In der aktuellen „Leipziger Zeitung“ (erschienen am 8. April) gehen die Autoren auf einige Facetten des prekären Lebens in Leipzig ein. Alle Seiten zu beleuchten, das schaffen sie natürlich nicht. Nach über 20 Jahren Vernebelung sind ja Armut und Ausgrenzung auch in Leipzig fast völlig in den Bereich der Nichtwahrnehmung abgedriftet. Oder abgeschoben worden, was wohl eher zutrifft. Stichwort: Kinderarmut.

Ab und zu gibt es zwar eine nette Statistik, mit der sich auch Leipzigs Spitzenpolitik gern die Taschen vollpackt im angetünchten Glauben, das Problem wäre keines, man habe es nicht mit Armut zu tun, bestenfalls mit Armutsgefährdung. Nur der Sozialbürgermeister veröffentlicht ab und zu Berichte, die in dutzenden Kapiteln zeigen, dass Leipzig nach wie vor ein Problem mit der Kinderarmut hat. Und dass man dafür einfach keine Lösungen hat, nur ein paar Hilfsangebote, die das Dilemma nicht lösen.

Wie die Zahlen tatsächlich aussehen, das rechnet Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) immer wieder aus. Gäbe es irgendwo eine Instanz, die auch nur ansatzweise ein Interesse daran hätte, die Folgen der „Agenda 2010“ im Allgemeinen und von „Hartz IV“ im Besonderen zu erforschen und Lehren draus zu ziehen, sie könnte sich für die Zahlen interessieren.

Denn elf Jahre nach Einführung von „Hartz IV“ zeigt sich, dass das bürokratische Armuts-Verwaltungsmonster nicht löst, was es lösen sollte. Es „aktiviert“ die Menschen nicht wirklich, die vorher schon Schwierigkeiten hatten, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Es beseitigt die Barrieren nicht, die Kindern aus armen Familien den gesellschaftlichen Aufstieg verwehren. Es gleicht die Nachteile nicht aus, die diese Kinder im deutschen Aussortier-Bildungswesen haben.

Statt wirklich sinnvolle Angebote zu machen und die betroffenen Familien systematisch aus der Armutsfalle zu holen, werden sie im Gegenteil in einen Kreislauf von Bettelei, Neubeantragung, Sanktion und Bevormundung getrieben. Und während Leipzig zwar immer mehr Arbeitsplätze hat, hat sich der Sockel der Ausgegrenzten regelrecht betoniert. Er schmilzt einfach nicht.

Und das aus denselben Gründen, aus denen mittlerweile selbst in den reichsten Großstädten des Westens die Kinderarmut wieder zunimmt.

Ablesen lässt sich das an der Zahl der Kinder in Bedarfsgemeinschaften. Seit 2013 wächst diese Zahl wieder, ist der schmale Integrationspuffer, der einen Teil der von Armut betroffenen Menschen seit 2005 in Beschäftigung gebracht hat, aufgebraucht.

„Im Dezember 2015 lebten in der Bundesrepublik Deutschland 1,654 Millionen Kinder im Alter von unter 15 Jahren in 976.000 sogenannten SGB II-Bedarfsgemeinschaften“, schreibt Paul M. Schröder. „Dies waren 20.000 Kinder mehr als im Dezember 2014, 51.000 mehr als im Dezember 2012, als der bisher niedrigste Jahresendbestand registriert wurde, und 36.000 weniger als im Dezember 2010.“

Praktisch alle deutschen Großstädte verzeichnen wieder eine Zunahme der Zahl von Kindern in Bedarfsgemeinschaften. Einzige Ausnahmen: Nürnberg und Dresden. Auch Leipzig gehört schon lange wieder zu den Großstädten, in denen die Zahl der SGB-II-Kinder wieder wächst. Hier gab es 2012 den niedrigsten Stand mit 17.320 betroffenen Kindern. Seitdem klettert die Zahl kontinuierlich: 17.483 (2013), 17.540 (2014), 17.653  (2015).

Paul M. Schröder analysiert nur. Er versucht keine Erklärungen für das Phänomen, auch wenn in seinen vielen Analysen auch jede Menge Ansätze für Erklärungen stecken.

„Der Anteil der Kinder im Alter von unter 15 Jahren in SGB II-Bedarfsgemeinschaften reichte im Dezember 2015 in den 15 Großstädten (einschließlich Region Hannover) von 34,0 Prozent in Essen, 32,3 Prozent in Berlin, 31,5 Prozent in Dortmund, 31,0 Prozent in Duisburg, 30,9 Prozent in Bremen (Stadt) und 25,3 Prozent in Leipzig (Rang 6) bis 16,0 Prozent in Dresden (Rang 13), 13,6 Prozent in Stuttgart und 12,1 Prozent in München.“

Was dann auch zu dem Effekt führt, dass Leipzig sich trotz wieder steigender Zahlen sogar in der Position innerhalb der Großstädte verbessert. Denn in den Ruhrgebietsstädten steigt die Zahl der betroffenen Kinder noch stärker.

Sogar Sachsen verbessert seine Position, verbesserte sich – wie Brandenburg – um einen Platz, weil sich die Lage im Saarland dramatisch verschlechterte.

