Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass bei den Ermittlungen gegen den Ex-BSG Chemie-Geschäftsführer Henry A. polizeiintern seit Jahren etwas gehörig aus dem Ruder läuft, dann wurde er am 26. Mai 2021 um 22:40 Uhr mit einer anonymen Mail erbracht. Unter dem Betreff „Wichtige interne Informationen“ versandte ein anonymer „Proton-Mail“-Nutzer zwei PDFs an den MDR und die Leipziger Stadtverwaltung; hier an das Ordnungsamt und das Referat für Internationale Zusammenarbeit. Das Problem der eingescannten Dokumente im Anhang des kurzen Schreibens neben dem Zeitpunkt des Versandes: Sie stammen offenkundig aus dem Mobiltelefon von Henry A., welches das LKA Sachsen am 28. April 2021 bei der Durchsuchung seiner Wohnung mitnahm und seither auswertet.
Wer Henry A. derzeit telefonisch erreichen möchte, muss die Nummer seiner Freundin anrufen. Er verfügt seit dem 28. April 2021 über kein eigenes Smartphone mehr, das von ihm zuvor genutzte befindet sich beim LKA Sachsen zur Auswertung seiner Chatverläufe, getätigter Anrufe und der sonstigen Daten, die sich darauf befinden.
Darunter zwei von Henry A. selbst eingescannte und nur auf diesem Handy gespeicherte Polizei-Dokumente, welche sich unter anderem um die Überwachung seiner Person und einen Autounfall drehen.Interessant dabei sind die Knickfalze und Abnutzungszeichen am Papier, welche die der LZ vorliegenden PDFs zeigen. Sie gleichen laut Henry A. jenen Unterlagen, die er selbst einscannte und die nun an eine anonyme E-Mail angehangen wurden, um am späten Abend des 26. Mai 2021 an seinen Arbeitgeber und den Mitteldeutschen Rundfunk versandt zu werden.
Interessant ist auch der Zeitpunkt des Versandes.
Er verstärkt noch einmal den Verdacht, dass es einem oder mehreren Ermittlern in Polizeikreisen nach einer detaillierten LZ-Anfrage vom 5. Mai 2021 und den ausbleibenden Beweisen trotz Wohnungsdurchsuchung und Auswertungen gegen A. dämmerte, dass es nach diversen Fehlschlägen zuvor auch im Fall der angeblichen Beteiligung von Henry A. an einem Überfall am 1. September 2019 in Neukieritzsch keine Anklage gegen den Dauerverfolgten geben wird.
Der hämische Begleittext – angeblich von Henry A. unter der Mailadresse h.axxxx@protonmail.com selbst verfasst – spricht jedenfalls von einem Anflug von Verzweiflung.
Hier steht, angeblich von Henry A. an seinen Arbeitgeber, die Stadtverwaltung Leipzig, zu lesen: „Liebe Kolleginnen und Kollegen der Stadt Leipzig, wie ich euch schon länger mitteilen wollte, habe ich in meiner Freizeit ein paar spezielle Hobbies. Dafür dürft ihr euch gerne auch die angehängten PDFs anschauen. Von Betäubungsmittel über Kinder anfahren und anschließendem Abhauen bis zum Verdacht der kriminellen Vereinigung lasse ich nichts aus. Aber lest am besten einfach selbst. Bei Fragen sprecht mich gerne an. Ich kann euch bestimmt auch Auskunft über meine Antifa-Genossin Lina E. aus Connewitz geben.“
Sprachlich und inhaltlich enttarnt neben den beiden derzeit im Besitz des LKA befindlichen Dokumenten sowie die Wahl des anonymen Mailanbieters vor allem der letzte Satz, dass nicht A. selbst die anonyme Mail geschrieben hat. Härter könnte man sich nicht selbst bezichtigen und er soll A. mit einer weiteren Beschuldigung, mit der er nichts zu tun hat, unter Druck setzen.
