Nun also doch. Was viele von uns, einschließlich der Autor dieses Textes, trotz wochenlangen Säbelrasselns an der russisch-ukrainischen Grenze letztlich nicht geglaubt hätten, ist mit dem militärischen Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 Wirklichkeit geworden.
Der Krieg ist in Europa zurück, von einer „Zeitenwende“ wird überall gesprochen, der Westen und die NATO setzen derzeit auf räumliche Konfliktbegrenzung, indem kein militärisches Eingreifen erfolgt – jedenfalls nicht direkt.
Krieg, Pandemie, Klima
Der Krieg, die Bomben, der Tod Unschuldiger, das millionenfache Leid in geografischer Reichweite, mitsamt allen Folgen auch für uns – all dies zementiert und verstärkt brutal das Empfinden, im welchem Krisenmodus unsere Gesellschaft sich befindet.
Seit über zwei Jahren zermürbt uns die COVID-19-Pandemie, über allem trommelt bedrohlich der monotone Hintergrund-Sound des Klimawandels. Bei vielen Menschen kommen dann noch individuelle Faktoren hinzu: Stress und gefühlte Überforderung in Alltag, Familie und Beruf, Zukunftsangst, Schicksalsschläge wie schwere Erkrankungen oder der Verlust geliebter Personen, persönliche Traumata.
Resilienz – ein schillernder Terminus
Immer häufiger hört man in derlei Zusammenhängen seit Jahren von „Resilienz“ – ein schillernder Terminus (von lat. resilire = abprallen, zurückspringen, Abstand nehmen), der unter anderem auch in der Physik, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften und der Medizin gebräuchlich ist.
Allgemein und auch in der Psychologie wird er etwa mit „Widerstandskraft“ übersetzt: Was kann dem Menschen helfen, mit einer allgemein oder persönlich bedingten Krisensituation besser fertigzuwerden und auch innerlich wieder zu Kräften zu kommen – gerade jetzt in Zeiten, die scheinbar wenig Anlass zur Zuversicht bieten? Lässt sich Resilienz trainieren?
Manche sind wahre Stehaufmännchen
Vielleicht lohnt es sich zunächst, den Resilienzbegriff noch mal etwas genauer anzuschauen, um Missverständnisse zu umgehen. Denn die landläufige Übersetzung mit „Widerstandskraft“, die man in Ratgebern und Seminaren geboten bekommt, ist aus Sicht der Wissenschaft nur eine einfache.
Forscherinnen und Forscher, die sich intensiver mit dem Thema befassen, sehen in Resilienz einen Mechanismus der Psyche aus verschiedenen Faktoren, die noch nicht alle identifiziert sind. Ihre nur vorläufige Antwort ließe sich so umschreiben: Resilienz bedeutet, dass ein Mensch seine psychische Stärke unter widrigen Bedingungen entweder erhalten kann – oder sie danach zeitnah wiederherstellt, ohne dass ihn das Erlebte anhaltend „aus der Bahn wirft“, wie es umgangssprachlich heißt.
In „anhaltend“ steckt ein entscheidender Aspekt: Resilienz heißt nicht, dass wir unverletzlich oder unangreifbar wären, dass wir uns nicht auch mal mies fühlen dürfen. Ein Leben frei von Enttäuschung, Schmerz, Krisen und Trauer gibt es schließlich nicht und jeder kennt Phasen, in denen scheinbar nichts gelingen will, man sich womöglich wie gelähmt fühlt.
Immunsystem der Seele
Als eine Art „seelisches Immunsystem“ hilft Resilienz jedoch, dem zumindest nicht machtlos gegenüberzustehen. Inwieweit sie angeboren oder erlernbar ist, wird in der Wissenschaft diskutiert. Viele Fachleute gehen von einem Zusammenspiel erblicher und sozialer Faktoren aus, aus denen sich Resilienz im Lauf eines Lebens individuell entwickelt, aber prinzipiell bei jedem trainiert werden kann.
