Die größte Angst des besorgten Bürgers sind weder Flüchtlinge noch komplizierte Medien, die er nicht versteht. Auch nicht die Angst vor Muslimen und Moscheen, auch wenn er gern so tut und richtig giftig werden kann dabei. Die größte Angst des besorgten Bürgers ist die vor Kontrollverlust. Aber darüber redet er ganz ungern.
Aber all die Zutaten zu der Welt, die er sich wünscht, sind Instrumente, mit denen man Kontrolle zurückerlangen kann. Oder glaubt, es zu können. Die weiland verstorbene Deutsche Demokratische Republik war eigentlich eine Republik der kontrollierten Bürger. Sie mussten sich um die Dinge da draußen in der Welt nicht sorgen. Dafür sorgten andere – mit einer Mauer, die 28 Jahre lang als das Ausgebuffteste galt, was sich deutsche Kontrollsucht ausdenken konnte, mit maximal kontrollierter Zuwanderung, noch strenger kontrollierter Auswanderung, durchwachsener staatlicher Überwachung und Kontrolle in allen Bereichen. Ach ja: Und der brave Bürger wurde verschont mit solchen lästigen Dingen wie Sorgen um den Umweltschutz, den Fallout eines explodierten Kernkraftwerks, nervenden Zahlen zu Alkoholismus und Versorgungslage …
Das war ein unbesorgtes Leben in einem maximal kontrollierten Staat.
Oder um einmal einen der wichtigsten Buchtitel aus dem Jahr 1989 zu erwähnen: „Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus“ von Rolf Henrich. Schon beim Lesen damals hatte man das mulmige Gefühl: Das trifft doch nicht auf diese Kleineleute-Diktatur im Osten zu. Das ist doch typisch für das kleine deutsche Bürgertum, das in neueren Jahren gern als (neue) Mitte umworben wird, ohne dass die werbenden Parteien wirklich wissen, was das für ein Häuflein ist, wie es tickt und denkt und fühlt. Man ahnt es aber. Und es bricht sich Bahn in alldem, was sich in den letzten Jahren so Reform nannte.
Landauf, landab beklagen sich eine Menge Leute über die wachsende Bürokratisierung aller Lebensbereiche. Immer mehr Formulare müssen ausgefüllt werden. Unternehmen müssen zusätzliche Buchhalter einstellen, um die wachsenden Wünsche der Steuerbehörden, Versicherungen und Arbeitsagenturen zu erfüllen. Das ist papiergewordene Kontrollwut.
Die Kosten am Bau sind explodiert, als der deutsche Gesetzgeber anfing, die Bauvorgaben „zu modernisieren“ und bis ins letzte Schräublein vorzugeben. Es braucht gar keine Gleichschaltung, damit eine kontrollsüchtige Partei ein ganzes Land zum Erstarren bringt. Das schafft der besorgte Bürger schon ganz allein. Denn er wählt immer: Sicherheit und Ordnung.
Lenins Spruch liebt er selbst dann, wenn er Revolutionen verabscheut wie der Teufel das Weihwasser: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Lenin hat zumindest gewusst, dass Kontrolle das Gegenteil von Vertrauen ist: nämlich institutionalisiertes Misstrauen. Wer erst einmal so anfängt, der schafft einen umfassend misstrauischen Staat, der niemandem vertraut und alles kontrollieren will.
Wollen das die besorgten Bürger?
Der Wunsch nach noch mehr Überwachungskameras in öffentlichen Räumen, nach Obergrenzen, Grenzkontrollen und Abschiebungen ist Ausdruck eines umfassenden Verlangens nach Kontrolle. Das nicht neu ist. Es lebt als Gegenbild eines völlig enthemmten Kapitalismus seit 500 Jahren, worauf freundlicherweise dieser Tage einige Medien hinwiesen. Denn die kleine Schrift „Utopia“ von Thomas Morus wurde 500 Jahre alt. Und die „Zeit“ bringt die Vision, die Morus in seinem Utopia schildert, auf den Punkt: „Utopia ist ein Freiluftgefängnis“.
„Das Paradies ist auf schwer erträgliche Weise vollkommen, und selbst große Feste haben etwas organisiert Freudloses. Die Utopie wird unheimlich“, schreibt Thomas Assheuer. Und fühlt sich an das erinnert, was im Osten ab 1917 (na, wer bereitet da schon mal die Feier zu 100 Jahre Oktoberrevolution vor?) verwirklicht wurde. Oder auch in den scheinbar so freien Gesellschaften des Westens an die Oberfläche drängt.
Zunehmende Ängste verwandeln sich in zunehmende Forderungen nach Kontrolle – ablesbar auch an der ganz sächsischen Sehnsucht nach einer „starken Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ (64 Prozent Zustimmung im Sachsen-Monitor) oder der Sehnsucht nach einer „starken Hand“ (ebenfalls 64 Prozent).
Was zwangsläufig in eine Diktatur mündet, aber die wollen nur 11 Prozent.
Der kleine Bürger sieht also gar nicht, wohin seine Wünsche führen. Er möchte nur, dass alles kontrolliert bleibt. Und dass sich nichts ändert. Und vor allem: dass er sich nicht selbst verändern muss. Denn seine scheinbar so hübsch geordnete Welt ist auch eine Welt, aus der er alle Überraschungen ausgemerzt hat. Bis ins ganz Private hinein, was immer dann deutlich wird, wenn über Scheidung, andere Arten der Liebe, andere Arten des Wohnens, der Musik, der Religion gesprochen wird. Alles Fremde, das seine Kreise berührt, ängstigt ihn. Denn er ist nicht mutig, außer, wenn er mit Gleichgesinnten tapfer eine Bürgerwehr bildet.
