Am Dienstag, 24. September, brachte „Zeit Campus“ eine hübsche kleine Analyse von Joe Evans zu der Frage, warum die Tories in England fürchten, bei der nächsten Wahl heftige Stimmverluste hinnehmen zu müssen. Denn sie punkten bei der jungen Bevölkerung nicht mehr. Was auch ein paar jungen Tories bewusst ist, zum Beispiel Stephen Canning, den Evans bei einer richtig schönen Pirouette erwischt.

„Für den konservativen Politiker Stephen Canning hat seine Partei deshalb ein Problem mit jungen Menschen, weil sie keine Vision hat, an die junge Menschen glauben können. Wenn der Brexit überstanden sei, solle sie zwar nicht ihre Ideologie ändern, um sich bei jungen Wählern beliebt zu machen, sagt er. Aber sie müsse besser erklären, warum die Konservativen durchaus eine Vision für ein besseres Großbritannien haben.“

Das darf man zwei Mal lesen: Erst stellt der junge Mann fest, dass die Tories keine Vision haben, „an die junge Menschen glauben können“. Und dann folgt prompt: Sie müssen es nur besser erklären, „warum die Konservativen durchaus eine Vision für ein besseres Großbritannien haben.“

Das erinnert einen doch sehr an manche Deutungsmuster im konservativen Milieu der Bundesrepublik. Hemdsärmelig verkünden auch hier die Jungspunde, man habe ganz tolle Ideen für die Zukunft. Und dann kommt – nichts. Es ist, als laufe man gegen eine Gummiwand. Und so ähnlich wirkte ja auch das am Freitag, 20. September, vorgestellte „Klimapaket“ der Bundesregierung. Als wäre den versammelten Ministerinnen und Ministern völlig der Mut abhanden gekommen, Zukunft zu denken.

Obwohl der Klimawandel zum Zukunft-Denken zwingt. Da wird dann gern von neuen Technologien geredet. Aber statt einen mutigen Fahrplan aufzulegen, flüchtet sich die ministerielle Riege wieder in ein völlig überteuertes Vertröstungsprogramm – genauso wie vor einem halben Jahr erst die Kohlekommission. Als gäbe es in diesen Regionen niemanden mehr, der sich ein kohlefreies und modernes Deutschland denken kann, das den Klimaschutz mit einem mutigen Technologiesprung verbindet.

Das brachten am Montag, 23. September, die „Scientists For Future“ in ihrer Kritik am Klimapaket zum Ausdruck.

Die Kritik von „Scientists For Future“:

„Die vorgestellten Maßnahmen im Klimapaket der Bundesregierung sind absolut ungenügend und werden der Dringlichkeit der Klimakrise sowie den anzustrebenden Reduktionszielen nicht gerecht. Offensichtlich ignoriert die Regierung die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel und dessen Auswirkungen. Deutschland kann und muss als wohlhabende europäische Industrienation weltweit mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass Klimaneutralität und Wohlstand kein Widerspruch sind. Das politische Leitmotiv, möglichst wenig am Status Quo zu ändern, wird durch höhere Kosten und menschliches Leid vor allem in den Ländern des Südens und für die heute jungen Menschen erkauft. Nur mit einem ambitionierten Klimapaket ist der Aufbruch in eine CO2-neutrale Gesellschaft möglich.

Die CO2-Reduktionsziele der Bundesregierung reichen bei weitem nicht aus, um den deutschen Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel des Pariser-Klimaabkommens zu leisten. Der Maßnahmenkatalog des Klimapakets ist inkonsistent und es fehlt an ausreichendem Willen, um Innovationen in CO2-arme Produkte und den nötigen gesellschaftlichen Umbruch anzustoßen. Wissenschaftliche Analysen im Auftrag der Bundesregierung zeigen, dass insbesondere der vorgesehene CO2-Preis kurz- und langfristig deutlich zu niedrig angesetzt ist, um Steuerungswirkungen entfalten zu können.

