Für FreikäuferDie Proteste gegen den G20-Gipfel dauerten nur einige Tage, die massiven Ausschreitungen sogar nur wenige Stunden. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben werden, ist noch unklar, aber sie könnten Auswirkungen für viele Jahre haben. Aktuell dominieren vor allem die Stimmen jener, die das Geschehen nur aus der Ferne beobachtet haben. Unser Autor René Loch war vor Ort und schildert im zweiten Teil des G20-Tagebuchs seine Eindrücke von den Blockadeversuchen am Freitag und der folgenden Krawallnacht.
Wer die wichtigsten Staats- und Regierungschefs dieser Welt ärgern wollte, musste am Freitag bereits frühzeitig auf den Beinen sein. Schon um 7 Uhr sammelten sich mehrere hundert Menschen an zwei Treffpunkten. Verschiedenfarbige „Finger“ wollten in die sogenannte blaue Zone eindringen – ein etwa 38 Quadratmeter großes Gebiet in der Hamburger Innenstadt, für das ein komplettes Demonstrationsverbot galt.
An den Landungsbrücken, direkt an der Elbe, trafen sich die Mitglieder des queerfeministischen lilafarbenen „Fingers“ und andere potentielle Gipfelblockierer. Zumindest am Startpunkt war von der Polizei nur wenig zu sehen. Dies änderte sich jedoch bereits nach wenigen Metern, als eine Kette aus Beamten einen ersten Durchbruchsversuch verhinderte und dabei auch Pfefferspray einsetzte. Die Protestierenden flohen in Seitenstraßen, wo viele von ihnen von der Polizei vorübergehend eingekesselt wurden.
Die anderen „Finger“ hatten zunächst mehr Erfolg. Ihnen gelang es mehrmals, Sitzblockaden zu errichten und auf die sogenannten Protokollstrecken zu gelangen – also jene Straßen, die für die Anreise der G20-Gäste eingeplant waren. Im Laufe des Tages berichteten die Medien wiederholt von Auswirkungen auf den geplanten Tagesablauf. So verzögerte sich bei einigen Staatschefs die Anreise und Melania Trump, die Ehefrau des US-Präsidenten, konnte nicht am „Partnerprogramm“ teilnehmen.
Nach einigen Stunden trat auch der „lila Finger“ wieder in Erscheinung. Er kam in der Innenstadt allerdings nicht an der Polizei vorbei. Wenn sich beide Parteien direkt gegenüberstanden, kam es meist zu Rangeleien, die dadurch entstanden, dass die weiter hinten stehenden Personen nach vorne drückten. Während sich die Menschen in der ersten Reihe weitgehend passiv verhielten, reagierten die Beamten teils mit massiver Gewalt und schlugen den Gipfelstörern ins Gesicht.
Diese reagierten mit Parolen wie „Die Gewalt kommt immer von den selben, schwarzer Block mit schwarzen Helmen“.
Zahlreiche Videos belegen, dass es an vielen Orten in der Stadt zu heftiger Gewalt und schweren Verletzungen kam. So ist beispielsweise zu sehen, wie ein Polizist aus einem Auto aussteigt und einer Person, die sich davor gestellt hatte, ins Gesicht schlägt. Auch die Presse geriet ins Visier der Beamten. Eine taz-Korrespondentin schilderte einen Dialog, in dem Sätze fielen wie „Sie haben die längste Zeit als Journalistin gearbeitet“ und „Was Frauen immer so viel labern müssen“.
Im Nachgang wird sich herausstellen, dass 32 Journalisten am Samstag ohne Begründung die Akkreditierung wieder entzogen wurde, offensichtlich aufgrund von Überwachungen seit teils 10 Jahren, nachdem sie in den Kurdengebieten berichtet hatten.
Der „lila Finger“ landete schließlich erneut in einem Polizeikessel – diesmal direkt vor dem Gebäude der „Zeit“. Nach einer halben Stunde durften sich die Personen allein oder in Kleingruppen in unterschiedliche Richtungen entfernen. Die Polizei begründete ihr Vorgehen stets damit, dass innerhalb der „blauen Zone“ keine Versammlungen erlaubt seien.
Wenngleich der Gipfel stattfinden konnte und die Einschränkungen für die Gäste überschaubar blieben, zeigten sich die großen linksradikalen Bündnisse rückblickend zufrieden. Die „Interventionistische Linke“ betonte, dass die Demoverbotszone „praktisch keine Bedeutung“ gehabt hätte und es gelungen sei, „den Ablauf des Gipfels durcheinanderzubringen“. Das kommunistische „Ums Ganze“-Bündnis hatte eine eigene Aktion gestartet und für einige Stunden Teile des Hamburger Hafens blockiert.
In einem Fazit heißt es: „Während der Betrieb des wichtigsten deutschen Hafens zu ‚jeder Zeit gewährleistet‘ sein sollte, braucht die Betreibergesellschaft nun fast drei Tage um den ‚blockadebedingten Rückstau‘ aufzulösen.“
All dies trat in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch sehr bald in den Hintergrund. Am Abend begannen jene Straßenschlachten, die bis heute die politischen Diskussionen in Deutschland bestimmen.
Vom Pferdemarkt bis zur Roten Flora, also über eine Strecke von mehr als 500 Metern Länge, hatte sich die Polizei nach heftigen Auseinandersetzungen für mehrere Stunden komplett zurückgezogen. Zuvor hatte noch ein Wasserwerfer versucht, auf die „Schulterblatt“ genannte Straße zu gelangen. Doch unzählige Flaschen und Steine, die in die Richtung der Polizisten flogen, hinderten ihn daran. Anschließend war von den Einsatzkräften lange nichts mehr zu sehen.
Hunderte Vermummte und viele andere Personen aus unterschiedlichen Spektren legten mehrere große Feuer, zündeten immer wieder Böller, zerstörten Geschäfte und plünderten diese. Das betraf sowohl die Filiale einer großen Supermarktkette als auch die Sparkasse oder kleinere, im Viertel eigentlich beliebte Läden. In der Nacht rückte dann ein Spezialeinsatzkommando der Polizei mit Maschinenpistolen an. Journalisten wurden dazu aufgefordert, ihre Arbeit einzustellen. Ein „Bild“-Reporter schrieb auf Twitter, dass ihm schwere Verletzungen angedroht wurden.
Bereits in dieser Nacht zeigte sich, dass Zusammensetzung der Randalierer und deren Motive bei Weitem nicht so homogen waren, wie es seitdem in großen Teilen der Medien und in den Forderungen vieler Politiker dargestellt wird. Bei den Ausschreitungen in der Nacht von Samstag auf Sonntag sollte dies noch deutlicher sichtbar werden.
Dazu mehr im dritten Teil des Tagebuchs.
Mehr im Leserclub für Freikäufer auf L-IZ.de Teil 1 des Tagebuchs aus Hamburg
G20-Tagebuch (1): Donnerstag – Die Eskalation ging von der Polizei aus
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