Sachsenweit sank übrigens die Zahl der betroffenen Kinder 2015 von 91.767 auf 87.278, was das Problem natürlich verschleiert. Denn dahinter steckt natürlich auch wieder die umfassende Abwanderung junger Familien aus den Landkreisen in die Großstädte. Sie profitieren vom starken Beschäftigungsaufbau in Städten wie Leipzig, während sich im vorher schon von „Hartz IV“ betroffenen Teil der Leipziger Bevölkerung die Ausweglosigkeit verfestigt.

Möglicherweise ist es das, was die Leipziger Arbeitsvermittler als zu verbessernde Vermittlungsaufgabe bezeichnen. Denn bislang haben sie es sich einfach machen können: Sie haben die neu in Leipzig ankommenden Leipziger in die neu entstehenden Arbeitsplätze vermittelt. Das Bevölkerungswachstum hat sich quasi selbst finanziert. In die Röhre geschaut haben lange Zeit vor allem die Leipziger Minijobber und Aufstocker. Doch auch sie kommen seit ein, zwei Jahren verstärkt an die lukrativeren Vollzeitstellen.

Nur eine Gruppe von Betroffenen ist dauerhaft „draußen“: Das sind die Familien, die man so gern als „bildungsfern“ und „sozial schwach“ bezeichnet, obwohl für sie im erweiterten Sinn genau das gilt, was auch für körperlich behinderte Menschen gilt: Sie werden aufgrund verschiedener Handicaps massiv behindert. Und mit ihnen ihre Kinder. Wobei auch Kinder in vielen Fällen wieder als „Handicap“ gelten – nämlich dann, wenn sie ihre Eltern (oft genug Alleinerziehende) weniger mobil und flexibel sein lassen.

Aber das ist – wie man sieht – nicht nur ein Leipziger Problem. Vor dem Dilemma stehen hunderttausende Eltern bundesweit. Und zwar gerade in den Großstädten. Die Vorstellungen davon, was „modernes“ Arbeiten ist, vertragen sich fast gar nicht mit den notwendigen Rahmenbedingungen für Familiengründung. Die flexible, jederzeit verfügbare (preiswerte) Arbeitskraft kann nicht wirklich gleichzeitig auch noch verantwortliches Elternteil sein. Davon können auch all jene jungen Eltern ein Lied singen, die es mit ungeheurem logistischen Aufwand und Doppeleinkommen irgendwie hinbiegen, Arbeit, Einkommen und Familie in Einklang zu bringen.

Womit wir bei einem Thema wären, das zwar in den politischen Selbstdefinitionen einer Stadt wie Leipzig immer wieder vorkommt: Das ist die familiengerechte Stadt. Was Verwaltung und Stadtrat lieber in dieser Formulierung nicht zum Arbeitsziel erklärt haben. Lieber arbeitet man auf eine „ausgeglichene Altersstruktur“ hin. Und merkt dabei gar nicht, wie sehr man sich auf die ziemlich automatischen Entwicklungen im demografischen Umfeld verlässt, die für Leipzig derzeit günstig sind. Aber irgendwann beginnt auch das zu kippen. Und dann steht die Stadt ziemlich belämmert da, weil sie das Thema Familiengerechtigkeit nicht gründlich durchdacht und mit Handlungskonzepten untersetzt hat.

Mal so als Handlungsliste, die so eine Ahnung gibt, wo überall umgedacht werden muss:

– familiengerechte Ausbildung, Umschulung, Weiterbildung und Vermittlung in Arbeitsagentur und Jobcenter

– familiengerechte Stadtteilgestaltung (Stadt der kurzen, umweltfreundlichen und familiengerechten Wege)

– familiengerechte ÖPNV-Angebote

– familiengerechtes Bildungssystem

– familiengerechter Wohnungsmarkt

Nur mal als Ausblick zu einigen Arbeitsfeldern, auf denen bislang gar nichts bis sehr wenig passiert ist. Eigentlich sind es auch gleichzeitig Themen der Landespolitik. Aber Kommunal- und Landespolitik sind, wie man weiß, gerade bei diesen Themen schlecht verzahnt und immer wieder Opfer von Parteiinteressen. Aber bevor all das nicht Nr. 1-Thema in den deutschen Großstädten wird, wird die Zahl der Kinder in „Bedarfsgemeinschaften“ weiter wachsen. Und damit wachsen logischerweise auch wieder alle möglichen sozialen Probleme. Die Sozialkosten für die Städte sowieso, die jede Menge Geld aufwenden, um die Folgen bundesdeutscher Sparpolitik aufzufangen, das dringend für echte Integrationsprogramme gebraucht würde.

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Familiengerechte Stadtteilgestaltung, um nur mal einen der nötigen Punkte aufzunehmen, beginnt mit Kitas in Wohnortnähe, bzw der Möglichkeit, diese Kitas besuchen zu können. Stattdessen wandern die Eltern morgens von Grünau nach Möckern, von Wahren nach Thekla, von Gohlis nach Leutzsch, … lässt sich beliebig fortsetzen. Und nur in den wenigsten Fällen ist es der elterliche Wunsch nach einer ganz besonderen Kita, der sie erhebliche Wge in Kauf nehmen lässt. In gefühlten 95% der Wanderer am Morgen ist es die pure Not den ersten besten Platz zu nehmen den man bekommt, niemand weis wann mal wieder einer kommt.

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