Das Klimaschutzpaket hätte zeigen können, dass der Aufbruch in eine klimaneutrale Zukunft sozial gerecht ausgestaltet werden kann. Diese historische Chance hat die Bundesregierung vertan. Scientists for Future fordert die Koalition aus CDU/CSU und SPD deshalb dringlich auf, bis zur Weltklimakonferenz im Dezember ihre Maßnahmen wirksam an den notwendigen, wissenschaftlich gut belegten Erfordernissen auszurichten. Wir unterstützen die Bundesregierung dabei gern mit wissenschaftlicher Expertise.“

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Und das alles hat Folgen, die wir ja in Sachsen schon lange besichtigen können. Denn wenn eine mögliche andere Zukunft nicht mehr greifbar ist, weil sie politisch überhaupt nicht mehr zur Sprache kommt, dann entsteht jene Dunstglocke, in der Menschen politisch abdriften in geradezu obskure Ängste und Befürchtungen.

Ein Thema, auf das in der „Zeit“ vom 23. September Matthias Lohre in seinem Beitrag „Ich leide, also bin ich“ einging. Es ist ein Ausschnitt aus seinem Buch „Das Opfer ist der neue Held. Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben“, in dem er ergründet, warum sich die Anhänger Trumps oder auch die Wähler der AfD so auffällig in eine immer neue Opferrolle flüchten. Natürlich hat das etwas mit dem radikalisierten Egoismus in unserer Konsumgesellschaft zu tun. Wenn nur noch das siegreiche Ego gehätschelt wird, geht der komplette Kitt einer Gesellschaft verloren. Denn Geld, Macht und Besitz machen nicht glücklich, sind nicht mal funktionierende Placebos und können eines einfach nicht ersetzen: menschliche Nähe, Verständnis, Freundschaft, das Gefühl, akzeptiert zu sein.

Im Gegenteil: Eher ist es ein Wunder, dass die AfD nicht noch mehr Menschen einsammelt, die aus dem Gefühl, abgeschrieben und nicht mehr gewollt zu sein, nicht mehr herauskommen. Sie kommen aus ihrer passiven Haltung zur Welt nicht mehr heraus und suchen nicht nur immerfort Schuldige für ihre als deprimierend und unveränderbar empfundene Situation, sondern nutzen jede Möglichkeit, ihr Nichtgehörtwerden zu beklagen. Selbst dann, wenn sie im Mittelpunkt stehen und alle ihnen zuhören. So wie dem schreienden Kind, das die ganze Familienfeier zum Abstürzen bringt, weil es mit aller Lautstärke einfordert, dass sich jetzt alle auf das Kind zu fokussieren haben. ALLE!

Sorry: ALLE!!!

„Diese Opfer suchen keine Lösungen, sondern Schuldige“, schreibt Lohre. „Doch ihre Vorwürfe gegen ,Systemmedien‘, ,Regimes‘ oder ,alte, weiße Männer‘ können ihnen niemals die Genugtuung schenken, nach der sie sich sehnen. Anstatt sich den tieferen Ursachen ihrer Not zu stellen, machen sie andere für ihre unverstandenen Seelennöte verantwortlich. Das Böse lauert immer irgendwo da draußen. ,Opfer‘ sind nicht einfach die anderen. Als Opfer können wir alle uns fühlen, wenn wir nicht verstehen, was uns ängstigt.“

Ein psychologisches Moment, das uns direkt zurückbringt an den Ausgangspunkt: die völlig abwesenden Visionen einer seit Jahren regierenden Partei, die alles dafür tut, die aktuellen Zustände für „alternativlos“ zu erklären.

Wer aber die Gegenwart mit all ihren Verrenkungen für alternativlos erklärt, der versucht eine Zukunft zu malen, in der alles immer so weitergeht. Der setzt eine unveränderliche Welt zum Dogma und suggeriert den Wählern gleichzeitig, dass sie überhaupt nichts tun und überhaupt nichts ändern können. Dass sie machtlos sind. Politik wird quasi zum steingewordenen Denkmal ihrer selbst. Und zur Nicht-Kommunikation. Sämtliche politischen Phrasen werden zu Watte. Die Medienmeute stürzt sich freudig auf jeden Versprecher, um überhaupt noch Greifbares zu bekommen.

