Dass es Nietzsche mit alten Tafeln nicht so hatte, kann man in seinem populärsten Werk nachlesen. In "Also sprach Zarathustra" lässt er seinen persischen Prediger gegen die Guten wettern, die den Schaffenden, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, kreuzigen wollen. Was in diesem "vierten Evangelium" des studierten Philologen schon anklingt, ist die von Nietzsche angekündigte Umwertung aller Werte, die bisher bestand hatten und über Jahrtausende vor sich hinsedimentierten. Und damit die "Menschen-Zukunft" verhindern. "Die Guten - die waren immer der Anfang vom Ende. Nun hat er dennoch eine Tafel in Leipzig, wenigstens eine neue.
Das Wort vom Tode Gottes, das nicht erst Nietzsche erfunden hatte, dürfte den meisten bekannt sein. Dass es Nietzsche dabei nicht primär um die Zerstörung des Glaubens im Allgemeinen ging, ist allerdings weniger bekannt. Mit dem Tod Gottes begann der Abgesang auf die abendländische Metaphysik, deren Grund bis dahin durch Theologie getragen wurde. Dass Nietzsche die Sprengkraft dieser Gedanken, für die zur damaligen Zeit keiner Ohren und Auge hatte, sehr wohl bewusst waren, zeigt das Kapitel vom tollen Menschen aus seinem Buch “Die Fröhliche Wissenschaft”. Dort lässt er die verwirrte Person, die vom Tod Gottes auf dem Markt (Agora), dem Ausgangspunkt und Zentrum der abendländischen Metaphysik, spricht, sagen: “Ich komme zu früh … ich bin noch nicht an der Zeit.”
Dieser Unzeitgemäße ist nun auf besondere Weise mit der Stadt Leipzig verbunden. Zu seinem 170. Geburtstag würdigt ihn die Stadt endlich mit einer Gedenktafel, die am gestrigen Mittwoch am Haus in der Hinrichsenstraße 32 (Waldstraßenviertel) enthüllt wurde. Dieses Haus ist das einzige mit direktem Bezug, das heute noch steht. Alle anderen Aufenthaltsorte Nietzsches sind nicht mehr erhalten. Initiiert wurde die Tafel vom Verein Freunde von Röcken e. V. Die Gestaltung übernahm der Grafiker und Typograf Harald Alff.
Und wenn schon am Haus an ihn erinnert wird, hier mal ein kurzes Abriss der Wege eines großen Denkers. Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 als Sohn eines protestantischen Pfarrers in Röcken (bei Lützen) geboren, wuchs nach dem frühen Tod des Vaters in Naumburg bei Mutter, Schwester und Großmutter auf. Er besuchte das Domgymnasium in Naumburg und die Landesschule Pforta. An letzterer reiht er sich ein in die Liste berühmter Persönlichkeiten wie dem Dichter Klopstock oder den Philosophen Johann Gottlieb Fichte.
Nach einer kurzen Studienzeit in Bonn, in der er neben Philologie auch Theologie studierte, kommt Nietzsche an die Elster, um sich von 1865-1869 gänzlich der Philologie zu widmen. Der Wechsel seines Philologieprofessors Friedrich Ritschl war dafür ein willkommener Anlass. Danach wurde er, ohne Promotion und ohne seine Habilitation absolviert zu haben, Professor für Philologie an der Universität Basel. Doch schon mit seinem Erstlingswerk “Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik” macht er sich bei den Kollegen akademisch unmöglich. Schon diese Schrift, die von der Freundschaft zu Richard Wagner, die später zu erbitterter Feindschaft werden sollte, beseelt war, kam zu früh.
Danach avancierte er zum freien Philosophen, der immer wieder mit physischen und psychischen Leiden zu kämpfen hatte, bis er 1889 in Turin einen geistigen Zusammenbruch erlitt, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Er starb am 25. August 1900 in geistiger Umnachtung in Weimar, wo sich seine Schwester um ihn “kümmerte”. Ihr ist es zu verdanken, dass eines der bedeutendsten Werke der Philosophiegeschichte durch Fälschung und Verschweigen von den Nationalsozialisten korrumpiert werden konnte. Erst durch die Arbeit der kritischen Theorie und den Bemühungen der französischen Philosophie des 20. Jahrhundert konnte Nietzsche rehabilitiert werden.
