In dieser Woche brachte die „Zeit“ so eine Art Glosse, einen recht überdrehten Text, in dem die Autorin sich mit den Nöten ihrer Bekannten auseinandersetzte, ihrer brüchigen Lebensfreude und dem, was da unterschwellig bei so vielen mitzuschwingen scheint. So ein permanenter Zweifel, ob ihr Leben eigentlich einen Sinn macht. Und die Angst, es könnte sinnlos sein. Kennen Sie auch? Prima. Es ist eine Denkfalle.

Eine, die in unserer Gesellschaft sehr gepflegt wird. Gern mit einem feinen religiösen Touch und einem stillen Vorwurf an die Ungläubigen, sie würden gar nicht wissen, worum es geht, wenn sie nicht felsenfest daran glauben, dass es etwas Höheres über uns gibt, das dafür sorgt, dass die Welt und jedes menschliche Leben einen Sinn hat. Also „zu etwas gut ist“ oder „für etwas da“. Reihenweise raufen sich dazu ja Prediger und Propheten in der Bibel die schlohweißen Haare. Bis auf einen.

Aber der kommt erst im Neuen Testament vor – und musste feststellen, dass nicht mal seine zwölf Jünger begriffen, worum es ihm eigentlich ging. Warum er ihnen jeden Tag aufs Neue erzählte: „Ihr müsst keine Angst haben.“

Die Angst kennen viele. Und gerade bei Gläubigen wird sie noch extra befeuert durch diverse phantasievolle Heilserwartungen, Projektionen auf die Zeit nach dem Tod und „das Leben danach“. Aus dieser Perspektive ist nichts fürchterlicher als die Vorstellung, das Leben davor könnte das einzige und richtige sein. Tiefgläubige Menschen sollen wohl auch sehr viel Trost aus der Vorstellung ziehen, dass es doch noch ein Leben danach geben soll, wo dann alles ausgestanden ist und man sich nicht mehr sorgen muss.

Der Bursche aus Nazareth sagte ja nicht nur „Fürchtet euch nicht.“, sondern auch: „Liebet euren Nächsten wie euch selbst.“

Sich selbst sollten sie auch lieben. Haben sie das getan? Haben Sie begriffen, dass ihnen just dieser Jesus sagte, sie sollten aufhören, immer nur auf das Himmelreich hin zu leben und sich zu kasteien, um die unberechenbare Gnade eines unfassbaren Gottes zu erlangen? Hier und jetzt ist euer Leben, hätte er auch sagen können. Macht was draus. Fangt an zu leben. Und wir wissen nicht, ob er es nicht gesagt hat. Uns liegen ja die Nachrichten über sein Leben nur in mehrfach redigierter Form vor. Die Bibel-Texte wurden mehrfach rundgeschliffen und zurechtgestoßen, bis sie zu einer Kirche passten, die die Sache mit dem „liebe deinen Nächsten“ nicht so gern in den Mittelpunkt stellte.

„Seht die Vögel im Himmel …“, auch das hat der Bursche gesagt. Und man kann seine ganzen Reden und Predigten gegen den Strich lesen und sieht einen Prediger, der den Zuhörern predigt, dass ihr eigenes, kleines Leben hier auf Erden das Wertvollste ist, was sie haben. Und dass sie es wieder lernen sollten zu schätzen, zu lieben und … zu leben.

Aber augenscheinlich sitzt die andere Botschaft bis heute viel tiefer. Die Botschaft jener Priester, die den Menschen gefügig haben wollten, untertänig und gottgehorsam. Was immer bedeutete: priestergehorsam und königgehorsam. Also das Gegenteil von gelassen sein. Denn wer fortwährend die Erwartungen anderer und Höherer erfüllt, ist nicht gelassen, sondern getrieben. Der lebt ein Leben lang im Zweifel, ob er alles richtig und recht gemacht hat.

Denn die Frage nach dem Sinn des Lebens ist die Frage nach bedingungsloser Unterordnung. Man wird nur zum „gerechten Mann“, wenn man die Erwartungen des Gesetzes, des Staates und der Obrigkeit erfüllt. Wobei man nie weiß, ob einem das gelingt … immerfort lebt der Zweifel. Der ständig nagende Verdacht, ob man nun alles gottgefällig getan hat, ist im Grunde der umgekrempelte Verdacht, der jeden Menschen in unserer Zivilisation umtreibt: Hab ich nun so vorsichtig gelebt, dass ich nicht mit den Gesetzeshütern in Konflikt komme?

Wer behauptet, er habe vor den oft unberechenbaren Launen des Staates, der Ordnungshüter und der Mächtigen im Land keine Angst, der schwindelt.

Aber wer gibt einem Leben dann eigentlich einen Sinn?

Oder ist der Sinn von vornherein gegeben?

