Am späten Abend sorgte am gestrigen Mittwoch, 16. September, auf Twitter eine Meldung für Aufsehen: In Kürze sollen Geflüchtete Leipzig erreichen; wo sie untergebracht werden können, sei noch unklar. Unser Autor hat die Nacht vor der Neuen Messe verbracht und war bei der Ankunft am darauffolgenden Mittag dabei.
Als am Nachmittag gegen halb 2 die letzten Geflüchteten die Bahnstation an der Neuen Messe mit Bussen verlassen, geht nicht nur für die Reisenden, sondern auch für den Autor dieser Zeilen eine lange Nacht zu Ende. Sie beginnt am späten Mittwochabend, als Linke-Stadträtin Juliane Nagel auf Twitter die baldige Ankunft von Geflüchteten in Leipzig verkündet. Die Nachricht selbst, die sich schnell verbreitet, stellt an sich keine Besonderheit dar; der Zusatz „OBM sagt: Unterbringung ungeklärt“ hingegen schon.
Aus München wusste man bereits, dass seit einigen Tagen Ankommende wegen der nach offiziellen Angaben erschöpften Unterbringungskapazitäten am Bahnhof übernachten müssen. Ein ähnliches Szenario schien nun in Leipzig zu drohen. Einige ernsthaft besorgte Bürger brechen daraufhin zum Hauptbahnhof auf oder versuchen von Polizei, DRK oder der Deutschen Bahn Informationen zu erhalten. Erste Gerüchte über Abfahrts- und Ankunftszeiten, mögliche Zielorte sowie Anzahl der Reisenden machen die Runde. Als der Twitter-User „Stop Hate“ kurz vor Mitternacht von einer Aussage der Deutschen Bahn berichtet, wonach zwischen 1 und 3 Uhr nachts ein Zug die Neue Messe erreichen soll, packe ich kurzentschlossen warme Kleidung, eine große Flasche Wasser sowie die beiden letzten verbliebenen Scheiben Toast in meinen Rucksack und fahre los.
Am Hauptbahnhof treffe ich Sophia, eine der Chefredakteurinnen der lokalen Hochschulzeitung „student!“. Gemeinsam nehmen wir die letzte Straßenbahn Richtung Messegelände. Anders als erwartet erreichen außer uns und drei Geflüchteten, die bereits in Halle 4 leben, keine anderen Menschen die Endhaltestelle. Durch diverse Einträge auf Twitter weiß ich, dass zumindest zwei bis drei andere Personen vor Ort waren oder noch sind – außer Dunkelheit und leeren Messehallen sehen wir zunächst jedoch nichts und niemanden.
Nach etwa 30 Minuten stehen wir in der Nähe von Halle 4. Einige Geflüchtete sitzen noch draußen. Am Eingang wachen Security-Leute. „Wir wissen von nichts“, sagen sie auf Nachfrage. Das entspricht vermutlich der Wahrheit. Auch das Security-Personal an der HTWK-Sporthalle wurde stets im Unklaren über die aktuellen Entwicklungen gelassen.
Wir nehmen Platz. Und warten. Und lesen Twitter. So langsam gehen die Meisten schlafen und die wenigen Infoquellen, die wir überhaupt haben, verstummen. Dann trifft ein Bus mit Geflüchteten ein, so wie es hier täglich geschieht. Auch Polizei und DRK sind mittlerweile vor Ort. Wir können das alles jedoch nur schwer in einen Zusammenhang setzen, da niemand etwas sagen kann oder möchte. Auch Pressestellen sind halb 2 in der Nacht nur noch schwer erreichbar.
Als wir uns noch einmal durch die Gegend bewegen, kommt uns Tom auf dem Fahrrad entgegen. Es ist die einzige „normale“ Person, die wir seit zwei Stunden gesehen haben – auch er ist wegen der Geflüchteten hier. Tom ist neu in Leipzig, studiert ab Oktober an der HTWK und kam ebenso spontan wie wir vom anderen Ende der Stadt in den hohen Norden. Zu dritt kehren wir vor das Eingangstor zurück. Ein zweiter Bus erscheint, ebenso mehr Polizei. Die Situation bleibt unklar, wir spielen Mau-Mau. Zwischenzeitlich schaut auch der stadtbekannte Aktivist Marco kurz vorbei und lässt uns eine Flasche Wasser da. Der über Twitter bestellte Kasten Bier trifft leider nie ein.
Kurz vor 3 Uhr erhalten wir schließlich die ersten halbwegs gesicherten Informationen. Ein Polizist erzählt uns vor seiner Abreise, dass die beiden Busse aus der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung in Chemnitz gekommen sind. Am nächsten Morgen soll ein Zug mit etwa 500 Geflüchteten Leipzig erreichen. Die Mehrzahl der Passagiere befinde sich allerdings nur auf der Durchreise. Ort und Zeit der Ankunft seien ihm nicht bekannt.
Wir folgen schließlich dem Beispiel der anderen Beamten und verlassen das Messegelände. Auf dem Rückweg zur Straßenbahnhaltestelle sehen wir, dass regelmäßig Polizeiautos Patrouille fahren. Gut zu wissen. Tom hat sich bereits mit dem Fahrrad auf den Heimweg begeben, so dass Sophia und ich nun zu zweit eine ganze Stunde auf die Bahn warten. Kurz vor 5 Uhr verabschieden wir uns am Hauptbahnhof voneinander. Wenige Minuten später falle ich ins Bett.
