Seit dem 30. April ist es jetzt ganz offiziell: Leipzig hat seine Bewerbung um das Europäische Kulturerbe-Siegel auf den Weg gebracht. Inhalt: seine Musikerbe-Stätten (Leipzig's Musical Heritage Sites). Eine Bewerbung um den Titel Weltkulturerbe der UNESCO wäre noch eine Spur schärfer gewesen. Und eigentlich verdient. Aber irgendwie fehlten den deutschen Kultusministern dafür die schützenswerten Bauten.
Denn den Titel der UNESCO bekommen in der Regel schützenswerte Baudenkmäler von Weltrang. Was ihnen ja bekanntlich nicht die Bohne nützt, wenn durchgeknallte Kulturfeinde wie die Taliban oder der IS anfangen, die Zeugen der Geschichte zu zerstören. Den Titel gibt es auch für einmalige Stadt- und Kulturlandschaften. Aber auch das nützt nichts, wenn die zuständige Politik meint, man müsse noch eine neue Brücke durchs Elbtal bauen.
Mit Baukultur kann auch Leipzig glänzen, auch wenn es nirgendwo so ein schönes Panorama gibt wie in Dresden. Dass die Bewerbung im Zusammenhang mit den noch existierenden Bauten aus der Leipziger Kulturgeschichte ein bisschen zu komplex sein könnte für das Welterbe-Verfahren (komplexer als das für die Bergbauerinnerungen im Erzgebirge oder die für das alte Fürstenschloss Hartenfels in Torgau), das war Prof. Werner Schneider, als er 2006 die Idee einer Welterbe-Bewerbung mit der Leipziger Notenspur auf den Weg brachte, durchaus bewusst. Man hätte es wagen können. Immerhin trafen mindestens zwei der geforderten Kriterien ja zu – und dazu gehören auch die noch existierenden Original-Wohnhäuser von Mendelssohn Bartholdy und den Schumanns.
Aber so richtig mutig waren Deutschlands Kultusminister noch nie. Nicht mal, wenn es um Bildung geht. Am 12. Juni 2014 hat denn auch die Kultusministerkonferenz beschlossen, die Bewerbung der Stadt Leipzig unter dem Titel „Leipziger Notenspur – Stätten europäischer Musikgeschichte“ nicht auf die Tentativliste für die UNESCO-Welterbeliste zu setzen, sondern eine Bewerbung um das in neuem Format und mit europaweitem Gewicht ausgestattete Europäische Kulturerbe-Siegel zu favorisieren.
Was natürlich aus Sicht der Leipziger Notenspur Quatsch ist: Die Musikstadt strahlt weltweit aus. Die Beschränkung auf Europa ist eigentlich die falsche Bescheidenheit an dieser Stelle. Andererseits gab es 2006 noch kein Europäisches Kulturerbe-Siegel mit europäischem Auswahlverfahren und europäischer Reputation. Es wurde 2006 auch eher aus der Not geboren, als der Kampf um eine europäische Verfassung mal wieder gescheitert war.
Selbst Wikipedia benennt die wesentliche Kritik an dieser Auszeichnung: “Scharfe Kritik erntet die Kampagne zum Europäischen Kulturerbe-Siegel aber vor allem aus dem Lager der Kulturwissenschaft, die in ihr lediglich eine auf Europa-Maßstab aufgeblasene, althergebrachte nationalstaatliche Kulturerbe-Konstruktion verortet.”
Da ist eigentlich alles gesagt. Die alte nationalstaatliche Verengtheit hatte mal wieder gewonnen. Und seit 2011 wird nun offiziell eine Art “Europäisches Kulturerbe” neben das UNESCO-Welterbe platziert. Und es kommt, wie in Europa üblich, auch zur üblichen Schwemme, weil ja alle Mitgliedsländer der EU bedacht werden wollen. Und auch emsig bedacht werden. Leipzig wird da, wenn die Bewerbung durchkommt, auch wieder nur ein Ort unter vielen sein. Eigentlich Teil eines wachsenden Kultur-Gemischtwarenladens, in dem in Deutschland derzeit schon die Erinnerungsstätten an den Westfälischen Frieden (Osnabrück und Münster) neben dem Schloss Hambach (Hambacher Fest von 1832) stehen.
Und auf europäischer Ebene wird es gänzlich kunterbunt, landet Leipzig dann neben dem antiken Athen, der Abtei von Cluny, Sopron (wo 1989 das Paneuropäische Picknick stattfand), der Danziger Werft und der Universitätsbibliothek von Coimbra. Keine Frage: Der Auswahlkommission wird es nicht schwer fallen, jedes Jahr neue Orte zu würdigen, die für die europäische (Kultur-)Geschichte wichtig sind. Europa ist ja regelrecht vollgestopft damit.
Und selbst in der Mitteilung der Stadt klingt die Malaise von 2006 noch an: “Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union haben im November 2011 beschlossen, mit einem ‘Europäischen Kulturerbe-Siegel’ das Zugehörigkeitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger zur Union zu stärken und den interkulturellen Dialog anzuregen. Das Siegel zeichnet Stätten aus, die die europäische Einigung, die gemeinsamen Werte sowie die Geschichte und Kultur der EU symbolisieren. Die Auszeichnung zielt insbesondere darauf ab, jungen Menschen den Zugang zum europäischen Kulturerbe zu erleichtern und ihr Bewusstsein für eine europäische Identität zu stärken.”
