Vorweg: Ich habe die Finnen wirklich gern. In Urlaubsorten ist mir der herkömmliche Finne bislang vor allem als ruhiges, freundliches Wesen aufgefallen, das an der Hotelrezeption gern in Grüppchen auftritt, um am Abend mit etwas Sonnenbrand unterm Kurzarmhemd diszipliniert und schweigsam die Poolbar leerzutrinken. Ein durch und durch angenehmer Zeitgenosse.
Unglaublich aber, was sie jetzt vorhaben, die Finnen: Das Land mit dem vielgerühmten Schulsystem zeigt Pioniergeist und will die Handschrift aus den Schulen verbannen. Maximal Blockschrift und vor allem Tippen-auf-der-Tastatur stehen lediglich dort bald verbindlich auf dem Plan. „Gehen unsere nordischen Brüder mit der lustigen Sprache jetzt damit nicht doch zu weit?“, fragt man sich in Deutschland von Sylt bis Unterföhring betroffen.
„JA und NEIN!“, muss man antworten, wenn man sich die Sachlage etwas genauer ansieht
Hilfreich könnte sein, sich zunächst einmal dazu bekennen, dass die hierzulande herrschende, an Hörigkeit grenzende Bewunderung für das brillante finnische Schulsystems ein wenig verwunderlich wirkt.
Leute mit einigermaßen funktionierendem Erinnerungsvermögen werden hie und da schon einmal still bei sich gedacht haben, dass eine neun- bis zehnklassige Einheitsschule mit Chancengleichheit für Kinder aller sozialen Schichten, erschwingliches bis kostenloses Schulessen und eine strukturierte Ausbildung der künftigen Lehrkräfte als Garant für lese- und schreibkundige Schulabgänger, die überdies auch noch halbwegs verinnerlicht haben, dass Punktrechnung vor Strichrechnung geht, keine ganz so große Innovation der letzten Jahrzehnte ist.
Aber in die Vergangenheit reisen ist nicht so attraktiv wie zu einer kleinen Exkursion ins Bildungsministerium in Helsinki aufzubrechen. Wirkt für viele auch einfach zu retro, dieses Lernen aus der Geschichte. Vorwärts muss man denken, innovativ und vor allem viel Geld ausgeben für Forschungen, deren Überflüssigkeit allzu sehr auf der Hand liegt. „Wenn Forschung wenig kostet, was soll dabei schon rauskommen?“, denkt sich der moderne Zeitgenosse und versinkt schon verzückt im finnischen Meerbusen.
Gut. Jetzt eben nur noch Blockschrift. Wenn überhaupt. Besieht man sich die finnische Sprache, ist dies ehrlich gesagt auch völlig egal: Wörter wie „snapsi“, „mopsi“ oder „idiootti“ verlieren weder handschriftlich noch in Times New Roman an bestrickender Heiterkeit.
Bei einer kahvipausi allerdings gerät man ins Grübeln, wieso es den jungen Finnen eigentlich so schwerfällt, die nötige graphomotorische Routine zu entwickeln, um Wörter hinzukleksen, die aus einer relativ überschaubaren Anzahl an Buchstaben zu bestehen scheinen: Lötköpötkö (Schwimmschlange aus Schaumstoff) oder jäätelötötterö (Eistüte) zum Beispiel bieten doch offensichtlich reichlich Gelegenheit zum Üben gängiger Umlaute. Wiederholung ist bekanntlich nicht die Mutter von Jesus, sondern die des Lernens.
Vielleicht haben finnische Eltern auch einfach nur zu viel Lakritzschnaps getrunken
Oder den Kindern schon früh ein Tablet zum Spielen in die Hand gedrückt. Oder zu viel mit dem Nokia telefoniert, anstatt mal auf die Kinder zu gucken. Damit wären sie ja nicht allein in Europa: Auch in Deutschland gilt schließlich: Digitale Demenz für alle ist auch eine Form von Chancengleichheit.
Aber mal im Ernst: Wie kommt es eigentlich, dass schon frühere Untersuchungen zeigten, dass auch hierzulande etwa 30 Prozent der Jungen und 15 Prozent der Mädchen “ernsthafte Schwierigkeiten beim Erlernen der Handschrift haben”, so Christian Marquardt, wissenschaftlicher Beirat des Schreibmotorik Instituts im bayerischen Heroldsberg.
Wieso ist dies plötzlich der Fall, wo es augenscheinlich doch einmal anders gelaufen ist – und das noch nicht mal schlecht. Kritische Leser mögen an dieser Stelle gerne empört rufen, ich wünschte mir wohl die DDR-Schule zurück. Allein: Das wäre nicht der Fall. Von der gesamten Zone ganz zu schweigen.
