Es verblüfft schon, dass man augenscheinlich eine gewisse Distanz zum Zentrum des westlichen Weltgeschehens braucht, um die Dinge unverstellt zu sehen, die liebe Not, in der immer mehr Menschen in immer mehr Ländern stecken. Eine Not, die sich landläufig Modernisierung nennt. Die so niemals gelingen kann, wie der indische Schriftsteller Pankaj Mishra feststellt. Na hoppla: Kennen wir das nicht schon? Ganz ähnlich hat sich ja auch schon die indische Autorin Arundhati Roy geäußert („Der Gott der kleinen Dinge“).

Und sie hat – zum Beispiel in „Die Politik der Macht“ – sehr genau begründet, warum der Terror im Nahen und Fernen Osten nichts anderes ist, als das Spiegelbild dessen, was der imperiale Druck des Westens (insbesondere der USA) in der Welt bewirkte. Denn ihren Anspruch, „Demokratie und Menschenrechte“ und „freien Zugang zu den Märkten“ weltweit durchzusetzen, haben die westlichen Staaten immer auch mit Waffengewalt durchgesetzt.

Zusätzlich zum sowieso schon bestehenden Modernisierungsdruck, der die alten familiären und zum Teil noch halbfeudalen Verhältnisse in den Entwicklungs- und Schwellenländern aufbrach und Menschen und Material einem Moloch dienstbar machte, den man so landläufig Globalisierung nennt.

Ohne sich wirklich klarzumachen, was es heißt, wenn Millionen junger Menschen in Staaten „an der Schwelle“ dazu gezwungen werden, die alten Lebensstrukturen und Familienverbände zu verlassen, sich zu bilden und in den Wettbewerb um eine auskömmliche Stelle zu gehen. Nirgendwo ist das wohl anschaulicher zu erleben als im Riesenstaat Indien.

Aber es gilt für die ganze Welt. Denn wenn Globalisierung nicht heißt, dass überall auf der Welt auskömmliche Arbeitsplätze für alle entstehen, dann sind Millionen junger Menschen zwangsläufig auch Verlierer in diesem Wettbewerb.

In einem langen, lesenswerten Interview auf „Zeit Online“ geht Pankaj Mishra auf das Thema ein, das auch sein neues Buch „Das Zeitalter des Zorns“ bestimmt: „Die jungen Männer dort sind teils ausgebildet, um in den Städten in Fabriken oder ähnlichem zu arbeiten. Allerdings verfügen diese Gesellschaften meist weder über das wirtschaftliche Wachstum noch über die politischen Institutionen, um alle diese jungen Männer zu integrieren. Dadurch entsteht ein riesiger Frust, weil massenhaft Ambitionen ins Leere laufen. Es sind genau solche jungen Männer, die traditionell empfänglich sind für nationalistische Bewegungen, militante Anarchisten und Demagogen, die zum Kampf aufrufen.“

Und er kommt darauf zu sprechen, dass das auch zur Geschichte der westlichen Staaten gehört. Sie sind allesamt nicht friedlich in ihr kapitalistisches Wohlstands-Stadium hineingewachsen. Im Gegenteil. Das 19. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der „zornigen jungen Männer“ gewesen, der scharfen sozialen Konflikte und der fast blinden Reaktion der Herrschenden, die Konflikte in Kriege abzubiegen. Im 20. Jahrhundert dann gar in zwei der fürchterlichsten Kriege der Weltgeschichte.

Und das alles haben wir tatsächlich fast vergessen.

Es ist überlappt durch eine große und falsche Erzählung von den zwei konkurrierenden Systemen, vom Gleichgewicht der Supermächte und der Reduzierung auf eine völlig falsche Gegenüberstellung von finsterem Kommunismus hier und rabiatem Kapitalismus da. Was die tatsächlichen Konflikte in unserer Gesellschaft für die Meisten völlig unsichtbar gemacht hat. Obwohl sie sich beim Brexit genauso zeigten wie in der Präsidentenwahl der Franzosen, bei allen Terroranschlägen in europäischen Großstädten genauso wie beim zunehmend nationaler werdenden Tonfall der Politik.

