„Wieso zitieren Sie gerade einen reaktionären Autor wie Martenstein?“, fragte „Janine“ im Kommentar zum Artikel „Der kleine, wütende Mann und die Frage nach dem Respekt“. Eine berechtigte Frage. Die ich auch nicht abschwächen würde durch das Wörtchen „streitbar“. Das ist so ein Gummiwort wie „besorgt“. Man könnte Harald Martenstein auch als „besorgten Autor“ bezeichnen oder als respektlosen. Und damit beginnt ja die Farce.
Hinter der sich auch eine ganze Reihe von Autoren verstecken, die so tun, als wären sie kritisch und würden sich auch ernsthaft mit Zeitphänomenen beschäftigen. Aber tatsächlich bieten sie seit Jahren schon das Futter, das in den öffentlichen Debatten den Anschein erweckt, als wäre dieses Buddeln in menschenverachtenden Ressentiments wieder angesagt, als müsste man auf die Weise eine bestimmte Klientel auch in großen, namhaften Medien bedienen.
Brauchen die tatsächlich solche Feigenblättchen? Das wäre peinlich.
Aber wie ist das mit Martenstein? Hat er Recht damit, das Thema Respekt aufzugreifen? In diesem Fall schon – auch wenn in seiner Kolumne nicht viel Gescheites dabei herauskommt. Wer die Glosse liest, merkt, dass er am Ende mit aller Macht versucht, auf die von „Janine“ kritisierte Spur zu wechseln – dass all die Menschen, denen man heute unterm Label „diversity“ etwas mehr Respekt zollt, eigentlich schuld daran sein sollen, dass der kleine Mann sich nicht mehr respektiert fühlt in seiner Lebenshaltung.
Den Topos „kleiner Mann“ möchte ich gern beibehalten. Aus gutem Grund: Weil es diese Menschen wirklich gibt, die sich als solche „kleinen Männer“ empfinden und einordnen. Es ist ein Wahrnehmungskonstrukt, keine Frage. Aber es wirkt trotzdem – und ist auch für Politiker des kompletten populistischen Spektrums jederzeit ansprechbar. Es ist eine Rolle der falschen Bescheidenheit, auch das. Aber auch eine der geballten Ressentiments. Stimmt. Vollgepackt mit Verachtung anderer Menschen, die nicht so sind, wie der kleine Mann glaubt zu sein oder sein zu wollen.
Oder sein zu sollen. Den Aspekt darf man nicht unterschätzen. Gerade Menschen, die sich so einordnen, versuchen immer mit besonderem Eifer, den von außen an sie herangetragenen Erwartungen zu genügen. Gerade das führt zu Frustration und Enttäuschung, wenn viel Anpassungseifer nicht (mehr) belohnt wird.
Und hinter Martensteins „diversity“ steckt natürlich seine schon öfter gezeigte Sichtweise auf all jene Gruppen, die sich in unserer Gesellschaft vor allem seit 1968 mehr Rücksicht, Toleranz und Respekt errungen haben. Man kann die Kolumne lesen und sehen, dass Martenstein auch seinen Rochus auf die 68er nicht verbergen kann. Und dann auch versucht, die Emanzipation von 68 mit dem Getöse von heute zu vergleichen.
Dass er einmal als Autor der Linken galt, ist dabei durchaus beachtenswert. Eine ähnliche Reise von links nach rechts wird ja auch Jan Fleischhauer, der auf „Spiegel Online“ randaliert, zugeschrieben. Was dann natürlich ein großes Grübeln auslöst, wie leicht es solchen Leuten fällt, einfach mal Standpunkte und Überzeugungen zu wechseln, wenn es opportun erscheint. Zu vermuten ist, dass sie gar keine haben und Parteinehmen mit Überzeugung verwechseln.
Aber ab und zu müssen sie doch auf reale Phänomene Bezug nehmen.
Und aus meiner Warte ist zumindest etwas dran, wenn man unserer Gesellschaft eine zunehmende Respektlosigkeit attestiert. Was mit „diversity“ nichts zu tun hat. Denn wer die Angriffe auf alle diese gesellschaftlichen Minderheiten erlebt, die auch heute noch gefahren werden, der weiß, dass von einem gewachsenen Respekt in der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten keine Rede sein kann.
Bei Martenstein kommt dann eher so ein Neidfaktor durch, so ein: Die dürfen das … aber der kleine Mann wird nicht mehr respektiert. Womit Martenstein seine eigene Respektlosigkeit durchblicken lässt. Auch gegen die „Eliten, die in den Jahrzehnten nach 1968 entstanden sind“. Denen attestiert er ein „Akzeptanzproblem“. Ein kleines, beiläufiges Elitenbashing. Aber keine Analyse.