Aber in Wirklichkeit geht es drunter und drüber, meldet Strasbourg gleich mal das ganze Europa-Quartier zur Siegel-Verleihung 2015 an, Wien den alten Kaiserpalast und Italien (wahrscheinlich um die Deutschen zu ärgern) die alte Burg von Canossa.
Das Europäische Kulturerbe-Siegel ist zwar als Ergänzung zum Weltkulturerbe-Titel gedacht. Aber schon das, was derzeit auf der Liste auftaucht, sorgt gefühlsmäßig für eine Fahrstuhlfahrt ins Parterre. Da ist von dem einmal von der Notenspur-Inititiative groß Gedachten nicht mehr allzu viel über. Auch wenn jetzt die Amtswalter, die die Bewerbung in die Hand genommen haben, versuchen, die Bewerbung goldig zu putzen.
„Aus unserem einzigartigen Musikerbe erwuchs nichts weniger als das Modell für das europäische bürgerliche Musikleben, wobei Musik als Medium der urbanen Selbstverständigung entdeckt wurde, das bis heute in immer neuen Aktualisierungen gültig bleibt“, zeigt sich Kulturbürgermeister Michael Faber überzeugt. „Die Leipziger Musikstätten siedeln sich nicht schlechthin in der Stadt an, sie haben das Verständnis von Leipzig und der europäischen Stadt selbst verändert.“
Aber tatsächlich ist Leipzig mit dieser Bewerbung erst mal wieder irgendwo in der dritten Reihe gelandet. Rings um Leipzig sprießen schon längst die Kulturerbesiegel, die die “Stätten der Reformation” würdigen, aus dem Boden wie Pilze: Zwickau, Wittenberg, Mansfeld, Altenburg, Eisenach, Bad Frankenhausen … Und, um das nicht zu vergessen: Leipzig hat ja auch schon ein Kulturerbe-Siegel, denn mit der Nikolaikirche ist es seit 2012 Teil des Netzwerkes “Eiserner Vorhang”, in dem die Berliner Mauer, Schloss Cecilienhof, Glienicker Brücke, das Notaufnahmelager Marienfelde usw. versammelt sind. Aber wen interessiert das eigentlich? Die Touristen kommen doch nicht wegen des Siegels nach Leipzig, sondern um den Originalschauplatz der Friedlichen Revolution zu sehen.
Jetzt wandert das Papier erst einmal durch die Instanzen.
Der Freistaat, bei dem Leipzig die Bewerbung eingereicht hat, entscheidet über eine Empfehlung an die Kultusministerkonferenz, die voraussichtlich im Herbst aus allen deutschen Vorschlägen zwei auswählt und der EU-Kommission übermittelt. Eine europäische Jury kürt dann die Stätten, die sich mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel schmücken können.
Was auch noch nichts heißt. Denn: “Ab 2015 beginnt das reguläre Verfahren, wonach jeder teilnehmende Mitgliedstaat alle zwei Jahre bis zu zwei Stätten in die Vorauswahl aufnehmen darf, von denen höchstens eine Stätte von der Europäischen Jury ausgewählt wird.”
Das Sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst wird die Bewerbung „Leipzigs Musikerbe-Stätten (Leipzig’s Musical Heritage Sites)“ an die Kultusministerkonferenz weiterleiten, die im Herbst aus allen deutschen Vorschlägen zwei auswählt und der EU-Kommission übermittelt. In deren Auftrag kürt eine europäische Jury dann die Stätten, die sich mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel schmücken dürfen.
„Wir wünschen den Leipziger Musikerbe-Stätten viel Erfolg bei der Bewerbung um das Europäische Kulturerbe-Siegel. Es ist richtig, dass die Stadt mit ihrer Bewerbung der Empfehlung der Fachleute gefolgt ist. Leipzig ist als Geburts-, Arbeits- und Lebensort vieler berühmter Komponisten, als Heimat wichtiger Orchester, Chöre und Musikverlage ein bedeutender Teil der deutschen und europäischen Kunstgeschichte im allgemeinen sowie der Musikgeschichte im speziellen“, erklärt Kunstministerin Dr. Eva-Maria Stange.
Die Bewerbung schließt einerseits einen Verbund an Musikstätten ein, zu dem Thomaskirche, Nikolaikirche, Alte Nikolaischule, Bach-Archiv, Hochschule für Musik- und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, Mendelssohn-Haus, Schumann-Haus, Verlagshaus C. F. Peters mit Grieg-Begegnungsstätte sowie Gewandhaus gehören. Andererseits sind damit Musikerpersönlichkeiten von internationaler Ausstrahlung verbunden: Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Edvard Grieg, Leoš Janáček, Richard Wagner und Gustav Mahler.
Und es wird trotzdem seltsam aussehen, wenn die Musikstadt Leipzig dann neben lauter Präsidentenpalästen, traditionsreichen Industrierevieren und Bischöflichen Museen steht. Ob das gar junge Leute anspricht, darf man bezweifeln. Aber vielleicht braucht gerade Leipzig überhaupt kein Siegel. Eigentlich hat es seine Werbung schon. Selbst in der Bewerbung steht ja zu lesen: “Leipzigs Selbst- und Fremdwahrnehmung verbindet sich eng mit dem Musikleben. Über Jahrhunderte war Musik maßgebend an der Entwicklung der Handels- und Bildungsmetropole beteiligt. Die bis heute ununterbrochene Anziehungskraft erklärt sich nicht zuletzt aus den namhaften Persönlichkeiten, die mit Leipzigs Musikerbe-Stätten eng verbunden sind …”
Wer braucht denn noch ein Siegel bei ununterbrochener Anziehungskraft?
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