Eine Woche ist vergangen. Während die tiefe Trauer bei einigen Menschen noch für zitternde Knochen und versagende Stimmen sorgt, wurden andere bereits durch das tägliche Leben wieder eingefangen. Die Normalität schießt durch die Köpfe und klopft mit der bitterbösen Frage an, ob nicht schon alles über Hanau gesagt, geschrieben wurde. Nein, an keinem Tag darf es das gewesen sein. Solange Rassismus tötet, darf es das nicht gewesen sein. Solange die Angehörigen der neun Menschen trauern, darf es das nicht gewesen sein.
Trauer
Mit schmerzenden Herzen und gebrochenen Stimmen tragen Menschen umgeben von Blumen und Kerzen Gedichte vor. Der Staat setzt als Zeichen der Andacht die Flaggen auf halbmast. In den Stadien der Nation werden Schweigeminuten abgehalten und ein Büttenredner verwandelt in karnevalistischer Umgebung seine Trauer in eine Brandrede gegen Rechts. Dem Kanon der Trauer enthalten sich aber auch viele Menschen.
Menschen gedenken, leiden, fühlen sehr unterschiedlich. Vieles wird erst durch die eigene (mögliche) Betroffenheit greifbar und spürbar. Hätte es mich treffen können, hat es uns getroffen? Die Debatte, ob der Angriff denn nun uns allen galt, verdeutlicht die Unterschiedlichkeit der Empfindungen und Verständnisse. Nicht wenige Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft entziehen sich der Trauer, sobald sie können.
Wenn die Beileidsbekundung der Bundeskanzlerin als leere Inszenierung wahrgenommen wird, dann deshalb, weil Beileidsbekundungen an Kraft verlieren, wenn kein ernsthafter Nachdruck dahinter sichtbar wird.
Wut
Eine Mutter trauert um ihren verstorbenen Sohn und als sie ihn beschreibt, schämen wir uns sehr. Er habe vor zwei Wochen seine Berufsausbildung abgeschlossen. Er habe gearbeitet. Alle getöteten jungen Menschen hätten gearbeitet. Und wir schämen uns für das deutsche Integrationsparadigma. Für all das Infomaterial aus den Händen der staatlichen Behörden zum Beispiel, in dem auf Türkisch oder Arabisch erklärt wird, wie es sich in Deutschland zu verhalten gelte.
Mitte der 1960er Jahre erhielt jede*r als Arbeitskraft angeworbene Türke*in im Rahmen des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei eine Broschüre mit dem Titel »Wie geht man als Arbeiter nach Deutschland? – Lebensbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland“. Darin hieß es unter anderem: »Arbeitet fleißig, wach und umsichtig und lernt schnell dazu, was ihr noch nicht wisst. Haltet euch strikt an die Betriebsordnung. Kommt pünktlich und geht pünktlich. Lasst euch nie krankschreiben, außer wenn es gar nicht anders geht.«
Seitdem hat sich wenig verändert.
Noch die Enkel*innen der in der Broschüre Angesprochenen werden anhand ihrer Nützlichkeit und Verwertbarkeit beurteilt. Auch diese in Deutschland Geborenen werden nach wie vor und häufig zuallererst auf ihren Integrationsstatus befragt. Und noch immer geben sich viele von ihnen schrecklich viel Mühe, in der Hoffnung auf Teilhabe. Sie können sich Mühe geben, sich um ein akzent- und der Verwechslungsmöglichkeiten wegen dialektfreies Deutsch bemühen und immer die ersten sein, die alten Menschen im Bus einen Platz anbieten, sie können lückenlose Arbeitsbiografien vorzeigen und immer weißen Deutschen den Vortritt bei Beförderungen lassen, vor Rassismus wird es sie nicht bewahren.
In Hanau sind neun Menschen aus rassistischen Motiven getötet worden und ein Moment der Einigkeit scheint spürbar zu sein. Rassismus tötet. Und mitten hinein in diese Gewissheit, wird ein Kandidat für den CDU-Vorsitz gefragt „Schließe ich daraus, dass Ihre Antwort auf das Problem des Rechtsradikalismus die stärkere Thematisierung von Clankriminalität, Grenzkontrollen usw. ist?“ Und Herr Merz sagt ja.
