Nietzsche, Marx, Walter Benjamin und plötzlich eine Wende. Nationalsozialismus, globaler Imperialismus, zerstörtes ostdeutsches Wir-Gefühl und Al Quaida. Christoph Türcke, Professor für Theorie an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst spielt die ganze Klaviatur des Denkens in einer höchst aktuellen Suche. Nach neuen Utopien, Solidarität und einem alten Wort. Heimat. In seinem Buch "Heimat - Eine Rehabilitierung" und im langen L-IZ - Interview mit "3Viertel"-Chefredakteur Moritz Arand.
In ihrem Buch “Heimat – Eine Rehabilitierung” entwickeln Sie den Gedanken, dass die erste Heimat des Menschen der Mutterleib ist, aus dem er aber alsbald ausscheiden muss. Dorthin, in diesen ersten Utopos, will das Individuum zurück. Daran anknüpfend nun die Frage, ob wir nicht schon als Utopisten auf die Welt kommen?
Das kann man so sagen. Geboren werden ist ja nichts Angenehmes. Man wird aus der schützenden, bergenden Hülle eines Mutterleibs herausgepresst. Das Neugeborene will dorthin wieder zurück, aber der Rückweg ist ihm versperrt. Die Geburt macht den Mutterleib zum Utopos, zum Nicht-Ort und den Säugling gewissermaßen zum Utopisten. Nie ist ein Mensch fremder als im Moment seiner Geburt. Er hat seine erste Heimat bereits verloren. Diese erste Heimat war freilich noch keine konkrete Heimat, weil man im Mutterleib noch gar nicht voll erlebnisfähig ist. Die erste konkrete, also wirklich erlebte Heimat muss man sich auch schon erarbeiten.
Man ist buchstäblich in fremder Umgebung ausgesetzt worden und muss ihr erst anwachsen. Dadurch wird sie konkrete Heimat. Die aber ist immer schon verwiesen auf etwas, was ihr voraus liegt und fehlt, etwas, was niemand wirklich erlebt hat – den Utopos der ersten Heimat. Ernst Bloch sagt treffend: Heimat ist etwas, was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.
Das nicht mehr geborgen sein, die Entfremdung aus dem Mutterleib erzeugt einen starken Anschlusswunsch, der in das Nicht-mehr zurück will. Wann wird dieser durchaus menschliche Wunsch pathogen?
Pathogen ist er immer. Das griechische Wort “Pathos” heißt Leiden und Leidenschaft, genau wie das lateinische “passio”. Und die Menschwerdung ist ein zutiefst pathologischer Prozess gewesen. Die Altsteinzeit war eine Passionszeit ersten Ranges. Die Unterscheidung zwischen gesund und krank, die später in einem medizinischen oder soziologischen Sinn vorgenommen wurde, ist sekundär gegenüber dem primären pathologischen Verlauf. Das Geburtstrauma ist alles andere als ein Spaß.
Genauso wie der traumatische Wiederholungszwang, der einst dazu führte, dass Menschen erlebten Schrecken durch Wiederholung abzubauen versuchten – woraus sich dann die Opferriten entwickelt haben. Sowohl gattungsgeschichtlich als auch individualgeschichtlich ist das spezifisch Menschliche eine besondere Art der Bearbeitung von Traumata. Daraus, und nicht aus Jux, ist Kultur entstanden.
Nietzsches Diktum “Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit” kann man wunderbar auf Kulturbildung wenden. Schmerz will aufhören. Er verlangt, weggearbeitet zu werden. Und diese Anstrengung führt zur Kultur. Lust nicht. Lust will bleiben, ist träge und macht träge. Ich sage das nicht mit moralisch erhobenem Zeigefinger. Ein träge in sich ruhendes Dasein wäre etwas Wunderbares. Leider gestattet unsere Umwelt das lediglich in geringem Maße.
Die Wiedergewinnung des Flüchtigen kommt hier ins Spiel. Weltgeschichtlich ist die Utopie ja auch nur in Annäherungen realisiert worden. Ist Utopie immer flüchtig?
Utopien sind zumindest nie voll realisierbar. Man kann sich ihnen annähern. Es kann allerlei davon Wirklichkeit werden. Nehmen wir die Menschenrechte. Der Altsteinzeit waren sie völlig fern – utopisch in jeder Hinsicht. In der europäischen Neuzeit ist hingegen viel davon realisiert worden. Nur ist die Realisierung immer auch scheinhaft geblieben. Menschenrechte sind real und Schein zugleich. Wir haben sie, jawohl, und trotzdem wäre es lachhaft zu behaupten, das, was die Menschenrechte intendieren, wäre realisiert. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – heute sagt man besser:
Solidarität – existieren aufs Ganze gesehen in geringem Maße. Freiheit als vollständige ungegängelte Entfaltung gibt es nicht. Es gibt diverse hart erkämpfte und kostbare Freiheiten. Auch Gleichheit gibt es nicht in jeder Hinsicht. Das wäre auch nicht erstrebenswert. Gleichberechtigung schon. Gleichmacherei oder Gleichschaltung – eine Methode der Nazis – hingegen nicht.