Und es kommt ein weiteres Indiz hinzu, welches wieder zum anonymen Verfasser des „Compact-Artikels“ vom 29. April 2021 führt. Unterschrieben ist die Mail mit „Euer Henry (Aule)“. Ein Spitzname, der bislang nur in besagtem „Compact“-Text Verwendung fand und den Henry A. bestenfalls als Abwertung aus Lokomotive Leipzig Hooligan-Kreisen kannte, aber niemals selbst nutzte oder so in Freundeskreisen bezeichnet wurde.
Warum auch, im Leipziger Sächsisch heißt es nichts anderes als „Rotze“ oder „Spucke“.
„Compact“-Artikel und Mail: Indizien die zusammenpassen
Viele Möglichkeiten, außer einer hartnäckigen Verfolgung eines Unschuldigen aus LKA-Kreisen heraus, bleiben nach nunmehr acht Jahren immer wieder aufgenommenen und erfolglosen Ermittlungen des LKA Sachsen gegen Henry A. nicht mehr.
Entweder versandte am Mittwoch vergangener Woche ein sächsischer Polizeibeamter über den anonymen Mailservice „Proton“ Inhalte von Henry A.s Mobiltelefon an dessen Arbeitgeber und den MDR. Oder das LKA Sachsen hat ein Scheunentor großes Leck nach rechtsaußen, welches zulässt, dass Dokumente und Unterlagen aus laufenden Ermittlungen weitergereicht und von Personen genutzt werden können, die außerhalb der grundgesetzlichen Rechtsordnung operieren.
Ein Verdacht, der gemeinsam mit den offenbar durchgesteckten oder selbst aufgeschriebenen Informationen an das „Compact Magazin“ und einem anonymen Anruf am 29. April 2021 auf der Nummer von A.s Freundin, die nur den Ermittlern bekannt war, eine Kette von Indizien dafür bildet, dass hier Polizisten den Weg ordentlicher Ermittlungen verlassen haben. Oder mit Rechtsextremen Hand in Hand arbeiten.
Henry A.s Rechtsanwalt Christian Avenarius hat nun noch mehr zu tun. Bereits am morgigen Montag wird er eine Strafanzeige gegen Unbekannt erstatten, um eine polizeiliche Ermittlung in dieser Sache zu erwirken.
Damit läuft nun die zweite Anzeige rings um die Ermittlungen gegen Henry A. mit ähnlicher Fragestellung bei der Leipziger Staatsanwaltschaft auf. Und beide weisen in Richtung LKA Sachsen oder weitere involvierte Polizeikreise.
Denn bei der Frage, wie keine 24 Stunden nach der Razzia bei Henry A. detaillierte Informationen über den Beschuldigten, die exakte Länge der Durchsuchung und seine Arbeitsstelle beim rechtsradikalen „Compact Magazin“ nebst einem Bogenschlag zurück zum einstigen Überwachungsskandal landen konnten, veranlasste das LKA Sachsen bereits vorvergangenen Woche selbst, den Vorgang an die Staatsanwaltschaft zur Prüfung weiterzuleiten.
Da wusste das LKA Sachsen noch nicht, was seit Samstag, den 29. Mai 2021 auf L-IZ.de zu lesen steht: Der Verfasser des überraschend detailreichen „Compact“-Beitrages ist kein „Compact“-Journalist, der vorgebliche Gast-Autor „Sascha Neuschäfer“ hat vor und nach diesem Artikel keine im Internet auffindbaren Texte verfasst und in den sozialen Medien findet sich lediglich ein privates Instagram-Profil unter diesem Namen.
Der „Journalist“ Neuschäfer jedenfalls ist ein „Geist“ und der Name offenkundig ausgedacht.
Wer also hat den Artikel vom 29. April 2021 auf der Internetseite des „Compact Magazins“ geschrieben und wusste dabei direkt nach Ende der Durchsuchung bei Henry A. am 28. April, wie lange diese gedauert hatte? Und dies zu einem Zeitpunkt, wo etablierte Leipziger Redaktionen wie LVZ und LZ noch rätselten, bei welchen Personen die Durchsuchungen überhaupt stattgefunden hatten.