Es ist eine Erzählung, die eben nicht nur die vielen Millionen in den Schwellenländern oder gar den armen Staaten Afrikas oder Asiens betrifft. Auch Europa kennt die Millionen Chancenlosen, die schon mit der Geburt durch die Raster fielen und auch nie die Bildungs- und Karrierechancen bekamen, die für Mitglieder der glücklichen Mitte so normal wirken.

„Vielmehr hat das mit jungen Männern in ausweglosen Verhältnissen zu tun, die versuchen, Gefühle von Wut und Machtlosigkeit mit spektakulären Gewaltakten zu überwinden“, sagt Mishra.

2014 hat Mishra übrigens für sein Buch „Aus den Ruinen des Empires“ den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung bekommen. Er beschäftigt sich – auch als Journalist – schon seit langem mit der Frage, was eigentlich das imperiale Auftreten des Westens mit dem aufkommenden Terrorismus zu tun hat.

Seine These erinnert an eine These von Hans-Joachim Maaz, die er zum Beispiel in „Die narzisstische Gesellschaft: Ein Psychogramm“ darlegte. In anderen soziologischen Theorien taucht das Thema als „narzisstische Plombe“ auf. Den Psychologen und Soziologen ist sehr wohl bewusst, dass die Dienstbarmachung des Menschen in der zunehmend perfektionierten Welt des Kapitals ganz und gar nicht konfliktfrei ist. Dass den enormen Ansprüchen an die Arbeitsuchenden eigentlich auch die berechtigte Erwartung gegenübersteht, dass den Ansprüchen an Einsatzbereitschaft, Mobilität, Bildung, Flexibilität, Verzicht auch eine angemessene Belohnung gegenüber steht. Die von enormem Leistungsdruck geprägte Gesellschaft verschafft sich eine friedliche Zustimmung, indem sie ihre Mitglieder am (wachsenden) Wohlstand teilhaben lässt.

Was sie übrigens (in den herrschenden Interpretationen) zu immer mehr Wachstum zwingt.

Meist auf Kosten anderer Menschen und Länder. Wir externalisieren die Kosten eben nicht nur unseres Lebensstils, sondern auch unseres ganzen Produktionssystems. Oder haben es bislang versucht.

Denn die andere Seite der Globalisierung heißt nun: Wir haben praktisch alle Länder der Erde gezwungen, bei unserer Art des Wirtschaftens mitzumachen, haben Millionen Menschen (Millionen junger Männer) aus alten Familienverbänden herausgeholt – und nun sind sie da, kommen nicht rein und versuchen ihre Ohnmacht zu artikulieren. Nicht nur in Frankreich und Belgien.

Und statt Lösungen dafür zu suchen, uns dieser durchaus mächtigen Ohnmacht bewusst zu werden, tun wir so, als fühlten wir uns durch diese Menschen nur gestört, genervt, von den Flüchtlingen erst recht, die aus von Bürgerkriegen zerfetzten Ländern versuchen, nach Europa zu kommen. Länder, die allesamt auch daran gescheitert sind, den Schritt in eine Moderne mit Wohlstand für alle zu gehen. Manchmal haben europäische und amerikanische Bomben auch noch nachgeholfen.

So haben wir dann auch noch die Probleme im Kopf ausgelagert: Die da unten sind schuld an ihrem Schicksal.

Ohne auch nur diesen kleinen, aber nötigen Lückenschluss herzustellen: Globalisierung heißt eben auch, dass wir uns nicht nur die ganze Welt verfügbar machen. Wir sind auch für alles mit verantwortlich, was unsere Art von Wirtschaften und Leben dort anrichten. Nicht nur über fair gehandelte Waren oder importierte Bodenschätze. Auch durch den – von unserem Wirtschaftsdenken – verursachten Druck auf die Millionen, eigentlich Milliarden junger Menschen da unten und da draußen, die schon mit dem billigsten Smartphone sehen können, was es zu erreichen gilt – wenn man sich nur auf den Weg macht.

Unser Lebensstil geht als Verheißung in die ganze Welt, wir lassen Millionenheere dafür arbeiten.

Und dann bauen wir Mauern? Wer ist da bekloppt? Die da? Oder doch eher unsere eigenen politischen Schlafmützen, die nun seit über 40 Jahren ein Wirtschaftsdenken predigen, das hinten und vorne nicht stimmt, das 90 Prozent der ökonomischen Wirklichkeit einfach ausblendet?