Wenn man das Unerreichte, also die utopische Dimension in den Menschenrechten nicht mitdenkt, dann pervertiert man sie. Es gibt ganze Weltgegenden, in denen die Menschenrechte von vornherein als pervertiert erlebt worden sind. Nämlich überall dort außerhalb Europas und Nordamerikas, wo sie zugleich mit einem imperialen Kapitalismus importiert wurden. Dort hat man die Erfahrung des Emanzipatorischen gar nicht machen können, die ursprünglich mit den Menschenrechten verbunden waren. Als Importprodukt des Westens zerstörten sie zugleich herkömmliche kulturelle Zusammenhänge anderer Weltgegenden.
Deswegen werden sie dort abgelehnt. Das muss man mitdenken, wenn man begreifen will was Al Quaida heutzutage macht. Natürlich tun die Grauenhaftes. Aber der Islamismus lässt sich besser begreifen und bekämpfen, wenn man sich auf die utopische Dimension der Menschenrechte besinnt.
Man könnte nun aber auch sagen, dass Utopia nicht als fernes Wetterleuchten zu verstehen ist, sondern bereits in unsere Realität angekommen sei. Wir haben scheinbar Zugriff auf alles, müssen es nur gebrauchen. Oder lässt uns die schöne neue Welt nur glauben, dass wir frei wären?
Erstens haben nicht alle Zugriff auf alles. Zweitens wäre ein solcher Zugriff auch alles andere als ein realisiertes Utopia, solange er unter globalem Konkurrenzzwang stattfindet: der Geheimdienste, der Massenmedien, der Firmen. Die Rede vom Zugriff auf alles weckt lediglich eine Allmachtsphantasie. Es wird dem Ottonormalverbraucher suggeriert, er wäre Chef. Das schmeichelt dem Konsumenten und er vergisst, dass er eigentlich Knecht ist. Das Smartphone macht glauben, die Welt wäre bei mir zu Gast, obwohl es mich an eine unsichtbare Kette bindet. Immer online sein wurde anfangs als Befreiung verkauft. Doch schon damals war absehbar, dass es eigentlich ein ganz furchtbarer Stress ist. Die Leute in den Unternehmen ertragen es immer weniger. Sie brauchen Auszeiten.
Wenn Sie sagen wir hängen an einer unsichtbaren Kette, dann kommt in diesem Zusammenhang der oben schon erwähnte Anschlusswunsch wieder zum Tragen. Wir hängen an der Nabelschnur einer durchdigitalisierten Welt mit dem Wunsch, Geborgenheit zu regenerieren.
Das ist eine interessante Assoziation dazu. Wieder an der Mutterbrust, am Tropf zu hängen ist ein regressiver Wunsch. Aber ich glaube, die Smartphonereklame füttert eher die Allmachtsphantasie, was das Gegenteil von Regression ist. In gewisser Weise berühren sich diese Extreme aber auch. In beiden Fällen wird ein utopischer Zustand suggeriert, der keine widrigen Daseinsbedingungen mehr haben soll. Eins sein mit den Daseinsbedingungen und von ihnen keinen Widerstand mehr erfahren ist so etwas wie das Land, wo Milch und Honig fließt. Das ist ein klassisches utopisches Bild, in dem beides drinsteckt: einerseits Rückkehr an die Mutterbrust, andererseits die Vorstellung eine Landes, das wir optimal kanalisiert haben, so dass alle Quellen fließen. Vielleicht hatte Marx letzteres im Hinterkopf, als er vom Fließen aller Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums sprach und daran dann seine eigene Utopie knüpfte: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.
Milch und Honig ernähren. Verhungern wir am Smartphone?
Wenn wir nur noch das haben, dann ja. Denken Sie an den Mythos vom König Midas, der sich wünschte, dass alles, was er berühre, zu Gold werde. Das stellte sich sehr schnell als außerordentlich ungünstig heraus.
Neben der digitalen Kette hängen wir auch an einer historischen Kette, deren Glieder wir selber sind und die wir fortführen und mit uns schleppen. Wir bekommen etwas mit, das bearbeitet werden muss. Der traumatische Wiederholungszwang in der Geschichte zeigt aber, dass es eben nicht besser wurde. An manchen Stellen eher schlechter. Wie kommen wir denn aus diesem Teufelskreis heraus? Wie machen wir es anders?
