In den Nachmittagsstunden des 6. November 2019 bricht der Unterschenkel von George. „Der Patient war beim Klettern über einen Zaun gestürzt“, heißt es später in einem Bericht des Uniklinikums Leipzig. Die Polizei bestätigt diese Darstellung und müsste es eigentlich ganz genau wissen. Schließlich waren Beamte der Bereitschaftspolizei an jenem Nachmittag im Einsatz, um zwei Bewohner der Erstaufnahmeeinrichtung in Dölzig nahe Leipzig abzuschieben. Doch was im Krankenhaus-Bericht steht, sei nicht das, was tatsächlich passiert ist, sagt George, der eigentlich anders heißt.
Er lebt in der benachbarten Gemeinschaftsunterkunft und bemerkte an jenem Tag viele Polizist/-innen vor Ort. „Ich bin nach draußen gegangen, um zu sehen, was los ist“, erzählt George. Ein Polizist habe den Abzug seiner Waffe berührt, woraufhin George die Flucht ergriff. Laut Polizei verletzte er sich dabei selbst. George stellt es anders dar: „Zwei Polizisten haben mich vom Zaun gezogen.“ Dann – zumindest das ist unstrittig – brach sein rechter Unterschenkel.Über den Polizeieinsatz selbst spricht George ungern. Anzeige gegen die Polizist/-innen habe er nicht erstattet. Eine ehrenamtliche Unterstützerin, die ihn seit Jahren kennt, sagt: „Er war mental nicht in der Lage dazu.“ Seit diesem Vorfall hat sich George offenbar stark verändert. „Als wir uns kennenlernten, war er ein gesunder junger Mann, der ständig Witze macht“, erzählt die Unterstützerin. „Doch in der Unterkunft hat sich sein Zustand deutlich verschlechtert.“
Nach zwei Jahren noch auf Krücken
Das liegt vor allem an den psychischen und körperlichen Langzeitfolgen. Noch heute – fast zwei Jahre später – muss George auf Krücken laufen. Sieben Operationen hat er bislang hinter sich. Die Schmerzen sind manchmal so schlimm, dass er nicht einschlafen kann. „Die Ärzte sagten mir, dass das Bein nie wieder so sein wird wie früher.“
George und seine Unterstützerin beklagen eine Vielzahl an Missständen, angefangen beim Verhalten der Polizei, über die Behandlung im Krankenhaus, wo es teilweise an Übersetzer/-innen mangelte, bis hin zur Infrastruktur rund um die Asylunterkunft, die nicht auf Menschen mit Gehbehinderung ausgelegt sei. Zumindest von einer „ausgeprägten Sprachbarriere“ ist auch im Bericht des Uniklinikums die Rede.
Bushaltestelle weit entfernt
Ein ganz praktisches Problem ergibt sich aus dem Wohnsitz in Dölzig. Um zu Behandlungen nach Leipzig zu kommen, muss George zu einer knapp zwei Kilometer entfernten Bushaltestelle laufen. „Wenn ich dürfte, würde ich gerne nach Leipzig ziehen.“ Doch er darf nicht. Als abgelehnter Asylbewerber muss er in der Gemeinschaftsunterkunft wohnen.
„Das Lagersystem schließt Asylsuchende räumlich und sozial aus der Gesellschaft aus“ beklagt auch die Initiative CopWatch Leipzig, die mit dem Fall betraut ist. „Die psychischen und physischen Folgen von Polizeigewalt begleiten die Betroffenen oft jahrelang und erschweren so den Aufbau eines Lebens in Sicherheit.“ Die Polizei wiederum fühle sich in den außerhalb von Großstädten gelegenen Lagern unbeobachtet. „Deshalb kommt es immer wieder zu massiver rassistischer Gewalt.“
Georges jüngste Operation liegt nur wenige Monate zurück. Vielleicht lindert sie seine Schmerzen etwas. Von der deutschen Asylpolitik kann er derzeit wenig Hilfe erwarten.
„Auf Krücken nach Leipzig: Ein Geflüchteter leidet unter den Folgen eines Polizeieinsatzes“ erschien erstmals am 30. Juli 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 93 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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