Widerstand
Wir spüren Wut inmitten unserer Körper. Das Unsägliche wird Tage später schon wieder gesagt. Es macht uns wütend zuschauen zu müssen, wie mahnende, flehende und fordernde Stimmen nach kürzester Zeit verschlungen werden und verhallen. Wir mahnen, flehen und fordern: Nie wieder!
Dieses mal, wie jedes mal zuvor ist der Wille nach einem Bruch greifbar. Es muss etwas geschehen, etwas passieren, ein Versprechen, eine historische Antwort, Maßnahmen und Konsequenzen müssen folgen. Und zugleich wird bewusst, wie jedes mal zuvor, es wird wieder passieren. Deutscher Rassismus wird wieder morden, solange der Kampf gegen Rassismus ein Kampf gegen die Normalität, gegen das Alltägliche bedeutet.
Als der NSU in Deutschland mordete, ermittelten deutsche Behörden im Drogenmilieu, vermuteten „Ehrenmorde“, stigmatisierten die Angehörigen ins Kriminelle. In einer Fallanalyse des Baden-Württembergischen Landeskriminalamtes hieß es zum Beispiel: „Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen und Wertesystem verortet ist“.
Zu gleicher Zeit 2006 und damit fünf Jahre vor der sogenannten Selbstenttarnung des NSU demonstrierten in Kassel, organisiert durch die Angehörigen der Getöteten, Tausende, mit der Forderung „Kein 10. Opfer“.
Diese Demonstration wie auch die in Dortmund einige Zeit später blieben weitgehend unbeachtet. Medien berichteten nicht. Während PEGIDA mit ihrer rassistischen Angstbekundung vor der angeblichen „Islamisierung des Abendlandes“ Berge von Zeitungsseiten füllt, gibt es Ängste in dieser Gesellschaft, die ungehört zu bleiben scheinen. Es folgten weitere Opfer.
In den letzten neun Monaten hießen sie Walter, Jana, Kevin, Ferhat, Gökhan, Hamza, Said, Mercedes, Sedat, Kalojan, Fatih und Vili.
Der rechte Terror wütet durchs Land, plant bürgerkriegsähnliche Zustände in der Bundesrepublik, mordet unsere Mitmenschen und die Befürchtung wächst, dass der Staat wieder einmal die Kontinuität des ritualisierten Umgangs mit Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und menschenverachtenden Ideologien nicht durchbrechen wird. Der erste Gedanke sagt uns, setz dich zur Wehr! Es fällt uns schwer zu hoffen, dass der Staat die uns vertrauten Orte schützen kann.
Wir sind gezwungen Widerstand zu leisten. Doch wie sollte unser Widerstand aussehen? Die Solidarität nach Hanau war zu spüren. Gedenkveranstaltungen, Demonstrationen, Spendenaufrufe. Aber wie definieren wir das Wehrhafte, nachdem die Trauer die Öffentlichkeit verlässt und die Wut sich nur noch in den Körpern Betroffener festzementiert?
Wenn das Vertrauen in die staatlichen Organe schwerfälliger wird, Forderungen nach Maßnahmen und Konsequenzen verhallen, Aufarbeitungen der Taten hinter Akten versperrt werden und sich alles wieder nur um Connewitz, Thüringen und die Hufeisentheorie dreht, wie kann dann eine nachhaltige wehrhafte demokratische Widerständigkeit aussehen?
Eine Woche ist vergangen. Und obwohl es manchmal schwerfällt: Wir dürfen nicht aufhören über Rassismus zu sprechen, zu schreiben und uns zu wehren.
Mehmet Arbag, Arya Rakhtala und Anna Sabel sind beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften in Leipzig Projektmitarbeitende und Projektleiterin des Bundesmodellprojekts „(Un)Sichtbarkeiten in der Migrationsgesellschaft“, das durch das Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ gefördert wird.
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