Der traumatische Wiederholungszwang ist der Inbegriff des Dialektischen. Einerseits wiederholt er. Wiederholen heißt bestätigen, bejahen, bekräftigen. Andererseits ist diese Bejahung eine verzweifelte Form der Verneinung. Das Bejahte soll durch seine ständige Wiederholung aufhören, weh zu tun. Zum traumatischen Wiederholungszwang gehört, dass er selber sein eigenes Ende wünscht. Ob er dahin kommt, ist eine andere Frage. Allerdings ist er nicht nur Nervenzerrütter, sondern zugleich Kulturstifter. Aus dem Wiederholungszwang ist im Laufe von Jahrtausenden alles Mögliche hervorgegangen: Rituale, Institutionen, Gesetze, Grammatiken. Er ist darin über sich selbst hinausgewachsen – hat sich sublimiert. Sublimierung ist immer zweierlei. Einerseits verschwindet das, was sublimiert wird, nie völlig, andererseits wird es in einem hohen Maße überwunden. Die Dialektik der Sublimierung gehört zum traumatischen Wiederholungszwang dazu.
Es gibt die These, dass mit dem Fall der innerdeutschen Grenze die Wir-Utopien durch die Ich-Utopie abgelöst wurde. Würden Sie dem zustimmen?
Ein bestimmtes ostdeutsches Zusammengehörigkeitsgefühl ist da sicherlich kaputt gegangen. An dessen Stelle trat die Ich-AG. Das ist eine richtige Beobachtung. Aber der Schluss daraus, dass es keine Wir-Utopien mehr gebe, ist etwas kühn. Schauen Sie sich das ganze Coporate-Design an. Es ist dazu da, Leute systematisch zur Identifikation mit der Firma, in der sie arbeiten, zu ermuntern, um nicht zu sagen, zu treiben. Das Erscheinungsbild, das Firmen heutzutage von sich ausstrahlen, ist ihr utopischer Strahlenkranz.
Von generellem Verschwinden der Wir-Utopie kann also keine Rede sein. Auch in der Produktreklame werden ständig Gemeinschaftsutopien suggeriert. Come together. Besonders stark ist das Wir-Gefühl in Bevölkerungen, die sich durch moderne, informelle Lebensweisen bedroht fühlen. Dort geht der Fundamentalismus um. Fundamentalismus ist rückwärtsgewandte Utopie. Er klammert sich verzweifelt an Fundamente, die er als wegbrechend oder schon weggebrochen erlebt. Das ist übrigens auch ein Schlüssel zum Verständnis des Fanatismus. Fanatismus hat immer das Moment der Schwäche und des latenten Unglaubens an sich.
Zum Schluss die Frage: Wohin fahren wir? Oder: Was brauchen wir, damit gleiche Übel nicht immer und immer wieder geschehen?
Auf der Fahrt ins Ungewisse brauchen wir vor allem gute Bremsen. Ganz im Sinne des Satzes von Walter Benjamin: Marx hielt die Revolution für die Lokomotive der Weltgeschichte. Doch vielleicht ist sie eher der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse. Bremstätigkeit auf allen Gebieten des persönlichen und sozialen Lebens ist gegenwärtig entscheidend, um die global tyrannisierende Beschleunigung zu zähmen. Auch um die exponentiell steigende Unruhe, die Aufmerksamkeitsdefizitkultur, zu bekämpfen. Es müssen Inseln der Beruhigung und des Innehaltens geschaffen werden. Das sind zwar noch keine utopischen Inseln. Aber sie könnten einen Vorschein der Utopie enthalten. Von solchen Inseln aus kann man die globale Maschinerie noch mal in Ruhe ansehen und die Systemfrage stellen: Wollen wir das globale kapitalistische System denn wirklich haben?
Marx kehrt also doch zurück?
Damit kämen all die Einwände, die seit Marx gegen den Kapitalismus vorgebracht wurden, zur Neuverhandlung wieder aufs Tapet. Natürlich ist der im Osten praktizierte Sozialismus nicht die Lösung gewesen, eher eine Verschlimmbesserung des Systems, das er überwinden sollte. Aber die Systemfrage bleibt. In der Zusammenbruchszeit des Ostblocks ist sie verdrängt worden. Aber Verdrängtes hat die Eigenart wiederzukehren. Zu wünschen wäre eine besonnene Wiederkehr: eine globale Rückbesinnung auf die entscheidende Systemfrage. Dann hätten wir einen neuen Silberstreif am Horizont.
Christoph Türcke, 1948 in Hameln an der Weser geboren, ist Professor für Theorie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (ab dem 30.01.2014 emeritiert). Er studierte Evangelische Theologie und Philosophie, war Gastregisseur am Jungen Theater Göttingen und Kulturberater der Stadt Leipzig. 2007 erhielt er als Erster den Sigmund-Freud-Kulturpreis, der alle zwei Jahre an Nicht-Psychoanalytiker, die die Psychoanalyse in kreativ-kritischer Weise aufnehmen, vergeben wird.
Im C.H.Beck Verlag erschien letztens sein neuestes Buch “Hyperaktiv: Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur”.
Informationen auf wiki zu Prof. Dr. Christoph Türcke
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