Das für die Demokratie katastrophale Wahlergebnis der Europa- und Kommunalwahlen vom 09. Juni 2024 vor allem in den ostdeutschen Bundesländern hat bei nicht wenigen Bürger/-innen Erschrecken ausgelöst und zur Lähmung geführt. Offensichtlich hatten die eindrucksvollen Demonstrationen und Kundgebungen für Demokratie und Menschenrechte, an denen Hunderttausende Menschen auch in ostdeutschen Städten teilgenommen hatten, keine nachhaltige Wirkung.
Jedenfalls hat sich der Stimmenanteil der AfD gegenüber den Wahlumfragen zu Beginn des Jahres nicht signifikant verringert. Dabei scheint ein Faktor kaum eine Rolle zu spielen: das skandalträchtige Personal der AfD, die zwielichtigen Verbindungen etlicher AfD-Kandidat/-innen zum Putin-Regime in Russland, eine programmatische Ahnungslosigkeit auf den meisten Politikfeldern.
Letztere wird damit kompensiert, alle Probleme auf zwei Ursachen zurückzuführen: Migration/Umvolkung/Islamisierung und der Ukraine-Krieg. Diesem Strickmuster folgen die meisten Redebeiträge der AfD im Bundestag.
In Ostdeutschland haben viele Bürger/-innen AfD gewählt, völlig unabhängig von den Personen, die zur Wahl standen. Das sagt viel über die Motivation aus: Gleichgültig, was für Typen die AfD zur Europa-Wahl präsentiert, wir wählen diese Partei. Damit bringen wir zum Ausdruck, mit welcher Verachtung wir auf die Alt-Parteien blicken. So wird in dem Wahlergebnis vor allem eine tiefe Unzufriedenheit mit sich selbst und ein Wut getränkter Selbstzerstörungsprozess offenbar.
Letzterer wird rationalisiert mit politischen Vorstellungen wie: Deutschland den Deutschen … Demokratie ist auch nicht das Allheilmittel … das Volk muss das Sagen haben (wobei zum Volk natürlich nur die gehören, die echte Deutsche sind) … Wenn wir uns nur um uns selbst kümmern würden, ginge es uns besser … die Alt-Parteien haben uns all das eingebrockt, was wir nicht wollen: den Euro … eine offene Gesellschaft … eine kulturelle, religiöse, weltanschauliche Vielfalt, die wir nicht wollen … Aderlass im ländlichen Raum … Unübersichtlichkeit der politischen Abläufe.
Was an dieser weit verbreiteten Wut-/Verdruss-Haltung vor allem sichtbar wird: Vielen Menschen mangelt es an einem Selbstbewusstsein, um sich angstfrei in einer offenen Gesellschaft bewegen zu können. Sie verfügen über keinen inneren Kompass, über keine Grundüberzeugung, dass das eigene Leben völlig unabhängig von den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen sind, einen Wert hat, dieses Leben geachtet und beschützt wird.
Nach christlicher Überzeugung gilt dies für jeden Menschen, weil das Leben uns von Gott anvertraut ist. Das hat zwei entscheidende Konsequenzen: Zum einen mache ich mich nicht total abhängig von äußeren Verhältnissen, die ich nur bedingt beeinflussen kann; zum anderen kann ich mein Leben nur in einer Beziehung zum anderen Menschen, zum Nächsten sehen.
Kein Wunder also, dass dort, wo christliche Grundüberzeugungen kaum noch eine den einzelnen Menschen prägende Rolle spielen, eine solche Inhaltsleere zu dem führt, was Rainer Maria Fassbinder vor 50 Jahren zum Filmtitel erhoben hat: „Angst essen Seele auf“.
Ja, Wut und Verdruss, Angst und Panik lassen Menschen seelenlos werden. Wenn die AfD eines ist, dann dies: seelenlos.
Allein diese Sichtweise müsste dafür sorgen, dass sich nach dem Wahlergebnis die demokratischen Parteien nicht noch weiter auf die Ebene der Rechtsnationalisten ziehen lassen. Doch leider ist das Gegenteil der Fall. Nach dem 09. Juni wird vor allem der Grundwert politisch zermahlen, der eine wesentliche Säule der Demokratie ist: die Solidarität mit dem Schwächeren, der Schutz des beschädigten Lebens.
Die Kritik am Bürgergeld ist dafür ein trauriges Beispiel. Da wird der Einspruch, dass das Bürgergeld angeblich zu hoch sei und von Arbeitsaufnahme abhalte, vermengt mit Migrationsproblemen und dem Ukraine-Krieg. Und das geht so: Da die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine kein Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern sofort den Schutzstatus erhalten, haben sie Anspruch auf Bürgergeld, solange sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Das müsse geändert werden, so die Forderung, insbesondere von CDU und CSU.
Dass in dieser Gemengelage nebenbei die ukrainischen Männer pauschal verdächtigt werden, sich dem Kriegsdienst zu entziehen, und hier nicht bereit seien, eine Arbeit aufzunehmen, rundet das bewusst erzeugte Bild vom schmarotzenden Kriegsflüchtling nur ab. Besser und schriller kann man sich als Lautsprecher für die AfD gar nicht betätigen: Zum einen wird der Ukraine-Krieg zur Ursache für die sozialen Probleme in Deutschland erklärt; zum andern wird die Kürzung aller finanziellen Unterstützung für die, die wir hier nicht haben wollen, gefordert.
Dieses Spiel mit dem Feuer wird entgegen besseres Wissen betrieben. Denn jede/-r halbwegs informierte Politiker/-in kann wissen, dass das Lohnabstandsgebot nicht durch ein geringeres Bürgergeld, sondern nur durch einen höheren Mindestlohn zu erreichen ist. Außerdem wird kein Problem dadurch gelöst, dass eine Menschengruppe zum Sündenbock erklärt wird.
Bleibt die Frage: Warum sind die demokratischen Parteien nicht in der Lage, die Maßnahmen, die sie ergriffen, beschlossen haben, auch offensiv zu vertreten und als Ausfluss der Grundwerte unserer Verfassung darzustellen? Warum dieses ständige Zurückweichen vor denen, die nach dem Motto „Problemlösung durch Problemvernichtung“ verfahren und die kalte Seelenlosigkeit des Politischen praktizieren?
Warum werden gerade auf dem Feld der Migration die vorhandenen Gesetze und Regelungen nicht konsequent angewendet, stattdessen aber immer neue „schärfere“ Gesetze gefordert, und so das Vorurteil bedient, es gäbe einen „Kontrollverlust“? Warum lassen sich demokratische Parteien von einer AfD und ihren Steigbügelhaltern an den Abgrund führen, den diese brauchen, um zu überleben – und um andere darin zu versenken? Warum so viel Halt-, Kraft- und Orientierungslosigkeit?
Könnte dies auch daran liegen, dass wir zu häufig wohl gegenüber anderen, aber selten gegenüber uns selbst die Maßstäbe anwenden, die für ein menschliches Miteinander notwendig sind? Aber was, wenn es genau an diesen Maßstäben und an einem Grund- und/oder Gottvertrauen mangelt? Mit diesen Fragen müssen wir uns jenseits aller politischen Analysen mehr denn je beschäftigen, um die Seelen, das Rückgrat eines jeden Menschen zu stärken.
Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
Keine Kommentare bisher