Assheuer schildert sehr schön, wie Thomas Morus eigentlich den Grundkonflikt seiner Zeit aufzeigt – den brachialen Egoismus, der diese frühkapitalistische Phase in England prägte (und für alle Betroffenen fürchterlich wurde), und den Wunsch, eine Welt der absoluten Gerechtigkeit zu schaffen. Die sich aber schon im Gedankenkonstrukt als gnadenlos erweist. Denn solche Gleichheit ist nur mit Zwang und Kontrolle herzustellen.
Und damit geht alles verloren, was eine Gesellschaft tatsächlich lebendig macht – auch das Anarchische, gerade das Unangepasste, das nicht Gleichgeformte. Und die kleine Überraschung ist vielleicht, dass diese Grundessenz der hingeschiedenen DDR nun in grimmiger Besorgtheit wieder auftaucht. Oder etwas genauer: sich verstärkt. Denn da war das alles schon immer. Als permanentes Beängstigtsein des Bürgers, der sich nicht mehr geborgen fühlt. Ausgesetzt den Winden aus Süden oder Westen.
Morus wusste, was da in Gefahr geriet und zweifelte an seiner eigenen Utopie. Denn eigentlich sind die beiden Welten, die er beschreibt, ja Pole einer Gesellschaft, die sich immer dazwischen befindet. Dazwischen – nicht in der Mitte. Denn permanent neigt sie auch zum Exzentrischen und Extremen – nicht nur, was die üblichen Verortungen links und rechts betrifft.
Über links und rechts sollten wir auch noch nachdenken irgendwann.
Nur so viel an dieser Stelle: Links und rechts sind nur Extreme, wenn man in einer zweidimensionalen Welt lebt. (Stichwort: „Flatterland“ von Ian Stewart, auf Deutsch: „Flacherland“). Menschliche Gesellschaft aber ist multidimensional. Denn wo ordnet man die Pole Kontrolle und Freiheit ein? Beide schließen sich aus – aber sie gehören nicht in die Dimensionen rechts und links. Beide gibt es auch nicht absolut. Und trotzdem werden sie gern verabsolutiert, wird von Leuten (phantasielosen Innenministern zumeist) das Versprechen gepflegt, sie könnten mit mehr Kontrolle die anarchischen Auswüchse der Welt beseitigen. Und sie rüsten auf – in der Bundesrepublik schon seit Jahrzehnten. Jedes Mal gewöhnen sich alle an eine höhere Stufe der Kontrolle und Überwachung. Und dann sorgen neue katastrophale Ereignisse dafür, dass viele laute Leute das Gefühl verbreiten, das genüge nicht mehr oder noch nicht. Und so wird die nächste Stufe implementiert, werden noch größere Kontrollanlagen gebaut und noch mehr Daten gesammelt.
Wer aufgepasst hat, hat gemerkt, dass auch der „Krieg gegen den Terror“ ein Versuch war, Kontrolle zurückzugewinnen. Über ein Phänomen, das die Kontrollsüchtigen bis heute nicht begriffen haben (nachzulesen bei Arundhati Roy: „Die Politik der Macht“). Sie sind in ihren Schleifen gefangen – und in einer fortwährenden Eskalation.
So auch in unserem Lande der heiligen Einfalt, von manchen dieser Dämmerungsbürger auch gern Abendland genannt, christliches noch dazu.
Das klingt nach Dämmerstündchen und Abendfrieden, nach Glockenläuten und dörflicher Idylle. Eine bereinigte Utopie. Die das Chaos quasi weggeschickt hat, abgeschoben anderswohin. Das sind die Träume da bei den Bürgern in der gefühlten Mitte, die in Wirklichkeit provinzieller Rand ist. Auch das merken sie ja: Dass ein ganzer Teil der Gesellschaft einfach nicht auf sie hört und weiter das Anderssein pflegt, das Unkontrolliertsein und Unangepasstsein. Die Pole gehören zu unserer Gesellschaft und heißen auch Gestern und Morgen.
Und zumindest die, die die Veränderungen wagen, wissen, wie unsicher der Boden ist, wie wenig Kontrolle man tatsächlich hat über das, was kommt und geschieht. Und dass man auch eine Menge Mut braucht und Widerstandskraft, wenn man auch nur ein wenig verändern will. Denn das Beharrungsvermögen einer bangen Gesellschaft ist groß. Die Kontrollverliebten vergessen meist, wie viel Kontrolle schon fest eingebaut ist in den Supertanker – und was sie alles verhindert. Auch an Lebendigsein.
Und dass viele junge Menschen aus den idyllischen Landschaften auch deshalb fliehen, weil sie diese umfassende Kontrolle loswerden wollen. Das Idyll ist nicht frei, sondern ziemlich bedrückend, erst recht, wenn die Ängste sich in immer mehr Kontrollsucht verwandeln.
Das macht aber schlicht handlungsunfähig. Da wird jede Veränderung zur Gefahr. Und die so gern gepriesene freiheitliche (nicht: freie) Gesellschaft wird zum schockerstarrten Kaninchen, das die Schatten an der Wand anstarrt und nach einem großen Helfer ruft. In der so gern umworbenen Mitte flackert die Angst. Einer Mitte, die sich für den Nabel der Welt hält und nicht mal begreift, dass jeder Zustand immer nur ein Dazwischen ist. Aber erzähle mal einer einem verschreckten Kaninchen, was „panta rhei“ bedeutet.
Vielleicht kriegt es noch so eine zähneklappernde Übersetzung hin wie: „Alles flieht!“”
Und husch, ist es weg in seinem Bau. Bewacht von allen Segnungen der elektronischen Überwachungskunst.
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