Es stimme ihn eher nachdenklich, dass erst ein - noch immer umstrittenes - Rüstungsprojekt den gemeinsamen europäischen Sicherheitsraum ohne Trennlinien schaffen soll, sagt der Sicherheitsexperte Wolfgang Richter über das Projekt eines Raketenabwehrsystems in Europa. Teil II des L-IZ-Interviews zu Abrüstungsfragen.
Der geplante Raketenabwehrschirm der NATO und eine mögliche Einbindung Russlands in das Projekt befindet sich in der aktuellen Diskussion. Welche Chancen birgt eine solche Kooperation aus Ihrer Sicht, und wo liegen mögliche Konfliktfelder?
Das Projekt einer Raketenabwehr der NATO in Kooperation mit Russland eröffnet die historische Chance, im Verhältnis zu Russland die bipolare Abschreckungs- und Rückversicherungsmentalität zu überwinden und durch die politisch-militärische Integration in ein gemeinsames Verteidigungsprojekt zu ersetzen. Die euphorische Bewertung, dass somit nun endlich zwei Dekaden nach dem Ende des Kalten Krieges die Vision vom “gemeinsamen Haus Europa” Gestalt annehmen könnte, welche die Gründungsväter der OSZE seit der deutschen Wiedervereinigung und der Charta von Paris Ende 1990 im Blick hatten (Wolfgang Ischinger, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.06.2011), teile ich allerdings nicht.
Es stimmt mich eher nachdenklich, dass erst ein – noch immer umstrittenes – Rüstungsprojekt den gemeinsamen europäischen Sicherheitsraum ohne Trennlinien schaffen soll, der nach der historischen Wende von 1990 auf den Grundfesten der OSZE und der europäischen Rüstungskontrolle errichtet werden sollte. Dies umso mehr, als diese beiden Säulen in der vergangenen Dekade eine systematische Abwertung erfuhren, obwohl alle OSZE-Staaten noch in Istanbul 1999 sehr konkrete Verpflichtungen in dieser Hinsicht eingegangen sind und bei hochrangigen OSZE-Treffen nicht müde werden, entsprechende Lippenbekenntnisse abzugeben, wie zuletzt in Astana im Dezember 2010.
Hat die im letzten Herbst beschlossene neue NATO-Strategie hier neue Akzente gesetzt?
Im Lissaboner strategischen Konzept der NATO vom Oktober 2010 findet die OSZE überhaupt keine Erwähnung; auch für die Zukunft der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa sendet es keine überzeugenden Signale aus.
Wirklich neu und zentral platziert ist das Angebot der NATO zur strategischen Kooperation mit Russland, vor allem im Bereich der Raketenverteidigung. Allerdings sind im Hinblick auf die Realisierung dieses Projekts Interessengegensätze und konzeptionelle Widersprüche noch längst nicht ausgeräumt. Dies gilt übrigens nicht nur im Verhältnis zu Russland.
*Können Sie das bitte näher erläutern?
Erstens werden die konzeptionellen Konsequenzen der Option auf Schadensbegrenzung gegen Raketenangriffe für das nukleare Abschreckungsdispositiv der NATO, insbesondere für die Rolle substrategischer Kernwaffen, auch im Bündnis noch äußerst kontrovers diskutiert.
Skepsis ist – zweitens – auch bei der Frage angebracht, ob das Projekt die nukleare Abrüstung befördert oder Staaten wie China (und Russland, falls die Kooperation scheitert) zu Gegenmaßnahmen, also weiterer Aufrüstung veranlasst. Dies gilt umso mehr, als quantitative Sättigung und technische bzw. elektronische Täuschung und Störung geeignete Mittel sind, um die Raketenabwehr zu überwinden. Insofern trifft auch der Begriff “Raketenabwehrschirm” nicht ganz zu: Er erweckt den Eindruck einer zuverlässigen Abwehrgarantie; nach seinen technischen Fähigkeiten und somit auch konzeptionell handelt es sich aber eher um ein Projekt der Schadensbegrenzung.
