Man erlebt ja Zeichen und Wunder. Dass ein Jakob Augstein in seiner โSpiegelโ-Kolumne klug genug ist, zu begreifen, woher der moderne Terror, der Europas Groรstรคdte erschรผttert, tatsรคchlich kommt, das war nach dem neuesten Anschlag in Manchester zu erwarten. Dass aber auch bei der konservativen FAZ ein Groschen fรคllt, das verblรผfft schon. Wachen jetzt unsere bรผrgerlichen Bรผrger auch langsam auf?
Denn das ganze Gefasel von rechts und links โ man kann es nicht mehr hรถren, dieses Wahlkampfgeschwรคtz von Karrieristen, die ihre Karriere fรผr das Maร aller Dinge halten und die zunehmende Zerklรผftung unserer Gesellschaften fรผr eine Lรผge โlinkerโ Wissenschaftler. Die Armut hat sich verfestigt? Ist ja wohl Schwindel, wo doch der Wohlstand so mรคchtig ansteigt in Europa.
Dass aber dieser Wohlstand nicht allen zugute kommt und tatsรคchlich Millionen Europรคer die Veitstรคnze des entfesselten Kapitals tatsรคchlich mit existenzieller Not und echten Existenzรคngsten bezahlen, das will man auf den oberen Etagen der Macht gar nicht so recht wahrnehmen. Ist das nun tatsรคchlich der entfesselte Kapitalismus?
Nicht unbedingt. Da ist etwas Anderes aus dem Lot geraten. Und das hat viel mit dem wachsenden Misstrauen in die politischen Eliten zu tun, die irgendwann vor 30, 40 Jahren alles vom Tisch gefegt haben, was sie mit dem finsteren Krisenjahr 1929 und seinen Folgen einmal begriffen hatten: dass Gesellschaften, die aus dem Gleichgewicht kippen, zur Radikalisierung neigen, dass Armut und Arbeitslosigkeit die Populisten stรคrken, denen dann oft ein Winziges genรผgt, nicht nur die Macht zu รผbernehmen, sondern ein ganzes Land in die Katastrophe zu treiben.
Eine Zukunft haben Gesellschaften nur, wenn sie den Ausgleich hinbekommen. Frรผher war das mal das Lebenselixier ganzer Parteien โ der sozialdemokratischen zumeist. Die machten es sich zur Arbeitsaufgabe, Wohlstand, Bildung, Teilhabe und Chancengleichheit fรผr alle Bรผrger zu verwirklichen.
Nicht nur fรผr die โLeistungsstarkenโ oder die โMitteโ. Fรผr alle.
Ein Konzept, das selbst dem viel geschmรคhten Kapitalismus Jahrzehnte des Aufschwungs brachte und einen Lebensstandard, den zuvor keine Gesellschaft auf der Erde kannte. Alles abgefedert durch gut ausgebaute Sozialsysteme.
Doch das alles ist ins Rutschen gekommen โ und zwar mit jener โmoralischen Wendeโ, die einst Leute wie Reagan und Thatcher einleiteten. Mit dieser neoliberalen Wende wurde das Primat der Politik durch das Primat der Wirtschaft ersetzt. Klรผgere รkonomen warnten vergeblich, denn wer die Machtgewichte derart verschiebt, macht jene zu den eigentlichen Taktgebern der Politik, denen menschliche Hoffnungen, Erwartungen, Maรstรคbe vรถllig egal sind. Da geht es nur noch um Rendite und das Abschaffen stรถrender Regularien.
Auf einmal stehen Leute als Moralapostel im Rampenlicht, die dem staunenden Volke weismachen, es sei zu ihrem besten, wenn man Staaten entkernt, aushรถhlt und
im Managersprech: โeffizienter machtโ.
