Letzte Woche stand medial ganz im Zeichen des Gedenkens an das rassistische Pogrom in Rostock-Lichtenhagen. Und ausgerechnet am späten Freitagabend, 26. August 2022, kam es in Leipzig zu einem Brandanschlag auf eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in der Grünauer Liliensteinstraße 15a. Das LKA Sachsen ermittelt mittlerweile und „Leipzig nimmt Platz“ rief zur Demo vor Ort.

Mit 165 Personen (Sozialamt der Stadt Leipzig, Stand 31. Mai) handelt es sich bei der Lilienstraße um eine der größten Einrichtungen für Geflüchtete in Leipzig. Wie die Polizei mitteilte, sei am Freitag letzter Woche niemand davon zu Schaden gekommen, die Brandsätze hätten einen Teil der Außenmauern getroffen. Die Nachricht schaffte es, auch aufgrund ihrer Symbolhaftigkeit, bis in die Tagesschau.

Dass fast 30 Jahre nach den massiven rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen gegen das sogenannte Sonnenblumenhaus und 29 Jahre nach einem Neonazi-Angriff auf das Leipziger Heim in der Liliensteinstraße wieder Brandsätze geworfen wurden, könne kein Zufall sein, so der Grünen-Stadtrat Jürgen Kasek in einer Reaktion auf das Geschehen.

Er und Irena Rudolph-Kokot (SPD) von „Leipzig nimmt Platz“ sehen in dem Angriff längst kein Warnsignal mehr. Vielmehr seien bereits zu viele Warnsignale und Alarmzeichen übersehen worden, wenn solche Angriffe wieder stattfinden.

Für den heutigen Montagabend rief das Aktionsnetzwerk deshalb zu einer Demonstration gegen rechten Terror im westlichen Stadtteil Leipzigs auf. Unter dem Motto „Die Pogrome von morgen verhindern“ beginnt die Auftaktkundgebung 18:45 Uhr an der S-Bahn-Haltestelle Alle-Center. Es könnte eine der größeren unter den Demonstrationen in Leipzig werden, über 10 Redebeiträge wurden angekündigt.

Und die um 18:13 Uhr als gemeinsame Anreise-Linie ausgerufene S1 ab Leipzig-Hauptbahnhof sei laut Jürgen Kasek „rammelvoll“ gewesen. Auch die Radsportgruppe des Roten Sterns Leipzig beteiligte sich mit einer Fahrradanreise von der Teichstraße in Connewitz aus. Während die Fahrradanreise mit rund 80 Personen noch läuft, wird vor Ort bereits aufgebaut. Auch die Polizei ist schon am Ort der Startkundgebung.

Die LZ wird ab hier live vom Geschehen vor Ort berichten.

19:10 Uhr: Erste Impressionen und die Rede von Irena Rudolph-Kokot (LnP)

In ihrem Redebeitrag greift Irena Rudolph-Kokot den Angriff auf die Unterkunft Liliensteinsteinstraße im August 1991 auf. Damals habe dort ein Mob von Neonazis nach einem Störkraft-Konzert randaliert.

Aber auch schon Ende der 1980er-Jahren seien rechte Strukturen in Grünau eine Zumutung, für Menschen mit eindeutigem Migrationshintergrund, die in Heimen wohnten, gewesen. Hierbei wird Rudolph-Kokot auch persönlich. Sie selbst habe hier „wohnen müssen“, anders könne sie es nicht sagen. Jeder, der anders aussah, Gothic, Popper, Punks wurde in dieser Zeit, die heute auch als „Baseballschlägerjahre“ tituliert werden, von Neonazis verfolgt.

Dass heute wieder Brandsätze fliegen, könne man nicht unkommentiert lassen. „Deshalb sind wir heute hier auf der Straße.“

19:40 Uhr: Redebeitrag von Migranten, die in Grünau leben

Auch Linken-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel erinnert daran, dass es unter anderem mit den Ausschreitungen in Hoyerswerda, die sich im November zum 31. Mal jährt, auch große rassistische Pogrome in Sachsen gegeben hat.

Damals mussten, wie oft bei solchen Angriffen in den 1990er-Jahren, die Menschen aus der Stadt evakuiert werden. „Das war auch eine Kapitulation des Staates.“

In einer weiteren Rede, welche – allein dies ein schlechtes Zeichen für heutige Zustände – nur per Audio aufgezeichnet werden durfte, äußern sich Migranten von „Perspectives Grünau“, die heute in Grünau leben über die Zustände und die fehlende Hilfe aus der Politik. Bis heute sei das Problem nicht gelöst, dass sich rassistische Vorfälle nicht nur hier abspielten.