Drittens scheint die Frage im Bündnis nicht ernsthaft erwogen zu werden, wie es sich positionieren würde, wenn eine Verhandlungslösung für eine friedliche Entwicklung des iranischen Atomprogramms gefunden werden könnte oder der Iran auf Nuklearwaffen verzichten und sich lediglich wie Deutschland oder Japan mit nuklearen Schwellenfähigkeiten begnügen würde.
Das Angebot der NATO an Russland zur strategischen Kooperation steht – viertens – in einem merkwürdigen Widerspruch zur gleichzeitig postulierten militärischen “Rückversicherung” in Europa und zum bipolaren Begründungsduktus für substrategische Nuklearwaffen.
Bestehen weitere offene Fragen?
Aus russischer Sicht sind – fünftens – die Bedenken hinsichtlich einer künftigen Unterminierung der russischen strategischen Zweitschlagfähigkeit noch nicht ausgeräumt. Dies wird davon abhängen, welche Fähigkeiten das Raketenabwehrsystem in Europa in einer künftigen technischen Ausbaustufe haben wird: Ob es geographisch und technisch auf eine Bedrohung durch Kurz- und Mittelstreckenraketen aus der südöstlichen Peripherie Europas begrenzt wird, in welcher Weise es das globale Abwehrsystem der USA ergänzt und wie autonom die USA bzw. die NATO die Systemoperationen führen werden.
Klar ist schon jetzt, dass die NATO Russland keine Mitsprache bei der Abschussentscheidung und -leitung über NATO-Gebiet einräumen wird. Dies gilt natürlich umgekehrt aus russischer Sicht auch für russisches Territorium. Dies könnte eine NATO-Reaktion auf Raketen, die aus der südlichen Nachbarschaft Russlands gestartet wurden, zumindest in der Anfangsflugphase einschränken. Jedenfalls haben somit weder das Modell einer gemeinsamen Kommandozentrale noch die von Russland favorisierte Lösung einer sektoralen Verantwortungsteilung eine Chance auf Realisierung.
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Zudem sehen sich die USA – sechstens – angesichts der Widerstände im Kongress nicht in der Lage, auf die von Moskau gewünschte Absicherung der wesentlichen Parameter des Raketenabwehrprojektes durch einen rechtsverbindlichen Vertrag einzugehen.
Was jedoch derzeit – siebtens – möglich erscheint und auf dem Verhandlungstisch liegt, ist eine weitgehende politische und konzeptionelle Beteiligung Russlands, die der Vertrauensbildung und Zusammenarbeit bei der Frühwarnung dienen soll, d. h. kooperative Bedrohungsanalysen, die gemeinsame Nutzung geeigneter Radarsysteme beider Seiten, ein (wohl eher begrenzter) technischer Datenaustausch und der Austausch von Fachpersonal in den Führungs- und Leitzentren bzw. an den Radarstationen und Abschusseinrichtungen. Es bleibt abzuwarten, ob dieses Konzept der Zusammenarbeit und nicht rechtsverbindliche Regierungsabkommen ausreichen, um die russischen Zweifel auszuräumen.
Wie lautet deshalb Ihre Schlussfolgerung?
Beide Seiten müssen bedenken, dass ein Scheitern der kooperativen Gestaltung der Raketenabwehr das NATO-Russland-Verhältnis nachhaltig beschädigen würde: Die USA bzw. die NATO würden das Projekt in jedem Fall weiter verfolgen; Russland würde aller Voraussicht nach zumindest symbolische Gegenmaßnahmen ergreifen, die ihrerseits vor allem in Osteuropa als neue Bedrohung empfunden würden. Dann wäre zu befürchten, dass die Spirale des Misstrauens sich erneut in Bewegung setzt, zumal auch die konventionelle Rüstungskontrolle in Gefahr ist und droht, ihre stabilisierende Rolle zu verlieren. Auch diese Risikoabwägung veranlasst mich zur Skepsis hinsichtlich euphorischer Bewertungen des Rüstungsprojektes für den Bau des “gemeinsamen Hauses Europa”.
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