Jรผngst konnte man diese verlogene Denkweise ja selbst in einer Rede der vรถllig รผberforderten sรคchsischen Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) nachlesen, auf der L-IZ zusammengebunden in: โElite-Denken macht unsolidarisch.โ
Genau das aber zerfrisst unsere westlichen Gesellschaften, die von diversen Kommentatoren gern als libertรคr bezeichnet werden. Aber frei sind Menschen nur, wenn sie tatsรคchlich alle die gleichen Rechte und Chancen haben. Was da aber in den Suburbias von Belgien, Frankreich, Groรbritannien seit nun 30 Jahren brodelt, das ist das Ergebnis manifester Chancenlosigkeit.
Denn รผber Chancen entscheiden nicht mehr Kรถnnen und Fleiร oder Leistung, sondern nur noch Geld und Geburtstatus. So weit haben wir es binnen zweier vom Neoliberalismus geprรคgter Generationen gebracht. Mitsamt dem nur allzu verstรคndlichen Groll auf โdie da obenโ, die politischen Eliten, die es sich ja sichtlich nicht mehr zur Aufgabe gestellt haben, alle Bรผrger in ihren Lรคndern wirklich zu integrieren.
Echte Integration heiรt nun einmal: vรถllige Teilhabe. Kein Getto, keine Absonderung, keine Vererbung von Armut und Unbildung.
Und die Attentรคter der letzen Monate kamen allesamt aus diesem abgehรคngten, abgeschotteten Milieu. Jakob Augstein bringt es (endlich mal) so auf den Punkt: โDer Terror, mit dem wir es zu tun haben, ist kein politisches, militรคrisches oder religiรถses Problem โ sondern ein psychologisches und ein soziales. Der Westen muss den Kampf gegen den islamistischen Terror endlich dort fรผhren, wo er ihn auch gewinnen kann: bei sich zu Hause. In den Banlieus und Suburbs, den Gefรคngnissen, den Moscheen, den Schulen.โ
Und das Verblรผffende ist, dass mit Jochen Buchsteiner jetzt auch ein politischer Redakteur der FAZ zum selben Ergebnis kommt. Was ja wirklich verblรผfft, weil sich die FAZ tatsรคchlich bemรผht, erst gar nicht in den Geruch โlinkerโ Gedankenwelten zu geraten.
Aber die politische Ingenieurtechnik, Gesellschaften so zu gestalten, dass Wohlstand tatsรคchlich fรผr alle da ist und nicht gewaltige Teile der Abgehรคngten und Ausgeschlossenen in die Vorhรถlle der Chancenlosigkeit abdriften, ist nicht rechts oder links.
Wer so vehement auf alles โLinkeโ eindrischt, wie es unsere konservativen Wadenbeiรer seit 30 Jahren tun, der zerstรถrt die Seele unserer Gesellschaft. Ohne eine solidarisch gestaltete Gesellschaft gibt es keine Freiheit. Dann passiert genau das, was George W. Bush mit seinem 2001 eingeleiteten โKrieg gegen das Bรถseโ anrichtete: Dann beginnen Angst und Sicherheitswahn unsere Freiheit aufzufressen und vor allem werden gerade all die Ausgeschlossenen, Entmรผndigten und tatsรคchlich auch Beleidigten sich fragen:
Gehรถre ich eigentlich noch dazu? Wohin gehรถre ich denn?
Auf diese Fragen kรถnnen die meisten unserer Politiker nรคmlich keine Antwort mehr geben. Sie glauben, mit Antiterroreinheiten, mehr รberwachung, Armeeeinsรคtzen im Inneren und Aufrรผstung der Bedrohung Herr werden zu kรถnnen. Doch alles martialische Aufrรผsten nรผtzt nichts. Es verรคndert nicht die Atmosphรคre der Verbitterung, die sich in den vergessenen Vorstรคdten Europas breitgemacht hat. Und sie holt die oft schon in zweiter und dritter Generation Chancenlosen nicht aus ihrer Enttรคuschung heraus.
Oder so geschrieben: Ent-Tรคuschung.
Denn Europa und seine freien Gesellschaften waren lange Zeit auch mal ein Versprechen. Das sich fรผr viele Menschen als Tรคuschung erwiesen hat. Nรคchste Stufe: Betrug. Die goldenen Versprechen wurden nicht eingelรถst. Und das exemplarischste Beispiel dafรผr sind augenblicklich die Parallelgesellschaften in England.