Mittlerweile ist der Demozug durch Grünau gestartet. Man darf nun von rund 1.000 Teilnehmenden ausgehen.

Der Redebeitrag von „Perspectives Grünau“. Audio: LZ

Das Projekt „Perspectives Grünau“ geht auch kritisch an die heutige Demonstration heran. Oberste Priorität hätte es gewesen sein sollen, dass Bewohner*innen der Gemeinschaftsunterkunft zu Wort kommen und mitentscheiden können – und dass davor keine Anmeldung stattfindet.

Von den „hier anwesenden politischen Akteur*innen“ fordern sie, „die Dringlichkeit des eigenen politischen Aktivismus vielleicht für ein paar Tage auszuhalten und den Personen Raum zu geben, die von der Gewalt tatsächlich betroffen sind.“

19:55 Uhr: Die Demo zieht durch Leipzig-Grünau

20:15 Uhr: Die Demo kommt an der Unterkunft an

Inzwischen ist die Demo von der Startkundgebung weiter in Richtung Gemeinschaftsunterkunft gezogen. Von teilnehmenden Organisationen ist hier und da von über tausend Menschen die Rede.

Während des Demozuges wurden auch Bengalos und Rauchtöpfe gezündet. Von „Leipzig nimmt Platz“ gibt es hierfür per Twitter Kritik: „Wir wollen den Angriff auf die Geflüchtetenunterkunft thematisieren und das generelle Rechtsextremismusproblem in der Gesellschaft und keine weiteren Repressionen hervorrufen.“

Man bitte darum, „keine Pyrotechnik zu zünden.“

Apropos Rechtsextremismus-Problem. Vom sonst wortgewaltigen Ministerpräsidenten Sachsens Michael Kretschmer (CDU) hat es auf seinem Lieblingsmedium Twitter bis zur Stunde keine einzige Wortmeldung zu den Brandsätzen von Leipzig gegeben. (Nachtrag) Gegenüber der Presse sprach er lediglich von einem „Alarmsignal“. Und natürlich fehlen auch bei der heutigen Demonstration jegliche Vertreter der CDU Leipzig.

Bislang ist auch der Anschlag selbst nicht bei der Soko Rex des LKA Sachsen gelandet, sondern wird vom PTAZ (Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrum) verfolgt.

Kurzzeitig wollte die Polizei den Demozug stoppen, da Pyrotechnik gezündet wurde. Nun geht es über eine Umleitung weiter.

21 Uhr: Die Zwischenkundgebung läuft

Die Demonstration ist mittlerweile in der Nähe der Liliensteinstraße zur Zwischenkundgebung eingetroffen. Vereinzelt gab es auf der bisherigen Strecke Beifallsbekundungen von einigen Balkonen in Grünau.

Über die Teilnehmendenzahl ist man sich noch immer etwas unschlüssig. Angesichts der Länge des Zuges würden wir nun von etwa 1.200 ausgehen.

21 Uhr: Redebeiträge von Alex, Leitung der Liliensteinstr. & Mohamed Okasha vom Migrant*innenbeirat Leipzig

Nach einem langen Marsch quer durch Grünau findet an der Gemeinschaftsunterkunft Liliensteinstraße nun die Zwischenkundgebung statt. Dort kommt auch Alex vom Betreiber „Pandechaion Herberge e. V.“ der Unterkunft Liliensteinstraße zu Wort: „Lasst uns nicht nur klare Kante zeigen am Montagabend hier in Grünau, sondern jeden Tag aufs Neue, […] dass wir in der Lage sind, mit Vielfalt umzugehen.“

Selbst helfen könne man, indem man den Menschen zeigt, „die Angst haben vor Ausländern, vor Menschen, die woanders herkommen, die anders aussehen, dass […] das scheißegal [ist], wo man her ist.“

Mohamed Okasha, der im Namen des Migrant*innenbeirats der Stadt Leipzig spricht, drückt sein Unverständnis über das Zünden der Rauchtöpfe aus. Das gefährde Menschen – und dabei gehe es nicht um Angst vor der Pyrotechnik, sondern dass Personen ohne deutschen Pass bei Festnahmen der Aufenthalt verweigert werden könne, während andere nur mit Repressalien wie einer Geldstrafe oder Bewährung rechnen müssten. „Es geht nicht um Angst. Aber du gehst mit einer Geldstrafe nach Hause, mir wird die Einbürgerung verweigert“, so Okasha.

