Herrschaftszeiten. In den letzten Tagen haben unsere Freunde aus der „Steckt-uns-doch-nicht-immer-in-die-rechte-Ecke“ aber wieder ganz schön aufgedreht. Der Schatten, den die EM vorauswirft, scheint bei vielen eben auch den unterm Pony zu intensivieren: Wir alle haben es mitkriegen müssen: Gauland kann nicht in Frieden leben, wenn ihm der schwatte Nachbar nicht gefällt, obwohl er angeblich dessen Schuss aufs Tor schätzt.
Petry findet es schade, dass Mesut Özil die Nationalhymne im Stadion nicht mitsingt, Pretzell steht weiterhin auf Petry und auch auf Schüsse – das allerdings nur als „ultima ratio“, Poggenburg übt noch und arbeitet immer noch an einem richtigen Medien-Eklat, Meister Höcke will Ramelow vor Gericht zerren und Andreas Gehlmann soll in Magdeburg einen Wunschtraum laut geäußert haben: Homosexuelle bitte wieder hinter schwedische Gardinen!
Abgesehen davon, dass er mit großer Sicherheit hinterher in bewährter AfD-Rhetorik empört sagen wird, er verstehe die Aufregung nicht, er habe doch nur die schwedischen Gardinen von IKEA gemeint, findet er damit auch noch ungewollt eine gemeinsame Schnittmenge seiner Partei mit dem Morgenland. Denn in Algerien findet das von ihm tatsächlich gewünschte Verhalten gegenüber Schwulen ja bereits statt. Die Alternative für Deutschland wird in Nordafrika also schon gelebt. Prima.
Leider aber sind dies alles nicht nur ein paar verrückte Verschrobenheiten wunderlicher Mitbürger. Es sind Alarmsignale. In meiner Kindheit hingen Leute mit Meinungen à la Gehlmann und Gauland aus irgendeinem Fenster einer piefigen Parterre-Wohnung, rochen nach feuchter Zigarre und Pippi und erzählten abwechselnd von ihrer Angina pectoris und der Kriegsgefangenschaft. Heute werden sie bereits wieder unter großer Beachtung in der Zeitung zitiert.
Gaulands Gehässigkeiten könnte man vielleicht noch als geriatrisches Geschnatter abtun, Gehlmann aber wurde 1974 in Sangerhausen geboren. Wir wären also in einer Klasse gewesen, Andreas und ich, wäre ich nicht in Thüringen zur Welt gekommen, sondern im nahen SA. Fakt bleibt: Mein imaginärer Klassenkamerad hat Angst vor dem Sittenverfall und ist allgemein „gegen offen ausgelebte Sexualität“. Das ist ein komisches Gefühl.
Ab wann beginnt man eigentlich mit dem offenen Ausleben seiner Sexualität? Wenn man mit offener Hose unterwegs ist? Wenn man ohne Not angibt, schwul zu sein? Oder eben nicht schwul? Wenn man mit freigelegtem Hinterteil beim CSD herumtänzelt? Wenn man am Sonntagmorgen nicht in der Kirche erscheint, sondern gerade aus dem KitKatClub kommt? Aber wir wollen nicht aus … Quatsch … abschweifen.
Im Grunde ist mir nicht mehr lustig zumute. Der Wolf im Schafspelz hat doch längst seinen Parka ausgezogen. Wie lange will man diese Alternativflieger eigentlich noch am Pressehimmel herumflattern lassen, weil ja bekanntlich alle gehört werden sollen in einer Demokratie? Als ob wir in einer Zeit lebten, in der die Wunden des Holocausts auch nur ansatzweise zu verschorfen begonnen haben! Jede Familie hat ihre damit verwobene Geschichte und die Enkel der Opfer laufen noch heute dünnhäutig wie ein Schwindsuchtpatient durch unsere Reihen.
Manchmal denke ich, wir haben sie nicht mehr alle, diesen ganz Rechten, Halb-rechten, Selbstgerechten irgendeine Plattform zu bieten. Ist das nicht auch Sittenverfall? Ist offen ausgelebter Rassismus erwachsener Menschen denn nicht beklagenswerter als deren offen ausgelebte Sexualität? Wenn es nämlich gut läuft, macht letztere doch sogar beiden Spaß, Rassismus aber – soviel ist sicher – immer nur einem. Für kühle Rechner müsste dieses Argument doch eigentlich schon genügen.
Wenn wir weiterhin zulassen, dass eine Partei weiterhin öffentlich nach Sternen greifen darf, die längst erloschen sind, wenn deren Vertreter im Landtag herumzetern, im Fernsehen mit Deutschlandfahne über der Sessellehne herumlungern oder eine Holocaustfixierung des Geschichtsunterrichts kritisieren und auf Marktplätzen Deutschtümelndes schreiend von sich geben dürfen, dann heißt das im Umkehrschluss: Demokratie ist, wenn man die Wunden einer noch nicht ganz ausgestorbenen Generation aufpulen darf, um darin grausam herumzustochern.
Wenn man den Gedanken konsequent zu Ende denkt, wenn man sich die Gesellschaft tatsächlich einmal veranschaulicht, welche die AfD in ihrem noch lückenhaften Flickenteppich aus Provokation, absurden Forderungen und Ungeheuerlichkeiten anstrebt, dann wünsche ich uns allen vor allem eines: viel Glück oder eine Fahrkarte zum Mond.
Beides wird man dann nämlich dringend brauchen.
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