Und beim Thema Klimawandel wird es nur zu greifbar, dass gerade junge Menschen nicht mehr bereit sind, eine Zukunft hinzunehmen, die einfach keine ist. Schon gar keine selbst gestaltete. Das hält kein Mensch aus. Kein Mensch, nirgends. Keiner in der Lausitz und keiner in Afrika, keiner in Trump-Land und keiner im brexit-zerbeutelten England.

Da passt ein Zitat, das mal kein Politiker gesagt hat, sondern der Arzt Albert Schweitzer: „Ich will unter keinen Umständen ein Allerweltsmensch sein. Ich habe ein Recht darauf, aus dem Rahmen zu fallen – wenn ich es kann. Ich wünsche mir Chancen, nicht Sicherheiten. Ich will kein ausgehaltener Bürger sein, gedemütigt und abgestumpft, weil der Staat für mich sorgt. Ich will dem Risiko begegnen, mich nach etwas sehnen und es verwirklichen, Schiffbruch erleiden und Erfolge haben. Ich lehne es ab, mir den eigenen Antrieb mit einem Trinkgeld abkaufen zu lassen. Lieber will ich den Schwierigkeiten des Lebens entgegentreten, als ein gesichertes Dasein führen; lieber die gespannte Erregung des eigenen Erfolgs, statt die dumpfe Ruhe Utopiens. Ich will weder meine Freiheit gegen Wohltaten hergeben, noch meine Menschenwürde gegen milde Gaben. Ich habe gelernt, selbst für mich zu denken und zu handeln, der Welt gerade ins Gesicht zu sehen und zu bekennen, dies ist mein Werk. Das alles ist gemeint, wenn wir sagen: Ich bin ein freier Mensch.“

Solche Menschen findet man in unseren konservativen Parteien nicht mehr. Sie würden sonst verstehen, warum die Provinzen so wegkippen und so viele Ostdeutsche vor allem bejahen, wenn sie gefragt werden, ob sie sich als Bürger 2. Klasse fühlen.

Sie könnten auch sagen: „Wir fühlen uns als ausgehaltene Bürger.“ Oder als kaltgestellte Bürger, Bürger, die auf keinen Fall stören sollen, wenn weiter nur Politik für eine Vergangenheit gemacht wird, die nicht mal bereit ist, Gegenwart zu werden. Bürger, die sogar zu Recht das Gefühl haben, dass es manchmal wieder „wie in der DDR“ ist. Auch wenn sie dann meistens nur über „die da oben“ schimpfen. Aber zum Grundgefühl in der DDR gehörte nun einmal auch, nicht gefragt zu werden, nur ein „ausgehaltener Bürger“ zu sein.

Das hat mehrere Seiten. Da geht es um echte Bürgerbeteiligung, wirklich gelebte Demokratie, da geht es aber auch um die Herausforderung, den Bürgern Veränderungen zuzumuten. Veränderungen, die als gemeinsame Aufgabe und Herausforderung gesehen werden, als Arbeitsaufgabe. Aber dazu braucht es mutige Politiker, die nicht schon dann hinschmelzen, wenn sie auch nur einen kleinen Gedanken an die „Wählergunst“ verschwenden. Und jede neue Wählerumfrage macht ja diese Gefühligkeiten sichtbar, verschränkt Regierende und Regierte in einer Patt-Situation, in der sich keiner mehr was traut, weil es dafür beleidigte Abwendung hagelt.

Das ist die Kehrseite der Wohlstands- und Entmutigungspolitik. Und es ist der Grund für die Zukunftsangst, die ein Viertel unserer gepamperten Wohlstandsgesellschaft derart hat abdriften lassen in eine frühkindliche Trotzhaltung, die nicht wahrhaben will, dass sich alles verändert. Sogar dann, wenn Trotzköpfchen verzweifelt schreit: „Ich will nicht! Ich will nicht! Ich will nicht!“

Die Reihe „Nachdenken über …

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