Noch ein Flüchtling. Die Deutschen wissen gar nicht, wie viele ihrer besten Köpfe immer wieder fliehen mussten, weil sie den jeweiligen Obrigkeiten unbequem wurden. Auch Georg Büchner gehört dazu, der mit seinem „Woyzeck“ das absolute Leipzig-Drama geschrieben hat. 2017 sorgte die Schaubühne Lindenfels mit ihrer „Woyzeck“-Inszenierung an originaler Stelle, dem Leipziger Marktplatz, für Furore. Jetzt gibt es ein richtiges Büchner-Festival.

Denn Georg Büchner, der 1834 die Hessische Obrigkeit mit seinem „Hessischen Landboten“ verärgerte, schrieb ja nicht nur den (als Fragment im Nachlass überlieferten) „Woyzeck“, sondern auch „Dantons Tod“, „Leonce und Lena“ und „Lenz“, alle drei Stücke jetzt im Büchner-Festival der Schaubühne zu erleben.

Und der „Hessische Landbote“ verärgerte die Obrigkeit nicht wegen des spitzen Tons (den zwei Redakteure sogar noch abgeschwächt hatten), sondern durch die Fakten: Büchner hatte mit Steuerstatistiken gezeigt, wie die Landbevölkerung mit ihren Steuern die Verschwendungssucht des Hofes finanzierte. 1835 musste er fliehen, machte in Straßburg seinen Universitätsabschluss und machte auch schon in Zürich die ersten Schritte als Dozent. Denn er war auch noch ein hochbegnadeter Naturwissenschaftler.

Gründe genug für ein richtiges Büchnerfestival an der Schaubühne Leipzig, nachdem schon die phantasiereichen Voraus-Inszenierungen für Aufmerksamkeit gesorgt haben.

Zum Höhepunkt ihres „Büchner-Zyklus“ lädt die Schaubühne Lindenfels gemeinsam mit dem Institut für Theaterwissenschaft Leipzig unter Beteiligung zahlreicher lokaler und internationaler Partner zu einer dreiwöchigen Erkundung des vielschichtigen Werkes von Georg Büchner ein. Im Zusammenspiel von künstlerischer Forschung und wissenschaftlicher Praxis bietet das „Fragment Festival Büchner“ vom 19. April bis 6. Mai 2018 in der Schaubühne Lindenfels und an weiteren Orten in Leipzig vier Theaterinszenierungen, ein mehrtägiges Symposion, Filme, Lectures, Gesprächsrunden, Führungen und Aktionen im öffentlichen Raum. Die Uraufführung von „Georg Büchner Fragmentstück“ eröffnet am 19. April um 20 Uhr in der Schaubühne Lindenfels die besondere interdisziplinäre Werkschau.

Aufrüher (?*), Dichter und Wissenschaftler

Die Schaubühne Lindenfels hat ihre Spielzeit 2017/2018 dem Aufrührer, Dichter und Wissenschaftler Georg Büchner gewidmet und realisiert vor diesem Hintergrund zusammen mit Partnern aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz den von ihr initiierten „Büchner-Zyklus“. Im Rahmen des europäischen Gemeinschaftsprojektes sind seit August letzten Jahres zeitgleich an mehreren Orten verschiedene Formate – u. a. drei Theaterproduktionen, ein Hörstück, eine Ausstellung, Lectures – um und aus Büchners Werk entstanden.

Nach Monaten der Recherche, des Austauschs und erster öffentlicher Aktionen begegnen sich nun die beteiligten Künstlerkollegen, Wissenschaftler und Institutionen zum „Fragment Festival Büchner“ in Leipzig und präsentieren vom 19. April bis 6. Mai ihre Arbeiten und Positionen.

„Während des Festivals breiten wir Büchners Weltsplitter coram publicum aus und setzen sie in verschiedenen Versuchsanordnungen zu uns in Beziehung“, so René Reinhardt, künstlerischer Leiter und Vorstand der Schaubühne Lindenfels. „Das Publikum ist eingeladen, mit uns gemeinsam Büchners geniales Fragment-Werk in einer performativen Gesamtausgabe neu zu entdecken, zu lesen, durchzuspielen und zu diskutieren. Seine Stoffe sind brandaktuell, seine Anliegen und Weltbeschreibungen haben auch im 21. Jahrhundert Gültigkeit.“

Assoziatives Foto für die für die Theaterproduktion "Georg Büchner Fragmentstück". Foto: Schaubühne Lindenfels
Assoziatives Foto für die für die Theaterproduktion „Georg Büchner Fragmentstück“. Foto: Schaubühne Lindenfels

Drei Wochen Büchner kompakt

Drei Wochen lang bündelt das Festival die Schlagkraft von Büchners Texten und Themen.

