussierung allein auf die Treuhand verhindert im Grunde den Blick darauf, dass genau dieser Lösungsansatz der Kohl-Regierung, damit den Osten möglichst schnell in die Bundesrepublik ökonomisch einzugliedern, von Anfang an zu schmal war. Dass politische Lösungen, ein Abdriften ganzer Regionen zu verhindern, fehlten. Und bis heute fehlen. Obwohl ständig von gleichen Lebensverhältnissen geredet wird.

Die es aber nicht gibt. Stattdessen werden selbst die Landkreise in Sachsen bis zur Handlungsunfähigkeit heruntergespart.

Verlorene Landschaften

Und das erleben die Menschen in den abgehängten Regionen direkt. Denn zuerst schlossen die Unternehmen ihre Pforten, dann begannen die jüngeren Bevölkerungsteile abzuwandern und ihnen folgten – Stück für Stück – all diese scheinbar viel zu teuren Infrastrukturen, die sich jetzt niemand mehr glaubte, leisten zu können. Die Menschen vor Ort erlebten das vor ihren Augen: Den verschwindenden Arbeitsplätzen folgten die Dorfkneipe, dann legte die Bahn dutzende Bahnstrecken still, der Bahnhof vorm Dorf wurde zum Lost Place.

Dann schloss die Kindertagesstätte, weil nicht mehr genug Kinder waren, dann wurden die Schulen zentralisiert und die meisten Gemeinden verloren ihre Dorfschule. Dann schloss meist die Landarztstation und wo man gerade beim Sparen war, wurden die Kreise „reformiert“ und die schrumpfenden Gemeinden zur Großgemeinde zusammengelegt.

Das sind noch nicht alle Verluste. Aber wer das erlebt hat – und die Bürger von ostdeutschen Dörfern und Kleinstädten haben das so erlebt – hat auch nach 2000 zuschauen können, wie sein Lebensraum immer mehr verarmte. Doppelt verarmte, denn mit jeder schließenden Einrichtung verschwanden weitere Ausbildungsstellen und Arbeitsplätze und noch mehr junge Leute zogen weg. Mit ihnen verschwanden die Kinder und Jugendlichen. Die Alten blieben zurück und kochten in ihrem eigenen Saft aus Trauer, Trotz und Wut.

Und mal ehrlich: Das ist nur zu verständlich.

Nur dass die Wut keinen Adressaten hat, weil – nicht nur – die sächsische Regierung kneift und sich hinter Phrasen vom Sparen versteckt. Aktuell wieder in der Krankenhausdebatte. Sie ist ja nicht allein mit diesem Denken, das man ganz klassisch das Neoliberale nennen kann. Im neoliberalen Denken ist für einen Staat, der tatsächlich allen Bürgern gleichwertige Lebensverhältnisse bietet, kein Platz. Da wird alles „eingespart“, was sich „nicht rechnet“.

Mit genau den Ergebnissen, die jetzt mit jeder Wahl immer deutlicher werden.

Es geht nicht nur um pflegebedürftige Greise

Erstaunlich, warum regierende Politiker das immer ignorieren. Um auf Georg Milbradt zurückzukommen: Der sah beim Thema Demografie auch nur die stetige Überalterung und die Probleme, die da für das Pflegesystem heranwuchsen. Aber das ist nur ein Aspekt. Der jedoch nicht zu lösen ist, wenn man die jüngere Bevölkerung verliert, die dann die Pflege übernehmen müsste.

Klammer auf: Warum sollte sie das, wenn sie in den ländlichen Regionen kein attraktives Lebensumfeld mehr vorfindet, sondern nur noch Orte, „an denen nichts passiert“?

„Eine Politik, die Lösungsansätze nur in einer Dimension etwa in Richtung der Verringerung der Zuwanderung von Geflüchteten ausbaut, greift daher zu kurz“, heißt es in der Studie des DIW. „Stattdessen sind – sicherlich erst mittelfristig wirkende – Zukunftsinvestitionen notwendig, welche die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit strukturschwächerer Regionen helfen zu verbessern. Je nach Region und Problemlagen wird es um ganz unterschiedliche Maßnahmen gehen.

In manchen Regionen werden eine Ausweitung von Aus- und Weiterbildungsprogrammen für von Arbeitsplatzverlusten bedrohte Arbeiter/-innen oder mehr Ausbildungsplätze für junge Arbeitslose gefragt sein. In anderen strukturschwächeren und demografisch schnell alternden Regionen wird der Wiederaufbau der öffentlichen Grundversorgung notwendig werden, die in der Vergangenheit wohl infolge der Abwanderung jüngerer Menschen eher abgebaut wurde.

Um solche Regionen für jüngere Menschen wieder attraktiv zu machen, wird es öffentlicher Investitionen zur Verbesserung der lokalen und regionalen Infrastruktur bedürfen.“

Man baut Grundversorgungen nicht straflos zurück und sagt den Leuten dann mit Schulterzucken, dass sie doch in die nächste Großstadt fahren können, wenn sie keinen Arzt mehr finden. Die Kinder fahren den halben Tag mit Schulbussen durchs (entleerte) Land, die Wege zur Arbeit sind nur mit Auto zu schaffen, weil es keinen dicht getakteten ÖPNV mehr gibt.

Und völlig ausgeklammert war hier auch noch die ebenso „eingesparte“ Medienabdeckung. Denn die seit Jahren kriselnden Regionalzeitungen ziehen sich mit ihren Redaktionen und der Berichterstattung auch immer mehr aus der Fläche zurück. Das können die Öffentlich-Rechtlichen nicht ersetzen. Dafür gewinnen dann die Populisten aller Farben wachsende Aufmerksamkeit in den entfesselten „Social Media“. Sodass auch das nötige Korrektiv für die Sicht auf die Wirklichkeit verschwindet.

Und wie heftig das Thema Bildung zuschlägt, zeigt die Studie ja ebenfalls. Wenn die meisten jungen Leute mit höheren Bildungsabschlüssen wegziehen, fehlt ein weiteres Korrektiv in der Meinungsbildung, schwimmen die Dagebliebenen immer mehr in der eigenen Gedankenblase. Ein fruchtbarer Boden für Parteien, die die – berechtigten – Ressentiments zu bedienen wissen, auch wenn sie, wenn man ihre Parteiprogramme liest, selbst keine Lösung für ein Problem haben, das seit 30 Jahren in aller Ruhe vor sich hingewachsen ist.

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Lieber Herr Julke,
hat sich denn alles, was Sie als Symptome aufzählen, ereignet, weil der Wind ungünstig blies? Ist der Neoliberalismus – besonders in Sachsen – über uns gekommen, weil die CDU „böse“ ist?
Dazu passt sehr gut die heutige Meldung zu Bundesbauministerin Geywitz. Knapp vor Ende einer ergebnislosen Legislaturperiode möchte sie zum Ende des Jahres per Konzept Großstädtern das Leben auf dem Lande schmackhaft machen, weil dort Wohnungen leer stehen. Warum wohl? Ich lache bereits jetzt.
Aufrüstung zum Dominanzerhalt, permanente Umverteilung von unten nach oben und gesamtgesellschaftliches Denken vertragen sich halt nicht miteinander. Ein Schuss Marx-Lektüre zeigt auch, warum optimistische grüne oder SPD-Stategien hier kaum zu anderen Ergebnissen führen werden – vom realexistierenden SPD-Grüne-FDPismus ganz zu schweigen.

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