Mishra: „Die Folgen dieses Vergessens sind katastrophal. Speziell nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 hat sich eine extrem einfältige, ökonomisch geprägte Vorstellung des Menschen etabliert, derzufolge wir allein unserem wirtschaftlichen Eigeninteresse folgen und dadurch einen Beitrag zum Gemeinwesen leisten.“

Das aber funktioniert nicht. Oder besser: Es funktioniert nur für die Wenigen, die es auf die begrenzte Zahl der Gewinnerplätze schaffen. Die große Mehrzahl schaut in die Röhre, sieht alle Träume zerplatzen, alle Anstrengungen sind umsonst.

Und das beträfe eben nicht nur die jungen Männer aus der „anderen Welt“, betont Mishra zu Recht. Das gilt auch nach wie vor für die westlichen Gesellschaften – und es tobt sich immer öfter auch ganz irrational aus. So wie bei Trumps Wahlsieg. Den Frust seiner Wähler hat er schon genau getroffen – auch wenn er dann nach dem üblichen Schema genau das Gegenteil dessen macht, was viele dieser frustrierten „angry white men“ eigentlich erwartet haben. Man kann mit diesem Frust sehr leicht spielen – neue Täuschungen aufbauen, neue falsche Versprechungen machen (wie in Großbritannien mit dem Brexit).

Aber was kommt nach der nächsten Enttäuschung? Nach dem nächsten „starken Mann“?

Mishra geht dann auch noch auf die beiden Pole der Aufklärung ein (Voltaire und Rousseau) und die (falsche) Erwartung, es wäre das Volk, das aufgeklärt und vernünftig werden müsste. Aber es ist wie so oft: Der Fisch stinkt vom Kopf her. Und wenn es nicht mal die politischen Eliten schaffen, vernünftig zu sein, wie soll es da „der große Lümmel“ sein, dem es ja bekanntlich meist erst einmal nur ums Essen, ein Dach über dem Kopf, Familie und Befreiung von Schulden geht? Der eigentlich ganz simple Dinge will – und dann verblüfft Wahl um Wahl zusieht, wie die Versprechungen sich wieder in Rauch auflösen.

Und das in einer Gesellschaft, in der auch politische Akteure immer öfter mit einer hörbaren Zerstörungslust agieren. Als wäre ihnen nicht einmal mehr bewusst, dass sie mit dem Feuer spielen. Oder als legten sie es direkt darauf an.

Das sind ganz sichtlich die falschen Leute an den Feuertöpfen. Es sieht ganz so aus, als müssten gerade die politisch Verantwortlichen in den westlichen Staaten lernen, vernünftig und aufgeklärt zu agieren. Und vor allem, alles, was sie anpacken, auch global zu denken.

Auch mal aus indischer Warte, um diesen kleinen Zungenschlag noch einzubringen.

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Der “große Lümmel” wählt diese Leute immer wieder (wenn er es denn kann).
Die dann den vermeintlichen Kopf bilden, der da stinkt. Hier wie da. In allen Teilen dieser Welt. Und sie tun das, weil Menschen alle gleich sind.
Wie wir wissen, ändert Bildung daran auch nicht viel (jedenfalls die Bildung, die die “Fischköpfe” darunter verstehen), denn die vermeintlichen Alternativen werden eben nicht von den Un”gebildeten”, den Abgehängten, den Verlierern gewählt. Sondern von denen, die befürchten, bald zu diesen zu gehören.
Die Frage ist vielmehr, was passiert, wenn auch die (vermeintlichen) Alternativen keine sind?
Wird dann ein Einzelner wieder derjenige, der die Lösung bringt? Kein starker Mann, sondern ein “Führer”?
Daß die hiesigen Eliten etwas dazu gelernt hätten, macht nicht den Anschein. Wie im begonnenen Wahlkampf zu beobachten ist. In anderen Gegenden dieser Welt scheint es ähnlich zu sein (sieht man mal von “Exoten” wie Trudeau ab). Auch in denen der Schwellenländer, gar Asien und Afrika. Kann auch gar nicht, denn die dortigen “Eliten” haben ihre Bildung in der westlichen Welt erhalten.

Wie es aussieht, haben wir unser Gruppendenken aus der Steinzeit noch einprogrammiert. Im Großen wie im Kleinen.

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