Das aber ist der aktuelle Stundenlohn in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM)! Nach mehr als 17 Jahren seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) erfahren Menschen mit Behinderungen noch immer institutionelle, strukturelle und gesellschaftliche Diskriminierung in Deutschland. Aus diesem Grund möchten wir in diesem Artikel zum Thema „Arbeitsmarkt und Werkstätten für behinderte Menschen“ schreiben.
Arbeit hat in Deutschland einen hohen Stellenwert. Arbeit bedeutet Teilhabe an der Gesellschaft und Anerkennung. Erwerbsarbeit im Speziellen bedeutet die Möglichkeit, unabhängig und selbstbestimmt leben zu können. In Deutschland gilt seit 2015 der Mindestlohn. Seit dem 01. Januar 2024 beträgt dieser Brutto 12,41 €.
Für Menschen mit Behinderungen, die in einer WfbM arbeiten, trifft dies leider nicht zu. Bei einer Arbeitszeit von 35 bis 40 Stunden die Woche (§ 6 Werkstättenverordnung) beträgt das Grundgehalt in Sachsen 2023 durchschnittlich 174 € im Monat. Wie kann eine derartige Entlohnung in Deutschland gerechtfertigt sein? Das Grundgesetz (Art. 3) kann hier als nicht erfüllt betrachtet werden. Werkstattbeschäftigte müssen durch diese Entlohnung ihren Lebensunterhalt mit Sozialleistungen aufstocken.
Der damit einhergehende Status beeinflusst wiederum weitere Lebensbereiche, wie bspw. auferlegte Kriterien bei der Wohnungssuche. Werkstattbeschäftigte gelten ihr Leben lang arbeitsrechtlich als Rehabilitand/-innen. Diese haben nur einen arbeitnehmerähnlichen Status. Zudem beeinflusst dieser Status nicht nur den rechtlichen Anspruch auf Mindestlohn, sondern hebelt auch das Streikrecht und die Möglichkeit, Gewerkschaften zu gründen aus.
Es gibt Interessenvertreter/-innen (bspw. Werkstattrat und Frauenbeauftragte), diese sind aber keine unabhängigen Anlaufstellen, sondern weiterhin in den Strukturen der Werkstatt gefangen. Somit besteht die Gefahr, dass die Interessenvertreter/-innen fremdbestimmt und im Sinne der WfbM handeln. Wir fordern, dass Interessenvertretungen den Status einer Gewerkschaft bekommen!
Wissen Sie, wie die Arbeit in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen organisiert ist? Schauen wir uns das System Werkstatt noch einmal genauer an. Die WfbM haben zwei gesetzlich verankerte Aufgaben: die Vorbereitung und Überführung von Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und die Sicherung der eigenen Wirtschaftlichkeit (§ 12 WVO Wirtschaftsführung).
Die eigene Wirtschaftlichkeit zu sichern, gelingt den WfbM’s sehr gut: Schließlich lag der Umsatz von Werkstätten im Jahr 2018 bei rund acht Milliarden Euro. Dadurch sinkt der Anreiz, die Werkstattbeschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu überführen, jedoch immer weiter. Zusätzlich gibt es Schlupflöcher für Firmen, die keine Menschen mit Behinderungen einstellen. Wenn auf 20 Mitarbeitende keine Person mit Behinderungen eingestellt wird, müssen Firmen eine Ausgleichsabgabe in Höhe von monatlich mindestens 140 Euro zahlen.
Diese Zahlung kann allerdings gemindert werden, wenn die Firmen ihre Produkte in WfbM produzieren lassen (siehe dazu die gelisteten Artikel von JOB inklusive). Für Firmen ist es derzeit finanziell attraktiver, Produktionsabläufe in WfbM auszulagern. Somit können Firmen bei den Personalkosten massiv sparen und sich gleichzeitig als inklusiv vermarkten.
Dieses Jahr startete die Ampelregierung einen neuen Prozess, um das Entgeltsystem der WfbM zu reformieren. Wir finden es bedenklich, dass dieser Prozess nicht transparent gemacht wird. Dadurch ist er für Betroffene und andere soziale Akteure nicht zugänglich. Wir fordern, dass sich dieser Umstand sofort ändert.
Wir fordern des Weiteren,
- dass Selbstvertreter/-innen aktiv von der Politik unterstützt werden, um Partizipation zu ermöglichen!
- dass die sogenannte Behindertenhilfe sich der modernen Zeit anpasst, um Gesellschaft wirklich barrierearm gestalten zu können!
- dass es keinen geschützten „Sonderort“ für Arbeit gibt, sondern es einen Arbeitsmarkt für alle!
- dass alle Menschen mit Behinderungen von ihrer Arbeit ihren Lebensunterhalt bezahlen können!
- dass Menschen mit Behinderungen sich nicht dem Arbeitsmarkt anpassen müssen, sondern der Arbeitsmarkt sich ihnen!
- dass die Träger der Behindertenhilfe, genau wie politische Entscheidungen, nicht nur von Menschen ohne Behinderungen gestaltet werden.
Über die Autor/-innen: Wir, Helene Werthers und Tomy Brecher, sind Personen mit und ohne Behinderungserfahrungen und arbeiten zurzeit an einer Hochschule in Sachsen. Wir beschäftigen uns kritisch mit Themen rund um Inklusion und Ableismus. Unsere Expertise zu dem Thema erlangten wir durch eigene Erfahrungen und/oder die theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik im Zusammenhang mit unserer Arbeit.
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Was hindert denn einen Mitarbeiter einer solchen Werkstatt, sich in einem anderen Unternehmen zu bewerben und dort zu arbeiten? Machen die Arbeitgeber nicht mit? Gibt es, außer dem Stundenlohn, vielleicht noch andere Leistungen, die den Mitarbeitern in einer solchen Werkstatt zu Gute kommen, die diese vielleicht sogar für ein Gelingen der Arbeit benötigen?
Der Artikel wirft mehr Fragen auf, als beantwortet werden.