Der Wecker klingelt von nun an im Stundentakt. Schließlich ist vollkommen unklar, wann die ersten verlässlichen Informationen zur Ankunft des Zuges hereinkommen werden und mit welchem zeitlichen Vorlauf dies geschehen wird. Nach dem vierten Klingeln beruft sich das Lokalradio „mephisto“ auf die Bundespolizei. Kurz nach 12 Uhr sollen demnach 568 Geflüchtete an der Neuen Messe ankommen. Eine Sprecherin der Landesdirektion nennt mir am Telefon eine geringfügig höhere Zahl, möchte Ort und Zeit jedoch nicht bestätigen. Stattdessen erzählt sie mir, dass die Flüchtlinge zu gleichen Teilen nach Thüringen, Sachsen-Anhalt und Chemnitz weitergeleitet werden. In Leipzig sei derzeit kein Platz mehr, auch die Kapazität der Messehalle 4 ist mit knapp 2.000 Bewohnern nun erschöpft.
Als ich kurz vor 12 Uhr an der Bahnstation eintreffe, steht der Zug bereits da. Auch Tom und zwei andere Journalisten sind schon vor Ort. Die Geflüchteten schauen aus den Fenstern oder stehen im geöffneten Türbereich. Ein Absperrband trennt ihren Zug vom restlichen Bahnsteig. Über einen Dolmetscher erfahren die knapp 600 angekommenen Menschen, dass sie sich auf einen nahe gelegenen Parkplatz begeben sollen. Von dort aus geht die Reise mit etwa einem Dutzend Bussen weiter.
Viele Kinder verlassen die Züge. Auch ein Mann im Rollstuhl ist dabei. Manche wirken erschöpft, andere glücklich. Acht Stunden hat laut eines Zugbegleiters ihre Fahrt von der Grenze zu Österreich bis nach Leipzig gedauert. Für viele von ihnen war es im Vergleich zu den vorherigen Anstrengungen wohl eine verhältnismäßig kleine Etappe auf ihrer Flucht. Nun sind sie da, aber zumindest in Leipzig bleiben sie nicht lange.
Für die meisten von ihnen stehen schon Busse bereit. Alles verläuft geordnet und entspannt. Die mehr als 50 eingesetzten Polizisten aus Bund und Ländern, darunter Leipzigs Polizeipräsident Bernd Merbitz, begrüßen sie mit einem Lächeln und versorgen sie mit Getränken. „Für uns ist das auch eine vollkommen neue Erfahrung“, erzählt mir einer von ihnen und ergänzt, dass bereits vor einem Tag knapp 400 Flüchtlinge hier angekommen seien. Da lief es wohl noch etwas chaotischer ab.
Während die Mehrheit zügig wegtransportiert wird, müssen etwa 150 Geflüchtete zunächst warten. Vier Busse sind noch nicht eingetroffen. Sie nehmen auf dem Boden Platz, mitten in der prallen Sonne, und ruhen sich aus. Nicht so die Kinder. Ihre Energie scheint jegliche Grenzen überwunden zu haben. Sie toben herum, necken sich, erkunden die Gegend. Von all den Strapazen der vergangenen Wochen – in Anbetracht ihres jungen Alters vielleicht auch ihres gesamten Lebens – haben sie sich nicht beeindrucken lassen.
André Barth, europapolitischer Sprecher und Hobbypsychologe der sächsischen AfD-Landtagsfraktion, würde dies vermutlich wie folgt kommentieren: „Traumatisierte Menschen, die knapp dem Tod entronnen sind, benehmen sich anders.“ Diese Worte wählte er schließlich auch in Bezug auf die Ausschreitungen an der serbisch-ungarischen Grenze. Aber seine Meinung kann einem in diesen Momenten getrost egal sein. Wer diese lachenden Kinder sieht, die Bilder richtig einordnen kann und dabei nicht mit den Tränen zu kämpfen hat, dem sitzt das Herz am rechten Fleck. Am sehr rechten Fleck.
Diese Einschätzung bezieht sich selbstverständlich nicht nur auf die Kinder. Sie trifft auf all die Menschen zu, die geflohen sind. Meist kommen diese Menschen hinter immer größer werdenden Zahlen kaum zum Vorschein. Nahezu alle Medien und Politiker verunmenschlichen sie, wenn sie Begriffe wie „Flut“ oder „Schwemme“ verwenden. Von den populistischen Aussetzern, mit denen sich vor allem CSU und AfD derzeit zu profilieren versuchen, ganz zu schweigen. Am Ende sind es ganz normale Menschen, die an einer Bahnstation aus einem Zug aussteigen und eine lange, beschwerliche Reise hinter sich haben.
Eine komplette Nacht den Spuren dieser Reise zu folgen, auf die Ankunft der Geflüchteten zu warten, dabei aber fast komplett im Ungewissen gelassen zu werden, kann dafür vielleicht ein entferntes Gefühl vermitteln. Es bringt einem vielleicht auch näher, mit welchen Widrigkeiten sich die zahlreichen ehren- und hauptamtlichen Helfer jeden Tag aufs Neue konfrontiert sehen.
Aber man sollte auf dem Boden bleiben: Nur weil ich mal eine Nacht im Freien verbringe und wenig schlafe, habe ich noch lange keine Vorstellung davon, wie es ist, auf dem Mittelmeer um sein Leben zu kämpfen und anschließend von einem Friedensnobelpreisträger mit Gewalt und Gleichgültigkeit begrüßt zu werden.
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