Und ein ziemlich mühsamer Versuch, die „Eliten“ dafür verantwortlich zu machen, dass die kleinen Leute das Gefühl haben, keinen Respekt mehr zu genießen.
Augenscheinlich geht der Respekt auf allen möglichen Ebenen verloren, wird Verachtung zu einer geradezu um sich greifenden Masche bei einigen Autoren. Was schon ein gerüttelt Maß an Opportunismus in sich birgt: Seht ihr, ich schimpfe auch auf die da oben, diese …
Das ist Anbiederung, stimmt. An eine Leserschaft, die sich über den feinen, in Zeilen versteckten Opportunismus immer tierisch freut. Und nicht mal ahnt, dass diese Art Respektlosigkeit erst die Atmosphäre erzeugt, in der eine Menge rücksichtsloser Menschenverächter glaubt, dass man mal wieder was sagen dürfen sollte. Über Ausländer, Homosexuelle, Linke, Feministinnen usw. All die Gruppen, die um ein kleines bisschen Respekt kämpfen. Und dann öffentlich trotzdem beleidigt und verdächtigt werden.
Stimmt: Das Problem ist die falsche Wertschätzung in unserer Gesellschaft. Wertgeschätzt wird nicht der Mensch mit seinen Sorgen, Lasten und Ungewöhnlichkeiten. Das ist ja die Wertschätzung, um die die 68er mal gekämpft haben. Wertgeschätzt werden vor allem Reichtum, Rücksichtslosigkeit, Karriere und „Werte“. Wobei man meist nicht sieht, welche Werte da gemeint sind – außer den Aktiendepots und den Goldbarren im Banksafe. Meist kommt dann nur irgendwelcher Schmonz von Ordnung, Disziplin, Sauberkeit, Leistungsbereitschaft. Wer genauer hinschaut, merkt: Es stecken keine Menschen drin. Es ist nur eine Hülle für eine Art sinnentleertes Da-Sein.
Würden Menschen tatsächlich diese viel gepriesenen „Werte“ leben, wären wir ein graues Land ohne Kultur, ohne Visionen, ohne Kreativität, ohne Ausprobieren, ohne Mut zur Veränderung …
Autsch. Sind wir ja in weiten Bereichen schon. Das werden die Seitenwechsler auch nie begreifen, dass es nicht um linke oder rechte Lager geht und dem Zeitgeist ein Wohlgefallen.
Eigentlich geht es tatsächlich um – Respekt. Für alle Menschen und vor allen Menschen. Vor dem, was Menschen tun und sich wünschen, vor ihrem großen aber auch kleinen Lebenswerk, ihrer Arbeit und ihren Träumen, ihren Gefühlen und ihrem Alltag.
Denn die Frage steht durchaus: Woher kommen alle die chauvinistischen Ressentiments in Teilen der Gesellschaft? Sind die Leute einfach so – also quasi hausgemachte kleine Rassisten und Chauvinisten? Oder werden sie erst zu solchen, weil sie in Landschaften und Bildungssystemen groß werden, die den kleinen, versteckten oder offenen Chauvinismus als akzeptabel oder sogar wünschenswert vermitteln?
Quasi als Alternativ-Angebot zum etwas komplizierteren Beschäftigen mit der Realität. Eigentlich genau so, wie es Martenstein macht: Die „diversity“ ist schuld, nicht die Respektlosigkeit einer durchgedrehten Marktwirtschaft, die den Arbeiter und Angestellten für überflüssig erklärt und seinen Arbeitsbeitrag für wertlos. Eine ganze Menge Menschen spüren diese dominierende Respektlosigkeit des big business gegenüber den Menschen, um die es doch eigentlich gehen sollte. Übrigens etwas, was in dem Wort „Humankapital“ in aller Konzentration steckt.
Humankapital wählt natürlich keine SPD mehr. Warum sollte es? Es wählt auch keine Linkspartei, denn da müsste man ja noch Herzblut und Feuereifer haben. Oder Grüne, da müsste man ja mehr Verständnis für die lebendige Natur haben als für die Verkäuflichkeit der eigenen Restarbeitskraft.
Man ahnt die tiefgreifenden Veränderungen in unserer Gesellschaft, die durch solche Worte sichtbar werden. Eigentlich bräuchten wir nicht nur ein „Wörterbuch des besorgten Bürgers“, sondern auch eines der „Gesellschaftlichen Verachtung“, damit auch hier einmal sichtbar wird, wie tief sich diese Verachtung für den „Minderleister“ (schon vergessen dieses unbarmherzige Wort?) in unseren heutigen Sprachgebrauch eingeschlichen hat.
Deswegen war Martensteins Ansatz schon richtig – der Rest aber der mittlerweile gewohnte opportunistische Dreh hin zum Bashing von „diversity“ und 68ern.
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