Was kommt eigentlich dabei heraus, wenn eine Künstlerin einen Aufruf startet, um Leipziger zum Gespräch über den Herbst 1989 einzuladen? Nicht die üblichen Allgegenwärtigen, die schon alles gesagt haben zu ihrem Anteil an diesem Herbst, sondern querbeet - vor allem die Menschen zwischen 50 und 60, für die der Herbst auch einen Bruch in ihrem Leben bedeutete? Was haben sie 25 Jahre später zu erzählen?
Das war die Grundidee für das Projekt, mit dem sich die Künstlerin Sigrid Sandmann am Lichtfest 2014 beteiligen will. Ihre Idee ist eine große Wortwolke am InterCity-Hotel am Tröndlinring. Sie hätte zwar auch einfach die üblichen Worte nehmen können – “Wir sind das Volk!” oder “Keine Gewalt!”. Aber sie wollte herausfinden, wie die damals jungen Erwachsenen mit der Friedlichen Revolution und der Veränderung in ihrem eigenen Leben umgingen – die sogenannte “zweite Wendegeneration”. Die erste, das waren die damals schon Älteren die heute schon Senioren sind. Die dritte Generation – die damaligen Kinder und Jugendlichen – wurden schon mehrfach thematisiert. Die Zwischengeneration aber ging irgendwie immer unter. Sie musste mitten in ihrer Berufskarriere den Umbruch verkraften, musste reagieren auf das, was da geschah. Oder war selbst dabei auf dem Ring, bei den Montagsdemonstrationen. Aber nicht nur.
Dutzende Leipziger aus der Generation der heute 50- bis 60jährigen folgten dem Aufruf von Sigrid Sandmann, den sie im Juli über die Medien lancierte. Mit 18 führte sie in den vergangenen Tagen intensive Gespräche. Meist im persönlichen Umfeld – die Interviewten öffneten ihre Wohnungen für die Künstlerin, die die Gespräche aufzeichnete, um sie nach ihrer Leipzig-Recherche in aller Ruhe anzuhören, zu filtern und jene Fragmente herauszuschälen, die ihr als wesentliches Element aller Interviews erscheinen.
Welche das sind, weiß sie noch nicht. Das Projekt ist noch in der Entstehung. Mit einigen Leipzigern hat sie telefonische Interviews vereinbart, nachdem sie mit den anderen schon in deren heimischen vier Wänden, im Café oder im Hotel am Tröndlinring gesprochen hat.
Dabei hat sie selbst einen Impuls gesetzt, den sonstige Interviewer zur Friedlichen Revolution meist nicht setzen: Sie fragte nach dem auslösenden Moment der Bewegung, die die Befragten 1989 erlebten. Nicht nach ihrem Marsch um den Ring. Denn das war ja für Viele schon das Ergebnis einer Bewegung, die längst im Gange war. Für andere wurden die Montagsdemonstrationen erst zum Auslöser, andere erlebten die folgenden wirtschaftlichen Umbrüche als Aufbruchsmoment.
Das Überraschende für Sigrid Sandmann war, wie reflektiert sich ihre Interviewpartner mit diesem Herbst 1989 und ihrem folgenden Leben auseinandersetzten. Natürlich, so sagt sie, ist das eine besondere Gruppe, die sich da freiwillig zum Gespräch meldete. Die Enttäuschten, Verbitterten, Zornigen haben sich nicht gemeldet. “Davor hatte ich schon ein bisschen Angst”, sagt die Künstlerin. Auch dass sie nun vielleicht den Frust abbekäme, der eigentlich den Verhältnissen galt.
Aber eine Bestätigung des gewohnten monolithischen Bildes der Friedlichen Revolution seien die Interviews auch nicht. Da seien durchaus unterschiedliche Sichten und Wertungen dabei, so Sandmann, “ganz eigene Erfahrungen und Erinnerungen”. Das Gemeinsame aber trotzdem: der Moment des In-Bewegung-Gesetztseins. Wahrscheinlich sogar die wichtigste Grunderfahrung dieses Jahres 1989, das die ganze Gesellschaft, die so erstarrt schien, umkrempelte.
Und die zweite Grunderfahrung: dass das in Leipzig so friedlich passierte. “Dafür sind viele der Befragten noch heute richtig dankbar”, sagt Sandmann.
Das gesammelte Material will sie nun daheim am Computer in aller Ruhe noch einmal anhören, filtern und am Ende die wichtigsten Elemente herausziehen. Das können Worte sein, aber auch Sätze. Es kann durchaus passieren, das sich mancher Interviewte nicht gleich wiederfindet, wenn die Wortwolken am 9. Oktober auf die Fassade des Hotels InterCity projiziert werden. “Es kann aber auch passieren, dass sich ganz andere Menschen wiedererkennen”, sagt Sandmann.
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Manches wird auch nicht gänzlich zu lesen sein. Wird einfach abbrechen. Wie Gedanken manchmal abbrechen, wenn man in einer großen, aufwühlenden Bewegung ist und schon die nächste Veränderung drängt.
Die Worte werden mit drei Beamern an die Fassade geworfen und in Ein-Minuten-Intervallen insgesamt wohl acht Minuten dauern, bevor die Schleife von vorn beginnt. Wer alles sehen möchte, wird also wohl ein Weilchen verharren müssen.
Die Interviews will Sigrid Sandmann auf jeden Fall archivieren. Denn da sie nicht als Journalistin oder Wissenschaftlerin kam, haben die Gespräche etwas Einmaliges. Ihre Gesprächspartner erzählten auch, wie sie mit den Veränderungen umgingen, wie sie ihr Leben umkrempelten und wie sie es selbst einschätzen. Und auch die unsichtbare Grenze zwischen Ost und West fragte Sandmann nach, die heute noch bei Manchem im Kopf existiert. Erstaunlicherweise bei ihren Leipziger Gesprächspartnern kaum noch. “Das kenne ich aus dem Westen anderes”, sagt Sandmann.
Ihr Kunstprojekt ist also keines, das beim Herbst ’89 stehen bleibt, sondern all dem Raum gibt, was die damaligen Leipziger für sich daraus gemacht haben. Wer einmal in Bewegung ist, der krempelt auch sein eigenes Leben um und wartet nicht, bis ein großer Retter kommt. Wahrscheinlich ist genau das jener Moment, auf den die Leipziger wirklich stolz sind. Bis heute.
Da kann man gespannt sein, was davon dann an der Fassade des InterCity-Hotels zu lesen sein wird.
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