Nur: Darf man aber in einer ideologiebefreiten Schule nicht etwas völlig Ideologiefreies, zudem Vernünftiges beibehalten?
Beim besten Willen nämlich kann ich mich an solch raumgreifende Schwierigkeiten beim Erlernen der Schrift in Klasse 1 und 2 erinnern. Weder bei mir, noch bei meinen Klassenkameraden. Waren wir Wunderkinder? Evolutionär auf einer höheren Stufe?
Wohl kaum.
Wer nun also Finnlands Vorpreschen beim Schreiblern-Prozess als denkbare deutsche Praxis preist, der stimmt ein bedenkliches Lied an: Man erkennt ein Problem, das sich als Folge von eigens verbockten eklatanten Fehlentscheidungen und erfrischend profunder Unkenntnis herausstellt und reagiert darauf in der falschest erdenklichen Weise.
Statt zu ermitteln, woran es liegen könnte, dass Menschen offensichtlich einmal vielleicht nicht ganz mühelos, aber doch passabel schreiben gelernt haben und sich auf jene Vermittlungsmethoden zurückzubesinnen, geht man einfach über das Problem hinweg, indem man dessen (vermeintliche) Ursache abschafft und den Kindern ein technisches Hilfsmittel in die Hand gibt – eine Tastatur.
Wäre es dann aber nicht nur folgerichtig, auch das Laufenlernen für Kleinkinder abzuschaffen, weil auch das bekanntlich etwas beschwerlich zu sein pflegt? Weil die Kleinen immer wieder umfallen dabei und sich auf ihren gewindelten Hosenboden setzen? Von den Rückenproblemen der Eltern ganz zu schweigen, die in sich in orthopädisch fragwürdiger Haltung ständig um den herumtapsenden Nachwuchs sorgen müssen. Sollte man darauf nicht reagieren, indem man Anderthalbjährige gleich die Bedienung eines lebenslänglich verordneten, elektronisch zu bedienenden Rollstuhls lehrte? Endlich barrierefrei zum Nachhilfeunterricht, yippieh! Unsere technischen Möglichkeiten gäben das her, kein Zweifel.
Was dabei auch angenehm ist: Keiner muss mehr unnötige Befürchtungen hegen, sich zum digitalen Deppen zu entwickeln. Beruhigung erreicht uns diesbezüglich auch von amerikanischer Seite.
Dort haben kürzlich Ben Storm und Sean Stone, zwei Wissenschaftler der University of California in Santa Cruz, herausgefunden, dass es nun doch alles Quatsch sei mit der “digitalen Demenz”. Dass sich Leute mit Google-Abitur relaxt zurücklehnten könnten, weil sich erwiesen habe, dass man Dinge, die man nicht akut parat haben müsse, ganz gelassen externen Speichern anvertrauen könne, um wieder Platz für Neues im Gehirn zu haben. Klingt toll, überzeugend, effektiv. Auch irgendwie irre gut für die Wirtschaft, die Technik vertickt.
Verfolgen wir dies weiter
Einfach mal einen externen Magen erfinden für die Menschen. Anus praeter gibt’s doch auch schon. Könnte man die überflüssigen Kalorien draußen lagern, während drinnen wieder Platz ist für Eisbein, Döner und Bubble Tea. Das wäre doch schön. Und wegen eines Hörgerätes muss sich auch keiner mehr schämen, wenn Prothesen und Hilfsgeräte allerorten Usus geworden sind. Der eine braucht eben Hilfe beim Hören, der andere beim Verstehen von banalsten Informationen. Lassen wir uns das Smartphone implantieren. Platz wäre ja dann genug. Im Gehirn zum Beispiel.
Dass die Finnen aber trotzdem Recht haben, wenn sie ab 2016 den Schritt zur Abschaffung der Handschrift gehen und ihren Kindern damit wertvolle Lebenszeit schenken wollen, liegt auf der tintenklecksfreien Hand: Wer in einem Land lebt, in dem sich das richtige Leben ausschließlich zwischen Juni und August abspielt und der Rest des Jahres den Menschen ein abwartendes, tangotanzendes Vegetieren in überheizten Wohnungen oder in der Sauna, auf jeden Fall aber im Dunkeln abverlangt, dem sei jegliche Lebenserleichterung von Herzen gegönnt.
Darauf einen gemeinsamen freundschaftlichen Lakritzschnaps. Kippis!
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Statt einer handschriftlichen Unterschrift kann man ja auch drei Kreuze machen. Hat ja früher auch gereicht…