Darüber hinaus wird so noch interessanter, wer bereits vor der Razzia der BILD einen Tipp gab und die Reporter dabei offenbar direkt zu Henry A.s Adresse schickte, obwohl es noch mindestens vier weitere Durchsuchungen in der gleichen Sache gab.
Fragen, mit denen sich nun die Staatsanwaltschaft Leipzig befassen müsste. Wenn sie will.
Eine Ermittlungsakte als Katastrophenbericht
Dass die Ermittler des LKA Sachsens verzweifelt darüber sein könnten, dass sie Henry A. nunmehr zum vierten Mal nichts werden nachweisen können, bestätigt sich bei einem Blick in die Ermittlungsakte, welche der LZ seit gestern, 29. Mai 2021 vorliegt.
Betrachtet man dabei das einzige Indiz, welches dem Landgericht Leipzig genügte, um die Unverletzbarkeit von Henry A.s Wohnung aufzuheben und die Durchsuchung zu genehmigen, wird überdeutlich, dass auch diese Beschuldigungen erneut nicht einmal zur Anklage kommen dürften.
Das angebliche Vergleichsbild aus einer Action-Kamera-Aufnahme vom 1. September 2019 ist derart unscharf, dass es sich bei der dargestellten Person lediglich um einen unbekannten Mann mit schlanker Figur, braunem Schuhwerk und weißer Sturmhaube handelt.
Ein Vergleich der kaum erkennbaren Augenpartie mit dem ebenfalls enthaltenen Foto von A. selbst – immerhin das einzige Indiz in der Durchsuchungsbegründung des Landgerichtes Leipzig – ist angesichts der groben Auflösung nahezu unmöglich.
Dass der „Experte“, der den „Augenpartievergleich“ durchführte, ein einziger szenekundiger Zivilbeamter ist, der laut Akte vermutete (!), es könnte sich um Henry A. handeln, macht den ganzen „Beweis“ nahezu unbrauchbar. Und weitere Beweise, wie Bekleidung, Handschuhe oder gar eine weiße Sturmhaube, welche die Ermittler am 28. April 2021 ab 6 Uhr morgens in Henry A.s Wohnung suchten, wurden nicht gefunden.
Vielleicht hätte die ermittelnde Staatsanwaltschaft im März 2021 statt auf die LKA-Ermittler lieber auf einen Richter am Amtsgericht Leipzig hören sollen. Der hatte bei dieser Lage der Dinge die Durchsuchung von Henry A.s Wohnung abgelehnt. Erst eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft und der Gang zum Landgericht brachten die benötigten Unterschriften, die den Weg zur Durchsuchung bei einem Unschuldigen freimachten.
So steht nun die Frage im Raum, wer beim LKA Sachsen anonyme E-Mails an Arbeitgeber und Anrufe zu verantworten hat und unter einem falschen Namen Artikel bei einem Magazin schreibt, für das sich nicht nur rechtsradikale Leserschichten, sondern auch der Verfassungsschutz interessiert. Und somit mindestens dabei helfen könnte, Unschuldige zu verfolgen.
Immerhin keine Kleinigkeit, so auch Tom Bernhardt, Pressesprecher des LKA Sachsen am 6. Mai 2021 gegenüber LZ. Eine Strafverfolgung könne im Falle der Verfolgung Unschuldiger „auf der Grundlage des § 344 StGB erfolgen“. Bei Nachweis dessen stehen Haftstrafen von bis zu zehn Jahren im Raum.
Hinweis d. Red.: Inhalte von Ermittlungsakten dürfen nur zitiert, nicht jedoch im Original publiziert werden.
Der Teil 1 mit der Vorgeschichte zu „Unschuldig verfolgt (1): Seit acht Jahren im Fadenkreuz des LKA Sachsen“ auf L-IZ.de
Der Teil 2 rings um die aktuellen Ermittlungen gegen Henry A. unter „Unschuldig verfolgt (2): Selbstmordversuche, enge Polizei-Drähte nach rechts und ein anonymer Anruf” auf L-IZ.de.
„Unschuldig verfolgt“ (1 und 2) erschien erstmals am 28. Mai 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 91 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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