Es pfeift ein rauer Wind durch die Welt. Gigantische Warenströme fließen von Kontinent zu Kontinent. Nachrichten aus allen Ecken des Erdballs sind zeitgleich überall verfügbar. Und damit auch jedes grauenvolle Ereignis, das nur passieren kann. Gemütlich ist das alles nicht. Was ja unübersehbar eine Menge Leute richtig ungemütlich gemacht hat. Und wütend.

Das Wort Gemütlichkeit haben die Autoren des „Wörterbuchs des besorgten Bürgers“ (noch) nicht mit aufgenommen. Obwohl es ganz natürlich direkt in die Nachbarschaft von Gemeinschaft und „fremd im eigenen Land“ gehört. Beim einen denkt man an eine wohlig beheizte Stube, in der sich die Lieben alle gesittet um den großen, festlich gedeckten Tisch versammeln und Opa den wohlwollenden Patriarchen spielt. Beim anderen denkt man an Durchzug, Türen, die nicht schließen wollen, ständige Veränderungen, die das Gewohnte durcheinanderbringen.

„Die Herrnhuter verwendeten den Ausdruck Anfang des 18. Jahrhunderts in ihren Schriften im Sinne von Herzlichkeit“, heißt es auf Wikipedia dazu. „Eine neue Bedeutung bekam er in der Biedermeierzeit; in dieser Phase wurde Gemütlichkeit zu einem Modebegriff im Sinne von Behaglichkeit, wurde von Kritikern wie Joseph Görres aber auch in Zusammenhang gebracht mit Nationalismus und Deutschtümelei. Gemütlichkeit bekam daher auch eine negative Konnotation im Sinne von Trägheit und fehlender Courage“

Was das Thema leidlich verfehlt, auch wenn die Herleitung so schön stringent ist. Denn Worte aus solcher Kunstschöpfung haben Potenziale in sich. Erst recht, wenn sich die Grundworte verändern und anders genutzt werden – wie in diesem Fall das Wort Gemüt. Das einmal wertfrei war und vor allem Charaktere beschrieb – leichte und schwere Gemüter, hitzige und ruhige. Das Herzige kam tatsächlich erst mit den Herrnhutern in den Begriff. Sie setzten ein ganz bestimmtes Gemüt ins Zentrum: das biedere, brave und wohlwollende. So kommen Tendenzen in Worte. Und es stimmt: So richtig in Schwang kam die Gemütlichkeit mit der Biedermeierzeit. Der gemütliche, also ganz und gar nicht zur Renitenz neigende Bürger, war die wichtigste Gestalt in diesem Fundus der Weltflucht, der sich auf der einen Seite Romantik nannte und auf der anderen Biedermeier.

Was schon den ersten Teil der Flucht beschreibt, denn dieses gemütliche Bürgerleben flüchtete nicht nur vor einer grimmigen Zensur und Demokratenjagd ins Private und damit verklärt aufgeladene Behagliche. Wer emsig tafelt, frevelt nicht. Es war auch die geistige Flucht vor den Veränderungen, die alle trotzdem passierten. Denn das neue Zeitalter kam mit Dampf und Kohle, walzte durch Täler und Bergzüge. Deswegen stammt auch die idyllische Verklärung von Heimat aus dieser Zeit. Das Schwesterwort heißt: Heimattümelei.

Was auch Welt- und Realitätsflucht war, wozu der gemütlich besorgte Bürger immer neigt. Wo er die Dinge nicht verändern kann, neigt er zur Verklärung: des Waldes, der Landschaft und der märchenhaft neu erzählten Vergangenheit. Die Märchen vorlesende Oma gehört zur Gemütlichkeit wie das Gänse hütende Mädchen und der Wandersbursch am Brunnen vor dem Tore.

Es ist kein Zufall, dass die gemütlichen deutschen Volkslieder alle in dieser Zeit entstanden. Von „O Tannebaum“ bis zur Wanderslust.

Aber das war erst die erste Stufe für dieses Wort, das eben nicht ganz zufällig auch in den Ruch des nationalen Tümelns geriet.

Denn die Inflation stand ihm noch bevor. Sie kam mit einem Paukenschlag und lauter bärtigen Herren, die mit lächerlichen Prachtstiefeln im Spiegelsaal zu Versailles standen und den preußischen König zum deutschen Kaiser erhoben, ausriefen oder wie immer man das bezeichnen will. Das neue wilhelminische Kaiserreich wurde gegründet, der eben besiegte Feind Frankreich zu einer milliardenschweren Reparationszahlung verdonnert, Geld, mit dem das erste deutsche Wirtschaftswunder eingeheizt wurde. Gemütlich war das nicht. Es dampfte und spekulierte, das Geld wusste gar nicht, wo es so schnell unterkommen sollte. Der neue Kaiserstaat überzog das Land mit wilhelminisch prächtiger Architektur. Und 1873 platzte die Blase. Die vielgeliebte Gründerzeit, wie sie heute wieder so gern genannt wird, rauschte in eine veritable Gründerkrise. Zu viel war zu schnell zu teuer verramscht und gekauft worden.