โDie untragbaren Zustรคnde in manchen Vierteln, in denen antidemokratisches Denken und Hass auf die westliche Lebensart gedeihen, sind bestens dokumentiert, sogar in Regierungsgutachten โ aber รคndern tut sich nichtsโ, schreibt Buchsteiner. Und setzt seine Hoffnungen in ein neues Einwanderungsgesetz Theresa Mays. Da kommt das konservative Denkmuster der FAZ wieder durch, in dem man immer erst einmal regeln will und Grenzen setzen, ehe man โฆ ja was?
Das fehlt dann meist. Man bleibt bei โLeitkulturโ hรคngen und tut so, als wรผrden all diese Menschen (und es sind eben nicht nur Muslime) einfach nur nicht Teil der Gesellschaft werden wollen. Bei Buchsteiner mรผndet das in den Satz: โKlarere Grenzziehungen verfolgen allein den Zweck, den Boden auszutrocknen, auf dem Fanatismus gedeiht.โ
Nรถ. Falsch. Hinsetzen, Drei.
Das Problem wurde erkannt, aber die Lรถsung ist falsch. Oder nur halb. Denn dass sich so viele Menschen in Parallel-Kulturen flรผchten, hat ja auch damit zu tun, dass sie dort wenigstens eine Art Halt und Orientierung finden. Diese Welten sind ein Ersatz fรผr die nicht eingelรถsten Versprechungen unserer ach so libertรคren Gesellschaften. Es ist Augstein, der an dieser Stelle Recht hat: Die Suburbias mรผssen โbefreitโ werden.
Womit wir beim zentralen Kern dessen sind, was wir hier Europa-Projekt nennen: Wenn es diese Europรคische Gemeinschaft nicht schafft, ein echtes solidarisches Projekt zu werden, das aller Welt zeigt, wie eine Staatengemeinschaft ihre brennendsten Probleme gemeinsam angeht und Lรถsungen dafรผr entwickelt, dann โฆ
Tja, dann haben die Terroristen alle Spielflรคche, die sie sich wรผnschen. Dann haben sie es tatsรคchlich nur mit einem mit Sicherheitstechnik aufgerรผsteten Moloch zu tun, in dem die meisten Bรผrger nicht mal mehr wissen, was Freiheit und Teilhabe sind.
Deswegen ging Buchsteiner am Ende eben doch wieder am Rockzipfel von Theresa May in die Irre: Erst kommt die Integration, die positive Besetzung dessen, was dieses Europa eigentlich sein kann. Dann kommt die Grenzziehung, was es nicht (mehr) sein soll.
Die konservativen Narren versuchen es nun seit 16 Jahren fortwรคhrend andersherum. Nur eins ist ihnen gelungen: Den solidarischen Teil Europas vรถllig in die Ecke und die Machtlosigkeit zu drรคngen. Ein solidarisches Europa โ das ist sicher โ wird in der Welt wesentlich weniger Aggression auslรถsen.
Und vielleicht endlich das werden, was sich die Grรผndungsvรคter mal dachten: ein Vorbild fรผr andere Regionen.
Die komplette Serie โNachdenken รผber โฆโ
Die komplette Serie โEuropa-Projektโ.
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Es gibt 2 Kommentare
Es gab noch nie ein in diesem Sinne solidarisches Europa. Es gab und gibt und, deutet man die aktuelle Diskussion, wird es auch zukรผnftig kein solidarisches Europa geben.
Der tragende Gedanke, daร, wer miteinander handelt nicht aufeinander schieรt, fรผhrt nicht zu einem solidarischen Europa. Damit verhindert man den Krieg zwischen den Staaten. Aber nicht den in den Staaten.
Ich wollte eigentlich ein Zitat raussuchen, das ich besonders wichtig finde, aber eigentlich ist da jeder Satz wert, zitiert zu werden. Darum Danke fรผrs freischalten. Dummes Gequatsche ist schon viel zu viel unterwegs im Netz, das hier sollte wirklich unter die Leute.