Resilienz kann als Reaktion auf unterschiedliche Erfahrungen bis hin zu Extremst-Ereignissen auftreten. Uns allen ist sicher noch Natascha Kampusch ein Begriff – eine Österreicherin, die als kleines Mädchen von einem fremden Mann entführt und über acht Jahre in seinem Haus gefangengehalten wurde, ehe ihr 2006 die Flucht gelang. Heute arbeitet die 34-Jährige frei und selbstbestimmt als Autorin.
Man könnte auch andere, prominente Beispiele finden. Generell gilt: Resiliente Personen erleben Negatives nicht weniger schmerzhaft und deprimierend als andere, aber sie verlieren dadurch nicht die Handlungsmacht über ihr eigenes Leben. Zumindest nicht auf Dauer.
Grenzen des Ansatzes
Auch bei Menschen, die schwere Krankheiten, Terroranschläge und Gewaltverbrechen überlebt haben, die Missbrauch und Vernachlässigung erfuhren, Diskriminierung und Mobbing, findet sich das Phänomen immer wieder. Von manchen hört man gar, ihr Leben habe später eine Kehrtwende zum Positiven hingelegt. So erfreulich wie diese authentischen Fälle auch sind, darf nie vergessen werden: Jeder reagiert anders, oft spielen komplexe Probleme mit hinein, etwa psychische Krankheiten.
Insofern ist die Kritik am Resilienz-Konzept, dass dieser Ansatz gesellschaftlich zu einem Hype führen kann, der in der trügerischen Gestalt eines Allheilmittels daherkommt und strukturelle Problemlagen kaschiert, durchaus eine begründete Gefahr. Leuten, die sich schwerer tun als andere, könnte schnell das Stigma „nicht resilient“ anhaften, und wer sich auf der Seite der Resilienten glaubt, verkennt objektiv skandalöse Bedingungen viel eher. Der ausbeuterische Chef reibt sich schon die Hände.
Erschöpfte Gesellschaft und „Vollkasko-Mentalität“
Wem also Schlimmstes widerfahren ist, der braucht Zeit und viel professionelle Unterstützung, um ins Leben zurückzufinden. Wenn man diesen Bereich hier ein wenig ausklammert, können einfache Tipps zur Resilienz in vernünftigem Maße jedoch tatsächlich kleine Hilfestellungen bieten – gerade in Zeiten wie diesen, wo man mit Beginn des Ukraine-Kriegs fassungslos vor dem Newsticker hockt und sich einfach nur ohnmächtig fühlt, wenn keine zwei Flugstunden von hier Menschen zerfetzt werden und im Kugelhagel den Tod finden.
Zugleich steigt Angst auf: Kommt der Krieg jetzt auch zu uns? Gibt es einen nuklearen Schlagabtausch? Habe ich überhaupt eine sichere Zukunft?
Unsere Gesellschaft, durch Klimakrise, Pandemie und politische Polarisierungen ohnehin erschöpft und verunsichert, erlebt einmal mehr, wie eine schwerwiegende Gefahr in greifbare Nähe rückt, was früher nicht denkbar schien. Es ist die neuerliche Erschütterung jener „Vollkasko-Mentalität“, wie es die Psychologin Donya Gilan kürzlich in einem SWR-Interview nannte: Das Trugbild vieler Menschen in Deutschland und Europa, die schweren Krisen fänden weit weg statt, Sicherheit, Wohlstand und Frieden seien doch bei uns selbstverständlich.
Es gibt einige Stellschrauben
Vernünftige Ratschläge zur Entwicklung von Resilienz vor dem Hintergrund der aktuellen Nachrichtenlage könnten genau dort ansetzen: Gerade der übermäßige Konsum von neuesten Meldungen, der ständige Blick zur News-App, mündet schnell in mentale Überforderung. Der innere Drang, das Geschehen komplett erfassen zu wollen und ja nichts zu versäumen, endet leicht damit, dass wir uns im Dschungel der Neuigkeiten regelrecht verlieren und der Blick für andere Dinge fehlt.
Daher empfehlen Expertinnen und Experten, Nachrichten nur wohldosiert aufzunehmen und sich dabei seriöser Medien abseits reißerischer Aufmachungen zu bedienen, die den Untergang der Welt schon kommen sehen. Bewusste Auszeiten helfen dabei, einen klaren Kopf zu bewahren.