Das ging schon immer schief. Aber das lernen Politiker, die Reparationsleistungen diktieren, wohl auch nimmermehr.

Krisen sind Korrekturen. Die ihren Preis haben.

Einer ist: das Erschrecken der braven Bürger. Die immer wieder so überrascht sind, weil sie sich mit den Ursachen der Krisen nur ungern beschäftigen. Darüber unterhält man sich nicht an der Kaffeetafel. Das ist unfein.

Das Ergebnis war eine anschließend geradezu explodierende Nachfrage nach Einrichtungsgegenständen der Gemütlichkeit. Bis hin zur Literatur, die das romantische Leben in Forsthäusern, Pfarrhäusern und heimeligen Dörfern schilderte und eine Welt ausmalte, in der es großväterlich, gesittet und hübsch langsam voranging. Die heute so gern zitierte „deutsche Kultur“ ist ein Kunstprodukt aus dieser Zeit. Was nicht zufällig die Zeit war, als aus Ernst Keils Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ ein idyllisches Stubenblättchen wurde. Mit Absturzpotenzial ins gründlich Konservative. Ein Blatt für Weltflucht. Passend zur Zeit, die eine höchst ungemütliche war. Denn alles war Veränderung. Kein Land wurde so forciert ins neue imperialistische Zeitalter hineinbefohlen. Und es marschierte hinein.

Hübsch gemütlich, wenn es bei sich daheim war. In den Folgejahren erlebte das Wort Gemütlichkeit einen Siegesmarsch. Es war das Pendant der äußerlich empfundenen Ungemütlichkeit. Man brachte sich vorm Stürmen draußen in einer beschaulichen Innenwelt in Sicherheit. Das Ganze wurde Kultur. Und hat sich bis heute nicht wieder aus dem Sprachgebrauch entfernt. Ganze Branchen verkaufen ihre Produkte mit diesem Wort, das etwas anklingen lässt von einer beschützten Welt, in der es kein frösteln machendes Draußen gibt: gemütliche Wohnzimmermöbel, gemütliche Lampen, gemütliche Kamine. So reproduziert sich die Sehnsucht nach dem geschützten Ort. Man kann sie kaufen.

Und wenn man sie nicht kaufen kann, weil alles kaputt ist, dann beschwört man sie. So wie 1919 und 1945, wahre Boom-Jahre für die Verwendung des Wortes Gemütlichkeit. Mit aller Macht machte man es sich gemütlich. Auch im Schützengraben.

Und wer dachte, das sei dann schon der Höhepunkt der Sehnsucht gewesen, der hat sich geirrt. Das Wort scheint auch eine Art Beschwörung gegen die grässlichen Zumutungen der sich verändernden Welt zu sein. Seit 1998 – seit auch deutsche Politiker sich trauten, öfter das Wort Globalisierung in den Mund zu nehmen – hat „Gemütlichkeit“ erst recht neue Höhenflüge erlebt, nachweislich in veröffentlichten Büchern, das, was das kluge Zählinstrument Ngram von Google eben messen kann.

Und Wortverwendungen in Büchern spiegeln immer auch den Wortgebrauch im äußeren Leben. Und bei gemütlich ist eigentlich ziemlich deutlich, wie sehr es wieder heimelig blinkt, wenn draußen die Stürme toben. Man zieht sich wieder zurück ins Geschützte, wenn Krisen die Schlagzeilen bestimmen. Ob das nationalistisch ist, ist eher die Frage. Zumindest ist es ein gutes Verkaufsargument in einer Zeit, wo der fleißige Bürger vor allem mobil, flexibel und stets einsatzbereit sein soll. Da wird das traute Heim zum rettenden Ort, zum Lichtlein in der Nacht, da lässt man sich fallen und wird zum wohlig brummenden Inventar. Dann wird’s gemütlich. Was heutzutage dann nicht mehr ans Gemüt erinnert, sondern an eine gute, still vor sich hin tickernde Alarmanlage, die das Haus beschützt.

Und wenn dann doch einer kommt und unangemeldet stört, na ja, dann kann man schon mal ungemütlich werden.

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