Der erste Schnee fällt, als sich Nadine mit ihren Klienten trifft. Aber Tobi, Chriss und Kevin, alle derzeit obdachlos, sind nicht nur ihre Klienten, sondern vor allem ihre Freunde. Viele Jahre hat Nadine auf den Leipziger Straßen gelebt – nun ist sie ehrenamtliche Mitarbeiterin bei TiMMi ToHelp e. V., einer Hilfsorganisation für Obdachlose. „Ich kenne die Menschen, die Gegend und auch die Probleme hier am Hauptbahnhof seit 15 Jahren“, erzählt Nadine.

Eines dieser Probleme fing vor einigen Wochen an: Die Fußgängerunterführung am ehemaligen Astoria-Hotel wurde geräumt. „Ungefähr 15 Menschen haben hier gelebt. Es war aber nicht nur Schlafstätte, sondern vor allem auch Aufenthaltsort, um soziale Kontakte aufrechtzuerhalten und sich gegen die Kälte zu schützen“, erzählt Chriss.

Umzug in gefährliche Abrisshäuser

Vor einigen Wochen, als der größte Teil der Gruppe tagsüber unterwegs war, seien Polizeibeamte gekommen und hätten die zwei „Aufpasser/-innen“ dazu aufgefordert, den Platz zu räumen. „Ich habe es schon so oft in verschiedenen Ländern und Städten erlebt, wie bei solchen Räumungen alles ohne Kompromiss weggeschmissen wurde, was wir nicht tragen konnten. Schlafsäcke, Klamotten, sogar Powerbanks und Papiere“, sagt Kevin.

Titelblatt der November-Ausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 108
Die November-Ausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 108. Foto: LZ

Aber man hatte keine Lust auf Stress und suchte sich deshalb eine neue Bleibe. „Wir haben uns jetzt in kleine Gruppen aufgeteilt und sind in Abrisshäuser gezogen“, erzählt Kevin.

Wie deren bauliche Beschaffenheit aussieht und ob es nicht gefährlich sei: darüber weiß Kevin nichts. Und es ist ihm auch egal. Es muss ihm egal sein. Denn bei Minusgraden auf der Straße schlafen, ist keine Option. Auch nicht für seinen Hund.

Der ist leider ein Problem, wenn es an die Übernachtungshäuser in der Stadt geht. Nebst geringer Kapazitäten sind Haustiere nicht gestattet. Für viele obdachlose Menschen ist es aber natürlich keine Option, den eigenen Hund draußen seinem Schicksal zu überlassen.

Alles für das Stadtimage?

Warum sie aus der Unterführung geschickt wurden, darüber können Tobi, Chriss und Kevin nur spekulieren. Ein Aushang der Stadt Leipzig kündigt eine grundhafte Reinigung mit Hochdruckreinigern an. Die Unterführung ist mittlerweile auch für Fußgänger/-innen komplett gesperrt.

„Warum sowas aber nicht im Sommer gemacht wird, sondern in den ersten richtigen Wintertagen, ist komplett unverständlich“, erzählt Nadine. „Im Sommer ist immer alles entspannt, aber kurz bevor der Weihnachtsmarkt beginnt, werden die Flächen in der Innenstadt immer geräumt“. Auch an der Westseite des Hauptbahnhofs sind die überdachten Leerflächen umzäunt, um keinen Schlafplatz zu bieten.

„Meine Vermutung ist, dass man zur Weihnachtsmarktzeit das Stadtbild erhalten will“, so Nadine. Auch wenn ihr schon gesagt wurde, es ginge um den Schutz der obdachlosen Menschen vor betrunkenen Weihnachtsmarktgästen: Das kann sie kaum glauben.

Auch Kevin bestätigt die Vermutung: Als er seine Sachen aus der Unterführung räumte, sollen ihm zwei Polizisten gesagt haben, dass man nach zwei Jahren Coronapandemie keine Umsatzausfälle riskieren möchte. Er selbst wurde auch von seinem Bettelplatz in der Innenstadt vertrieben.

„Ja, wir sind nicht schön anzusehen, aber wir gehören doch trotzdem dazu. Wir sind auch Leipziger, aber werden behandelt wie Ungeziefer“, wirft Chriss ein. Sie hätten sich Müllsäcke von der Stadt besorgt, um die Unterführung regelmäßig aufzuräumen und sauber zu halten. Dass man jetzt bei Minsugraden rausgeschmissen wird, kann er nicht verstehen. „Das geht gegen die Menschlichkeit.“

Ohne Obdach keine Perspektive

TiMMi ToHelp sei es zu verdanken, dass viele noch hier sind, sagen die drei Männer. Von der Stadt und der restlichen Gesellschaft fühlen sie sich alleingelassen in diesen harten Monaten. „Es stehen so viele Gebäude leer. Warum können wir nicht offiziell darin schlafen?“, so Chriss. Er und seine Freunde würden gerne dabei helfen, diese Abrisshäuser zu sanieren, die Räume herzurichten.

„Diese ständige Ungewissheit macht einen kaputt. Die Unterführung und andere Orte waren mein, unser Zuhause. Aber das könnte heute, morgen oder übermorgen einfach geräumt sein“, sagt Chriss. Auch Nadine plädiert dafür, dass die Stadt zumindest Notschlafstellen, auch für Obdachlose mit Haustieren, einrichten sollte, um bei kaltem Wetter, bei Reinigungsarbeiten wie in der Unterführung oder auch nach Krankenhausaufenthalten Schutz zu gewähren.

Viele der obdachlosen Menschen auf Leipzigs Straßen sind dort durch Schicksalsschläge, eine undurchdringliche Bürokratie und ja, auch eigene Fehlentscheidungen gelandet. Ein sicheres Obdach muss der erste Schritt zu einer zweiten Chance sein.

„Ich war beim Arbeitsamt und die wollten mit mir über meine beruflichen Perspektiven sprechen“, erzählt Chriss halb lachend. „Was will ich mit beruflichen Perspektiven, wenn ich keine Anschrift habe, wenn ich kein Zuhause habe, in dem ich mich rasieren und duschen, richtig schlafen und mental gesund werden kann.“

„Das geht gegen die Menschlichkeit“ erschien erstmals am 25. November 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 108 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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