Natürlich sind das abwegige Fragen, die voraussetzen, es gäbe da irgendwo ein Hohes Gericht, das bewertet, ob unser kleines Leben in irgendeinem Rahmen einen Sinn hat. Aber in welchem Rahmen?

Wer sich mit diesen Fragen plagt, kommt tatsächlich in Teufels Küche. Denn die ehrliche Antwort auf alle diese Fragen lautet: Das Leben hat keinen Sinn.

Es hatte keinen Sinn, als es vor 3 Milliarden Jahren auf der Erde entstand. Und es hat auch vor 12.000 oder 2.000 Jahren keinen dazubekommen. Darüber haben die besten unserer Philosophen ihr Leben lang nachgedacht. Die Quintessenz lautet eigentlich – nach Immanuel Kant, etwas abgewandelt: Lebe so, dass du jedem Menschen, dem die begegnest, ohne schlechtes Gewissen in die Augen sehen kannst.

Das ist schon recht nah an diesem: „Liebe dich selbst …“

Weil man dann nämlich ein Leben in Achtung vor dem Lebendigen lebt.

Wir leben zwar mittendrin in einer lebendigen Welt. Aber der Blick in den gewaltigen Kosmos zeigt: Wir sind allein. Das Leben auf diesem Sternenstäubchen ist etwas ganz Besonderes, ein ganz seltener aufregender Prozess, der physikalisch und chemisch in Gang kommt, wenn die richtigen Masse-, Chemie- und Energieverhältnisse herrschen. Möglich, dass ein gleicher Prozess auch noch irgendwo da draußen auf einem ähnlichen Sternenstäubchen in Gang gekommen ist. Selbst wenn es so ist, werden wir es allein augrund der enormen kosmischen Entfernungen wohl nie erfahren.

Deswegen bleibt dieses erstaunliche Inselchen des Lebens etwas Besonderes und Außergewöhnliches. Ein Grund zum millionenfachen Staunen (und zum Besorgtsein, dass es die Idioten unter uns einfach kaputt machen.). Und zum doppelten Staunen, weil: Es ist einfach passiert. Als alle notwendigen Voraussetzungen da waren, begann dieser Prozess, der immer neue, immer komplexere, immer faszinierendere Tiere und Pflanzen hervorgebracht hat.

Den berühmten Garten Eden, in dem alles „wie für uns gemacht“ schien. Obwohl wir nur auf eine trotzdem beeindruckende Weise in diesen Garten Eden passten. Wir sind die Angepassten. Doch viele von uns haben nie gelernt, über dieses Einmalige und Faszinierende zu staunen – und es einfach wertzuschätzen, weil es da ist. Völlig ohne einen aufgesetzten Sinn.

Und damit kommen wir zur Destruktion der Quatsch-Formel vom „Sinn des Lebens“, die so mega-philosophisch klingt, es aber nicht ist.

Denn Leben ist – und junge Eltern wissen es nur allzu gut – ganz allein nur ein Geschenk. Ein Geschenk, das darin besteht, dass wir für ein paar wenige Jahrzehnte mit hellwachen Sinnen in einem Garten Eden leben und ihn staunend erkunden können. Das macht das, was man so landläufig Bewusstsein nennt. Wir sind das einzige Tier auf Erden, das sich der Tatsache bewusst ist, dass es auf dieser Erde lebt, was diese Erde ist und – ach ja – dass dieser „Aufenthalt auf Erden“ begrenzt ist. Eine furchtbar kurze Zeitspanne, die wir oft mit dem schlimmsten Blödsinn, mit Langweilern, Stockfischen, Knallchargen und Scheinheiligen verbringen. Von denen wir uns die schönsten Stunden, Tage und Jahre versauen lassen.

Meist versuchen sie uns ihren „Sinn des Lebens“ aufzudrücken, allen möglichen Quatsch von falscher Erfüllung, Befriedigung und Karriere. Und wir sind fortwährend gehetzt, uns Dinge zuzulegen, von denen plärrende Teppichverkäufer behaupten, wir bräuchten sie für unser Seelenheil.

Wir sind ständig außerhalb unseres Selbst. Und sollen es auch sein. Denn Menschen, die sich nicht fortwährend mit falschen Versprechen ködern lassen oder wie blöde der Frage nach dem „eigentlichen Sinn des Lebens“ hinterherhecheln, sind nicht mehr verführbar. Sie wissen, dass hinter dem ganzen Budenzauber nichts steckt als heiße Luft und Schwefelgestank.

Sie verzichten auf die Hatz. Denn sie haben Zeit, die falsche Frage aus ihrem Kopf zu schmeißen und dafür die richtige zu stellen. Denn wenn Leben ein Geschenk ist (und selbst im ökonomischen Sinn ist es eins), dann hat es keinen Wert und keinen Sinn. Dann IST es einfach. Und das ist mehr, als alle Teppichverkäufer einem jemals aufschwatzen können. ES braucht keinen von außen auferlegten Sinn. Es ist schon deshalb unbezahlbar, weil es ist.

