Stürmisch hat das neue Jahr begonnen und wenn man einen ganz frühen Jahresrückblick 2015 wagt, so ist diesen ersten elf Januartagen noch nicht viel Gutes ins Gästebuch zu schreiben. Tatsächlich scheint es eher, als sähen wir der Welt gerade dabei zu, wie sie trudelnd und schlingernd aus den Fugen gerät - am Rande stehend, wie die immer wieder staunenden Kunden an der mit Musik bespielten Fontäne bei Karstadt.
Auf beharrliche Weise will das bohrende Gefühl nicht weichen, dass der oft strapazierte gesunde Menschenverstand zur Stunde krankgeschrieben und eine REHA noch lange nicht in Sicht ist. In Innenstädten werden Fahnen der Besorgnis geschwungen, der Muselmann trinke zu viel Kaffee aus Meißner Porzellan und in Paris scheitert man auf Angst und Schrecken verbreitende Weise an der Diskussion, ob Gott in Frankreich weiterhin Schweinefleisch essen darf oder nicht.
Zu Silvester eben noch unvorstellbar, dass wir alle jetzt Charlie heißen. Zumindest so lange bis uns in der kommenden Woche eine andere durchs Dorf zu treibende Sau neue Namen gibt.
Trotzdem wird erst einmal alles so weiterlaufen wie bisher, trotz dieser rabiaten Defloration des eben noch so jungfräulich vor uns liegenden Jahres. Viele wissen zwar schon theoretisch was uns fehlt (“Wir befinden uns in einer großen moralischen Krise”, erklärt es Richard David Precht. “Die Moral ist ganz schön am Arsch”, sage ich.), aber irgendwie wirkt alles so furchtbar kompliziert mit der Welt, dass man das Weltverbessern schon aufgegeben hat, bevor man einmal beim GLOBUS war. Oder so.
Außerdem scheint der Mitmensch sich bereits sehr zu bemühen, dass alle Menschen gut werden. Schon Mark Twain wusste: “Gut sein ist edel. Andere lehren, gut zu sein, ist noch edler. Und leichter.” Das ficht den Mitmenschen aber nicht an. Im Gegenteil.
Einzigartig ist das Gefallen des Deutschen an Reglementierung und Verbot. Selbst nichtigste Regeln werden in Deutschland mit erstaunlicher Ergeben- und Bereitwilligkeit vom Einwohner befolgt. Viele versuchen ja immer etwas unbeholfen, dem Ausland unser Deutschsein mit dem Oktoberfest zu erklären, dabei müsste man nur pantomimisch darstellen. Wie so der einheimische Fußgänger an einer vollkommen unbefahrenen Straße in eine Art Adhoc-Starre zu fallen droht, sobald sich die Ampel auf rot stellt.
Dieser Gehorsams-Habitus wird gerne eskortiert von der sympathischen Eigenschaft, andere engagiert auf deren Fehlverhalten hinzuweisen. Es ist hervorragend, jemanden zu haben, der einem noch einmal hinterher schreit “Hey, es ist rot!!!” oder einen schon aus 20 m Entfernung anplärrt “Weg da!”, um dann im Ilse-Koch-Timbre zu erläutern: “Das ist ein Radweg!” Überall kleine Hilfs-Sheriffs von Flensburg bis nach Oberammergau: Es ist einfach noch zu viel Kraft auf der Blockwartlunge für viel zu wenige Trompeten.
Bedauerlicherweise erstrecken sich diese Hinweise wirklich nur auf die winzigen Mikrokosmen des Einzelnen. Wie schön wäre es, wenn sich der Stammtischbruder auch mal all die Wirtschaftskriminellen vorknöpfte, und all diese Twingos in der Politik im großen Stile zusammenpfiffe “Heh, das ist ein Irrweg! Haaalllooo, nicht schlafen da hinten im Bundestag! Wie Sie hier den Kapitalismus gerade für sich neu interpretieren, wird er krachen gehen! Alarmstufe Roooooot!”