Außerdem sollten auch die Alltagsroutinen, die Pflege von Familienbindung und Freundschaften, das Fortkommen in der Uni und an der Arbeitsstelle, die ehrenamtliche Vereinsarbeit und alles, was uns persönlich wichtig ist, weiterhin fester Bestandteil des Lebens sein.
Das Verfolgen individueller Ziele, die man sich gesetzt hat, gehört ebenso in diese Kategorie wie die Integration erfüllender Aktivitäten in den Tagesablauf: Ob sportliche Aktivität, Engagement in der Zivilgesellschaft, ein entspannender Spaziergang oder ein Kaffee mit der besten Freundin – alles, was uns wohltut, ist willkommen und wichtig.
Einfache und effiziente Techniken
Vieles deckt sich mit dem, was Psychologen unabhängig von der jetzigen Situation auch ganz allgemein nahelegen, wie man auf eine persönliche Krise reagieren kann. Das fängt bei der simplen Vergegenwärtigung und Akzeptanz der als schlecht empfundenen Situation an: Es ist, wie es ist, und schwierige Lebenslagen gibt es in jeder Biografie. Auch bei jenen Mitmenschen, die scheinbar alles mühelos wegstecken, sollte man genauer hinschauen, ob nicht doch die alte Weisheit gilt: „Unter jedem Dach wohnt ein Ach.“
Als effiziente Technik gilt auch das Aufschreiben, welche Probleme man in seinem Leben früher vielleicht schon erfolgreich hinter sich gelassen hat. Manch einer staunt, wie lang die Liste dann wird – und das kann enorm aufbauen. Ähnliche Effekte wurden auch für das Führen eines Tagebuchs belegt, in denen man seine persönlichen Sorgen niederschreibt.
Der gezielte Austausch mit anderen Menschen – Familie, Freunden, Bekannten, Kollegen und Nachbarn – hilft uns, weil wir uns weniger allein fühlen und erkennen, dass andere oft von ganz ähnlichen Gedanken geplagt werden. Sind die Probleme gravierender, ist natürlich fachlicher Rat gefragt.
Persönliche Krise ist kein Weltuntergang
Nicht zuletzt ist auch ein realistischer Blick auf die Dinge anzuraten, ohne Leugnung und Schönfärberei, aber auch ohne Dramatik: Die Krise ist da, sie wird wohl nicht morgen früh verschwunden sein, aber ebenso wenig das Ende aller Tage für mich bedeuten. Persönliche Krisen sind ein zeitlich begrenztes Ereignis, aus dem man manchmal tatsächlich Positives mitnimmt. Das wird dann aber erst in der Zukunft erkennbar. Jeder kennt den Spruch: „Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden.“ Dazu geben Fachleute auch den Tipp, sich seiner Entscheidungen aktiv bewusst zu werden, um sich zu vergegenwärtigen, dass man immer noch Dinge selbst in der Hand hat.
Stresslevel weiter hoch
Das alles mag keine Wunderpille sein, die all unsere Probleme mal eben auflöst. Aber als Strategie zum besseren Umgang mit Krisen jetzt und generell ist das Konzept Resilienz durchaus hilfreich, wenn es maßvoll und mit Bedacht angewendet wird.
Und eines ist sicher: Um unsere Gesellschaft ist es nicht gut bestellt, was das psychische Befinden angeht. Schon vor dem Ukraine-Krieg wiesen Studien einen deutlichen Anstieg des gemessenen Stresslevels aus, das Gefühl von Frust, innerer Leere, Nervosität und Einsamkeit lastet schwer auf vielen Menschen. Die globale Pandemie, die Lockdowns konnten gerade bei denen, die ohnehin schon unter psychischen Problemen litten, wie ein Brandbeschleuniger wirken.
Achten wir darauf, uns nicht zu verlieren.
„Pandemie, Klimawandel – und jetzt der Ukraine-Krieg: Resilienz in Krisenzeiten“ erschien erstmals am 1. April 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 100 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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