Das Programm umfasst vier Theaterinszenierungen: Den Auftakt bildet am Eröffnungsabend das Ensemble der Schaubühne Lindenfels mit der Uraufführung seiner Produktion „Georg Büchner Fragmentstück“. Zudem feiert während des Festivals „Purge“ (nach „Dantons Tod“) von Dinoponera/Howl Factory aus Strasbourg Premiere, während die Inszenierung „Lenz“ des Schweizer Regisseurs Nils Torpus mit der Schauspielerin Mona Petri das erste Mal in Deutschland zu sehen ist. Ergänzt werden diese drei im Rahmen des „Büchner-Zyklus“ erarbeiteten Produktionen durch Bridge Marklands Gastspiel „leonce + lena in the box“. Die Stücke werden im Zeitraum des Festivals mehrfach aufgeführt.

Daneben laden weitere Formate zum Hören, Sehen und Mitgestalten ein. Auf Grundlage von „Dantons Tod“ findet ein Theaterworkshop statt, für Kinder gibt es eine Hörbuchbearbeitung von „Leonce und Lena“. Die Reihe „Based on Büchner“ zeigt sechs Filme, die alle auf ganz eigene Art und Weise Büchner adaptieren bzw. seine Themen aufgreifen. Unter dem Titel „Woyzeck – letzte Szene“ werden anhand eines Hörstücks und einer Ausstellung die historischen Begebenheiten um die letzte öffentliche Hinrichtung in Leipzig 1824 rekonstruiert.

Passend dazu setzen sich zwei Veranstaltungen von Amnesty International Leipzig mit moralischen und völkerrechtlichen Fragen hinsichtlich der Todesstrafe auseinander, Führungen durch die ehemalige zentrale Hinrichtungsstätte der DDR und das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig komplettieren diesen Themenblock.

Zum Kulminationspunkt des Festivals am letzten Wochenende veranstaltet das Institut für Theaterwissenschaft in Kooperation mit der Schaubühne Lindenfels ein mehrtägiges Symposion. „Echo Raum Büchner“ bietet vom 3. bis 6. Mai eine wissenschaftliche Auseinandersetzung in Kombination mit künstlerischer Praxis. In Gesprächsrunden und performativen Forschungsansätzen soll zum Mit- und Weiterdenken über historische Kontexte, philosophische Perspektiven und zeitgenössische Formen ästhetischer Erfahrung anregt werden. Als Experten eingeladen sind Norbert Abels, Roland Borgards, Burghard Dedner, Regine Elzenheimer, Lars Koch, Florian Vaßen und Wolfram Schmitt.

Das Fragment Festival Büchner

Das „Fragment Festival Büchner“ wurde von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen als Referenzprojekt im Bereich „spartenübergreifend“ ausgewählt.

Das „Fragment Festival Büchner“ ist ein Gemeinschaftsprojekt der Schaubühne Lindenfels und dem Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. In Kooperation mit dem Theater Winkelwiese (Zürich) und Dinoponera/Howl Factory (Strasbourg). Mit Unterstützung von: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Museum in der „Runden Ecke“ Leipzig, Buchfunk Verlag, Westflügel Leipzig, Amnesty International Leipzig, Institut français Leipzig. Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes. Zudem gefördert durch die Leipzigstiftung.

Die Aktie zum Festival: Die Schaubühne Lindenfels nimmt das „Fragment Festival Büchner“ zum besonderen Anlass und widmet ihm ihre neue Aktien-Edition. Limitiert auf 50 Stück, erscheint der von Thadeusz Tischbein gestaltete und handsignierte A3-Kunstdruck zum Festivalstart am 19. April 2018. Ein Exemplar kostet 100 Euro und entspricht vier Anteilsscheinen. Die neue Kunst-Aktie greift in einer Modifizierung das Motiv des Festivalposters auf.

Ein notwendiger Nachtrag

*) Die Formulierung „Aufrührer“ stammt von der Schaubühne Lindenfels. Wikipedia nennt ihn Revolutionär, was schon eher zutrifft. Aufrührer aber trifft auf Büchner nicht wirklich zu. Was er mit dem „Hessischen Landboten“ veröffentlichte, war vor allem kritischer und mit Fakten unterstützter Journalismus. Das Vorgehen der hessischen Justiz gegen Büchner erinnert in einigem fatal an das Vorgehen der Erdogan-Regierung gegen türkische Journalisten. Denn nichts stört die Machthaber so sehr wie eine informierte Öffentlichkeit und ein kritischer Journalismus, der sich auch noch parteiisch für die Armen ausspricht und die Reichen eben nicht verhätschelt. Büchner musste nicht wegen irgendeiner aufrührerischen Handlung fliehen, sondern weil sein „Landbote“ die hessische Obrigkeit bloßstellte. Deswegen sieht die L-IZ das Wort Aufrührer hier falsch verwendet.

Gerade weil Georg Büchner ein analytischer Kopf war, der mit wissenschaftlicher Konsequenz daran arbeitete, Dinge herauszufinden. Das trifft beim „Landboten“ genauso zu wie beim „Woyzeck“, bei seiner schnellen wissenschaftlichen Karriere übrigens auch.

Der Veranstaltungskalender zum „Fragment Festival Büchner“.

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