Aber da fehlt dem Zeitgenossen die Übersicht und der Popo in der Hose. Da reicht es ihm aus, am Tresen und im Treppenflur zu lamentieren, da reicht es ihm aus, ganz ganz kleines Tennis zu spielen und Fußballtrainer am PC zu sein.
Schade. So wird das nichts mit der besseren Welt. Darüber kann man gern unter der Biedermeierstehlampe über einer Tasse Yogitee verzweifeln. Und natürlich stets und ständig über den unangenehmen Schulterschluss von Spitzenpolitik und Wirtschaft lamentieren, “die da oben” am Stammtisch mit harschen Worten auseinandernehmen oder die niedrige Geburtenrate im Vatikan beklagen. Man könnte sich aber auch selbst einfach drauflos bessern, sodass die Welt bald voll von guten Menschen ist.
Gute Menschen dürfen aber natürlich nicht Gutmenschen sagen, denn das stört andere, weil es sich negativ anhöre. Daran kann man schon erkennen: Das wird kompliziert. Geht man diesen Gedankengang wiegenden Schrittes konsequent ein wenig weiter, landet man schnell gar bei sich selbst und stellt fest, dass man selber vom Gutsein noch Lichtjahre entfernt ist: Gegen die Liste meiner Defizite zum Beispiel wirkt das Wittenberger Thesenposter Luthers nahezu wie ein Einkaufszettel.
Jeden Morgen beginne ich zwar ein neues Leben, aber am späten Vormittag ist es damit auch schon wieder vorbei. Und so geht es weiter, dass man beim Maumau schummelt oder sich in dunklen Räumen lesend die Augen verdirbt. Immer wieder herrscht einen der Computer an, man sei irgendwie das Letzte, nämlich ein Mensch mit geringer Passwortstärke. Dass selbst ein starkes Passwort in einer Welt von NSA vielleicht eben so überflüssig sein könnte wie ein Solariumgutschein für Morgan Freeman tut nichts zur Sache: Überall Erniedrigungen, Rückschläge und Schlappen beim Gutwerden!
Trotzdem darf man nicht aufhören mit dem Sich-Bessern! Schon allein, weil es unserer schlechten Seite in die Hände spielt. Man kann sogar damit jemandem eins auswischen. Glaubt man nämlich mal ausnahmsweise der Wissenschaft, dann belohnt uns unser Gehirn dafür, wenn wir Gutes tun. Sogar langfristige Freude würde entstehen.
Das hieße: Wenn wir alle mitmachen, Leute, könnten wir damit 80 % der Pharmaindustrie schlucken … Verzeihung .. schwächen und Pharmavertreter können sich schon mal auf den Mindestlohn einstellen. Wäre das nicht herrlich? Und das wäre erst der Anfang! Ganze Industriezweige könnten heimgehen, wenn wir – als bessere Menschen – unseren Lebensstandard nicht mehr auf Kosten von anderen künstlich hochschrauben, um uns gegenseitig zu übertrumpfen. Das käme der menschlichen Schadenfreude doch auch recht zupass, oder?
Je mehr ich jedoch darüber nachsinne, desto mehr komme ich zu der Ansicht, dass es von uns geradezu schlecht wäre, wenn wir gut würden.
Deshalb möchte ich zum Abschluss einen anderen Vorschlag machen. Den zur GÜTE. Ich bin für mehr Güte in der Welt. Wir brauchen weder Gutmenschen noch ausschließlich gute Menschen, aber eines ist sicher: Es bedarf viel mehr Menschen mit Milde, leisem Humor und Verständnis, man kann es auch gern Barmherzigkeit nennen. GÜTIGE Menschen eben. Das wäre doch gar nicht SCHLECHT.
In diesem Sinne: Geben wir diesem 2015 eine zweite Chance?
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