Und – das kommt für uns als homo sapiens dazu – wir können es bewusst wahrnehmen. Wir können uns zwar ans Teichufer setzen und die dumme Frage stellen: Wozu ist das alles da?

Aber wer es mal versucht hat, weiß: Die Frage macht nur Kopfschmerzen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass all das irgendeinen höheren Zweck haben sollte.

Es ist. Und es vergeht. Und wir sind noch – im Unterschied „zu allem Getier auf Erden“ – mit einem Gehirn gesegnet, das in der Lage ist, das alles zu sehen, zu ergründen und verstehen zu wollen. Die falsche Antwort lautet dann immer: Es habe diesen und jenen Sinn …

Nein. All das hat keinen Sinn. Es ist. Und dass wir es erleben dürfen, ist ein grandioses Geschenk. Dafür dürfen wir dankbar sein – aber lieber unseren Eltern und dem fantastischen Reichtum der Natur, als einer nicht greifbaren strengen Instanz, die uns immerfort wiegt „und für zu leicht befindet“.

Wem steht denn das zu?

Niemandem.

Eigentlich ist es erstaunlich, dass sich Menschen ihr Leben lang dabei zermürben können, dass sie nach dem Sinn darin suchen. Und verzweifeln, wenn sie ihn nicht finden.

Aber es ist nun mal so: Was nicht da ist, kann man auch nicht finden.

Man fällt bestenfalls auf die dummen Versprechungen dummer Propheten herein, die einem den „Himmel auf Erden“ versprechen und vielen Leichtgläubigen beibringen, das, was da ist, sei nicht wert zu bleiben. Nietzsche war so ein fauler Prophet, auch wenn er bei einigen Leuten heute wieder selige Anbetung genießt.

Dass man sich fürchtet – das ist normal. Julian Barnes hat ein ganzes schönes Buch darüber geschrieben. Aber er ist Engländer und fürchtet sich ganz bestimmt nicht davor, dass sein Leben keinen Sinn haben möchte, sondern vor dem Tod. Eigentlich auch eine ziemlich schräge Angst, wenn man schon früh im Leben damit beginnt. Aber wenigstens verständlich, denn dass unser größtes Geschenk endlich ist, das ist gewiss. Man kann also auch Angst bekommen, zu wenig von allem gesehen zu haben, bevor es so weit ist.

Aber vor einem sinnlosen Leben hat Julian Barnes keine Angst. Denn den Sinn gibt jeder seinem Leben selbst. Wir erfüllen es mit Sinn, der durchaus auf anderes und andere gerichtet ist. Wir arbeiten für unsere Lieben, für unsere Gesellschaft, für das Überleben der Wälder, wir pflegen Mitmenschen, bauen Getreide an, bauen Häuser, retten Bienen und Schmetterlinge. Wir säen Blumen an und Radieschen, füttern die Katzen, Hunde, Meisen, Pferde, sorgen uns um das, was andere auch gern mal „Schöpfung“ nennen.

Es gibt genug Möglichkeiten, dem eigenen Leben einen klaren Sinn und ein schönes Ziel zu setzen. Eines, das in unserer kurzen Lebensspanne erreichbar ist. Und das uns auch dann noch tröstet, wenn wir merken, dass das Ende naht – und wir dennoch wissen: Was wir haben tun können, haben wir getan. Genauso wie dieser seltsame J. aus N., der am Ende wohl ziemlich verstört gewesen sein muss, als er merkte, dass nicht mal seine besten Freunde begriffen, was er von ihnen wollte.

Die Mächtigen sowieso nicht. Die sind meist selbst blind wie die Maulwürfe und „wissen nicht, was sie tun“. Keine guten Wegweiser für ein sinnerfülltes Leben. Aber allgegenwärtig, wenn es darum geht, den „kleinen Kinderlein“ Angst zu machen und einzureden, ihr Leben habe keinen Sinn, wenn sie nicht …

Was für eine Anmaßung. Aber eine, mit der eine ganze Gesellschaft gefügig gemacht werden kann und Ängste gedeihen.

Geben Sie Ihrem Leben selbst einen Sinn. Das ist der beste Rat, den man geben kann. Machen Sie was draus. Es ist – pardon, aber es stimmt so – Ihr Leben. Es gehört Ihnen, Sie müssen niemandem dafür Rechenschaft ablegen – nur sich selbst, ihrem Herzen und ihrem guten Gewissen. Oder mit Herrn J. gesagt: „Liebet Euch selbst wie Euren Nächsten.“

Die ganze Reihe „Nachdenken über …“

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