Namen wie Adorno, Horkheimer, Sartre, Foucualt, Bataille aber auch Heidegger müssen in diesem Zusammenhang genannt werden. Aber auch vor der Verunglimpfung seines Werkes war Nietzsche Impulsgeber für die gesamte Künstlergeneration der Moderne. Allen voran Thomas Mann, in dessen Werk Nietzsche immer präsent ist.
Dr. Ralf Eichenberg, der zusammen mit Kulturamtsleiterin Susanne Kucharski-Huniat die Tafel enthüllte, unterstrich in seiner Eröffnungsrede den besonderen Status Leipzigs für Nietzsche. Hier wurde er zu einem Leitstern der Leipziger Philologie, hier lernte er Wagner kennen, entdeckte in Antiquariat Schopenhauers “Die Welt als Wille und Vorstellung”, das ihn nachhaltig prägen sollte. Und natürlich war Leipzig sein Verlagsstandort, an den er immer wieder zurückkehrte, um für seine Bücher, die er später im Eigenverlag produzieren musste, weil keiner sie kaufen wollte, Werbung zu machen. Im Haus der heutigen Hinrichsenstraße 32 entstand zudem das Druckmanusskript für Nietzsches Hauptwerk “Jenseits von Gut und Böse”.
Die Lage der Wohnung in der damaligen Auenstraße 26 faszinierte Nietzsche auch deshalb, weil das Rosental in unmittelbarer Nähe ist. Dorthin verschlug es Nietzsche immer wieder um Carmen zu hören oder Cognac zu trinken, der ihm allerdings nicht schmeckte.
Walter Janicaud, Sohn von Nietzsches damaligem Vermieter, erinnerte sich an den auf dem Höhenpunkt seines Schaffens angekommen Nietzsche und schrieb seine Eindrücke zum zehnten Todestag (1910) auf. Nietzsches Stübchen im Leipziger “Nietzschehaus” war schlicht. Überhaupt muss Nietzsche nach den Hinweisen Janicaud’s sehr zurückgezogen gelebt haben. “Daher ahnte niemand von uns, dass er bei uns bedeutende Werke vorbereitete.” Zum Beispiel den Zarathustra. Lebhaft erinnert sich Janicuad in seinem Bericht an die “tadellos weißen Hosen” die Nietzsche des Sonntags zu tragen pflegte und an das liebenswürdige Auftreten des “Herrn Professors”, der auch schon zur damaligen Zeit unter schweren Migräneanfällen litt. “Ein Gentleman auch im Kleinen, ein Löwe am Schreibtisch.” Eben jener Schreibtisch, der für den Antichristen herhalten musste, sei es gewesen, der laut Janicaud so manchem Theologiestudenten den Dienst versagte.
Wer an den Wochenenden Zeit hat und nichts mit sich anzufangen weiß, dem empfiehlt sich ein Ausflug in das 20 Kilometer entfernte Röcken. Dort kann man das Geburtshaus Nietzsches besuchen, die nicht unumstrittene Skulpturengruppe von Klaus Messerschmitt begutachten, um die Kirche, in der sein Vater predigte wandern und am Grad des Philologen/Philosophen/Dichter verweilen und sich fragen, ob er es gut gefunden hätte, neben seiner Schwester die Ewigkeit zu verbringen.
Die etwas biedere wirkende Tafel an der Fassade der Hauswand in der Hinrichsenstraße, ist die erste, die in Leipzig an Nietzsche erinnert, obwohl dieser in und um Leipzig zeitlebens sehr präsent war. Weniger Wagner mehr Nietzsche, möchte man schreien. Weniger Deutschtümelei, mehr gute Europäer. Diese Tafel kommt nicht zu früh, sie kommt zu spät. Nietzsche wird das egal sein.
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