Seit Donnerstag muss sich Reiner G. (50) vor dem Landgericht verantworten. Beinahe hätte der vorbestrafte Kindsmörder ein weiteres Leben auf dem Gewissen gehabt. Glücklicherweise setzte sich der 11-jährige Y. heftig zur Wehr. Das rettete dem Jungen das Leben. Gleich zu Eröffnung der Hauptverhandlung erteilt der Vorsitzende Richter den rechtlichen Hinweis, dass dem Angeklagten Sicherungsverwahrung droht.

30. März 2013. Leipzig-Grünau. Über das, was sich gegen 15:30 Uhr im Deiwitzweg abspielt, existieren zwei Versionen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Eine der beiden Geschichten, die glaubwürdigere, beginnt in Mazedonien. Y.s Vater erzählt, dass seine sechsköpfige Familie in einem Roma-Slum gelebt hat.

Nachdem Unbekannte seine Frau im Beisein der vier Kinder vergewaltigt hätten, habe er beschlossen, in das Land überzusiedeln, in dem er seine Jugend verbracht habe. Die Familie landete in der Leipziger Peripherie. Genauer, im Asylheim in der Liliensteinstraße. Von dem tristen Plattenbau liegt der Deiwitzweg nur einen Katzensprung entfernt.

Y., der so gut wie kein Deutsch spricht, fragte seinen Vater, ob er mit mazedonischen Kumpels Fußball spielen dürfe. “Fußball ist sein Leben”, erzählt der Enddreißiger mit leuchtenden Augen. Y. durfte. Eine, höchstens eineinhalb Stunden. “Er hat gesagt, ‘Okay Papa’.”

In der Siedlung im Deiwitzweg wohnt Reiner G.. 1985 missbrauchte er ein Kind und tötete es anschließend. Für diese Tat saß er wegen Kindsmords 15 Jahre hinter Gitter. “Ich wusste nicht, dass man das nicht mit Kindern machen darf”, wird er vor Gericht erklären.

Reiner G. nähert sich Y. von hinten. Minutiös schildert der Junge den Angriff. G. hielt seinem Opfer den Mund zu und zerrte den jungen Mazedonier vom Fußweg ins Gebüsch. “Dann hat er mich mit zwei Händen gewürgt”, berichtet Y. tapfer. “Ich hab keine Luft gekriegt.” Nun ließ der Angreifer die Hose fallen. Der Penis war erigiert, erinnert sich das Opfer.

Der Junge nutzte die Gelegenheit zur Flucht. Reiner G. reagierte, packte das Kind, wollte ihm den Hals brechen. So sieht das zumindest die Staatsanwaltschaft, klagte Reiner G. wegen Versuchten Mordes an. Die Schwurgerichtskammer meint allerdings, einen Rücktritt vom Versuch zu erkennen. Deswegen läge keine Tötungsabsicht vor.
Y. werden die juristischen Spitzfindigkeiten herzlich egal sein. Der Junge entkam seinem Peiniger leicht verletzt, weil dieser bei der Rangelei seine Brille verlor. Der ausgezehrte Angeklagte hat von dem Geschehen eine andere Erinnerung im Kopf.

Erst habe ihn Y. um Geld angebettelt. “Dann hat er gefragt, ob wir ficken wollen”, behauptet G. Richter Jens Kaden fragt beim Opfer nach. “Weißt du, was ‘ficken’ ist?” – Y. schüttelt den Kopf. Sein Vater berichtete zuvor, in der Familie sei bisher nicht über Sexualität gesprochen worden. Auch im Biologie-Unterricht von Y.s Schule war Sexualkunde bisher kein Thema. Dass Männer auch mit Männern Sex haben können, war dem Jungen gar nicht geläufig.

Absurd mutet vor diesem Hintergrund die Darstellung Reiner G.’s an, sein Opfer habe sich selbstständig die Hose ausgezogen und fünf Mal sein Glied in den Hintern des Täters gesteckt. “Die Gewalttat, die ich gemacht hab, ging nicht wegen sexuellen Missbrauchs, sondern wegen des Geldes”, so der Grünauer.

Doch Reiner G. wirkt unglaubwürdig. Zu groß scheint die Kluft zwischen Aktenlage und seinen wirren Angaben, um ihm ernsthaft Glauben schenken zu können.

Der Vorsitzende Kaden fühlt dem Angeklagten immer wieder auf den Zahn: “Was macht das Asylheim so anziehend? Haben Sie Kontakt zu anderen Kindern vom Asylheim gehabt? Haben Sie mal einen Fotoapparat mitgenommen? Können Sie sich ans Wetter an dem Tag erinnern?

Der Beschuldigte weicht immer wieder aus. Später erfahren die Anwesenden von seinem Opfer, der Leipziger habe Flüchtlingskinder dafür bezahlt, dass sie ihm in den Mund spucken.

“Haben Sie eine pädophile Veranlagung? Stehen Sie auf Kinder?”, fragt der Psychiater Peter Winckler. Von seiner Expertise hängt in diesem Fall wohl maßgeblich die Zukunft des Beschuldigten ab. “Nee”, erwidert der Grünauer. “Ich stehe auf Frauen.” Das Anspucken? “Das haben die von sich aus gemacht.” – “Können Sie sich erinnern, dass Sie mir erzählt haben, Sie hätten schon früher mit Y. Analverkehr gehabt, weil er das so wollte?” – “Möglich.” – Später wird er sich in diesem Punkt widersprechen.

Zur Tatzeit war Reiner G. alkoholisiert. “Maximal drei Bier”, gibt er zu Protokoll.

Der Prozess wird fortgesetzt.

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