Über das, was nach 30 Jahren in Leipzig wieder passiert ist, „trotz der Arbeit, trotz der Kämpfe, die wir seit Jahren [hier] leisten“, sei er sehr wütend. „Ich bin traurig und ich habe Angst und ich bin besorgt. Ich habe Angst um meine Kinder, um mich, um meine Geschwister, die hier wohnen und in irgend[welchen] anderen Unterkünften und anderen Heimen und auf der Straße laufen.“

Er spricht von Retraumatisierung: „Du machst dich auf den Weg, um in die Sicherheit zu kommen[, …] vor der Angst zu fliehen und dann kommst du hierher und dann erlebst du Angst und Gewalt und Rassismus und Ablehnung und Unterdrückung und Erpressung […] und das ist wirklich verdammt viel für die Psyche.“

„Wir machen leider zu wenig und es gibt sehr, sehr viel zu tun“, stellt Okasha schließlich fest.  Anstatt also eine Rede für den Beirat zu schreiben, habe er sich schließlich entschlossen, einen Haushaltsantrag für Schutzmaßnahmen für alle Geflüchtetenheime an den Stadtrat zu formulieren.

Nächste Woche wolle er den Oberbürgermeister im Stadtrat mit den Schutzmaßnahmen beauftragen. Dabei sollen Sammelunterkünfte zugunsten von dezentraler Unterbringungen abgeschafft und die psychologische Betreuung verbessert werden.

Zum Schluss macht er ein Versprechen: „Die Herkunft bestimmt nicht die Zukunft. Und das wird sie nie tun.“

21:45 Uhr: Redebeiträge von zwei Bewohnern der Liliensteinstraße

Man kann letztlich alles, was bei Migration, Zuwanderung und die Ankunft von Geflohenen an Problemen und Widersprüchen auftritt, debattieren und thematisieren. Am Wichtigsten ist dabei jedoch stets die Perspektive jener, die neu nach Leipzig kommen, sich zurechtfinden wollen und dann, so ein Bewohner der Liliensteinstraße, in diesen Sammelunterkünften landen.

Er und sein Mitbewohner sind sich zudem einig: den Anschlag werden sie in der Unterkunft überstehen und ihren Verwandten und Kindern natürlich über die Solidarität am heutigen Abend berichten.

Aber die eigentlichen Probleme liegen tiefer. Verweigerter Spracherwerb, Probleme bei Dokumenten, eine eigene Bleibe zu finden und wirklich in Leipzig anzukommen, belasten den Alltag.

22:30 Uhr: Demoende und letzte Worte

Gegen Ende der Demonstration, welche unterdessen beendet ist, wird es noch einmal kämpferisch. Auch Stadtrat Jürgen Kasek (Grüne) berichtet von seinen Erlebnissen aus den 90er Jahren, einer Zeit, wo es in seinem Fall genügte, lange Haare zu tragen, um von Neonazis verfolgt und angegriffen zu werden. Doch es habe auch die anderen gegeben, die sich, wenn man die Telefonnummern hatte, herbeirufen ließen und unterstützten, wenn man angegriffen wurde. Denn Staat und der Verfassungsschutz, der aus Sicht Kaseks bis heute „eh nichts beobachtet“, halfen nicht.

Damit begründet Kasek, dass es nötig sei, der „permamenten Gewaltandrohung von rechts eine Gewaltandrohung entgegenzusetzen“.

Dass es auch für Jürgen Elsässer mit seinem „Compact“-Magazin und die rechtsextreme Sammlungsbewegung „Freien Sachsen“ am 5. September 2022 in Leipzig sehr unbequem werden könnte, macht Jürgen Kasek mit einem Aufruf am Ende seines Redebeitrages klar.

Nachdem die Rechtsextremen für diesen kommenden Montag nach Leipzig mobilisieren würden, gäbe es nur eine Antwort. Ihnen „ganz eindrücklich zu erzählen, dass sie in Leipzig nichts zu suchen haben und erwarten können, ist eine Portion …. das könnt ihr jetzt selber einsetzen.“

Der kommende Montag, an welchem auch die Partei „Die Linke“ zur Kundgebung aufruft und sich diesem Aufruf die rechten „Freien Sachsen“ anzuschließen versuchen, dürfte also in vielerlei Hinsicht interessant werden.

Für heute sind wohl die Worte des syrischstämmigen Bewohners der am Freitag attackierten Flüchtlingsunterbringung die wichtigsten gewesen. Dass er von der Unterstützung durch die Demonstration seinen Verwandten berichten wird und darauf hofft, es möge sich etwas an der Lage Geflohener in Leipzig verbessern.

Die Demonstranten sind alle bereits auf dem Heimweg. Bis auf ein paar Grünauer Jugendliche, welche mit der Anwesenheit der Demo nicht einverstanden waren und von Polizeibeamten beiseite genommen werden mussten, blieb alles (bis hier) friedlich am heutigen Abend in Grünau.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Michael Freitag über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar