Nicht weniger als die Wiederbelebung von gleich zwei Klassikern der Theatergeschichte an einem Abend hat sich Regisseur Enrico Lübbe vorgenommen. Ein gewaltiges Projekt, dessen organisatorisches Ausmaß erst am Ende der ausverkauften Premiere ins Bewusstsein dringt, wenn das gesamte Ensemble die Bühne betritt und mit minutenlangem Applaus belohnt wird. Die große Frage: Warum verbindet man zwei so unterschiedliche Stücke wie Bertold Brechts Lehrstück „Die Maßname“ und die Tragödie „Die Perser“ von Aischylos, die immerhin durch 2400 Jahre Weltgeschichte getrennt sind?
Beim Betreten des Schauspielhauses fällt zunächst das monumentale Bühnenbild ins Auge, entworfen von Etienne Pluss für „Die Maßname“. Eine brachiale Wand aus Steinblöcken, die sich kalt und steril beleuchtet vor dem Publikum auftürmt. Kaum sichtbar oben im Rang, dafür bald umso deutlicher zu hören: Der imposante Gesangschor, der 50 Stimmen vereint und musikalisch getragen wird von der Musik des Komponisten Hanns Eisler, gespielt vom Orchester des Gewandhauses. Die sakral aufgeladene Atmosphäre vereinnahmt die Zuschauer, die nun mitten in einem kommunistischem Schauprozess sitzen.
Formal wird in Brechts Lehrstück die Tötung eines jungen Genossen verhandelt, doch die Frage dahinter ist die nach dem Wert des Individuums im Kollektiv. „Er wollte das Richtige und tat das Falsche“, stellen die vier Agitatoren nüchtern fest, besiegelt vom nachhallenden Klang der Pauke.
Optisch sind sie nicht auseinanderzuhalten, ihre langsamen und gleichförmigen Bewegungen machen sie zu austauschbaren Marionetten. Nach und nach entrollen die Agitatoren den Ablauf der Ereignisse, spielen sie für den Kontrollchor nach, der ihre Handlungen mit kommunistischem Pathos entschuldigt. Darsteller, Chor und Orchester befeuern sich gegenseitig, jede Aussage wird musikalisch unterstrichen, regelmäßiger Szenenapplaus vom oberen Rang verstärkt die suggestive Wirkung.
Die Bühne wird so zum Schauplatz einer kommunistischen Prozession, an dessen Ende die vier Darsteller mit gezogener Waffe heldenhaft im Nebel stehen.
Und dann kippt auf einmal die Wand nach vorn, ein mächtiger Aufprall, der dem Publikum den Nebel ins Gesicht bläst. Bühne frei für Lehrstück Nummer Zwei. So spektakulär der Abbau des Bühnenbildes, so steif der Aufbau der Handlung in „Die Perser“. Wieder sind es vier Schauspieler, die nach und nach die nun leere Bühne betreten.
Sie übergießen, im krassen Kontrast zum vorherigen Drama, die Zuschauer mit schier endlos langen Aufzählungen der Namen von Kriegern, die an der griechisch-persischen Schlacht um Salamis teilgenommen haben. Was bei den antiken Griechen noch für Spannung gesorgt haben mag, wird im 21. Jahrhundert mit herumschweifenden Blicken quittiert. Beinahe provokant langatmig erzählt die streng am Ursprungstext gehaltene Darstellung in Dialogen und Monologen, wie der überhebliche Perserkönig Xerxes nicht nur die Schlacht, sondern auch Macht und Respekt verliert.
Dass das Stück dann doch noch Wind in die Segel bekommt, liegt zum einen am Auftreten des Sprechchors – dem Ältestenrat Persiens – der etwa in der Mitte des Stückes gänzlich weiß gekleidet die Bühne betritt. Und zum anderen an Xerxes, der erst in den letzten Szenen auftaucht. In schwarzem Tanktop und labberiger Hose gekleidet wirkt er trotz seiner Krone weniger wie ein König, mehr wie das Stereotyp eines Proleten. Ein gebrochener Mann, der sich nun die Klagen seines Volkes anhören muss.
Es ist die Schlüsselszene des Stückes: Der Chor redet mit Xerxes und klagt ihn an. Langsam zischend pressen die Ältesten die Namen der Gefallenen hervor, gemeinsam, mit einer Stimme. Immer schneller und lauter werden sie dabei, wie aus dem Nichts stimmt nun auch der Chor aus dem oberen Rang mit ein. Von beiden Seiten erschallen immer wilder und ungeordneter die Vorwürfe, Xerxes wird immer unruhiger, rennt panisch auf der plötzlich in gelbes Licht getauchten Bühne umher.
Schließlich hält er dem Druck nicht mehr Stand, sein durchdringender Aufschrei unterbricht die tosenden Klagerufe. Stille. Eine perfekt choreographierte Szene, die explosionsartig die Trauer eines Volkes und die Reue eines Herrschers erfahrbar macht. Dass sie solch eine Wirkung entfalten kann, liegt mitunter auch am Kontrast zum ruhigen Geschehen zuvor.
Ein bisschen unschlüssig bleibt man nach der 130-minütigen Vorstellung dennoch. Die Frage nach dem Sinn der Verknüpfung beider Stücke wird letztendlich nur auf dem Papier des Programmheftes beantwortet.
Das Vorhaben wird dort als „Doppelbefragung“ angekündigt, rund um die Schlagworte „Humanismus“, „Ideologie“ und „der Frage nach der Wirkung politischer Ideen“. Doch da Enrico Lübbe an den beiden grundverschiedenen Stücken keine inhaltlichen Anpassungen vornimmt, ist die Kluft zu groß, als dass man sie mit abstrakten Denkbildern und dramaturgischen Ähnlichkeiten verbinden könnte. Getrennt an zwei Abenden aufgeführt könnten sie Theaterherzen gleich doppelt schneller schlagen lassen.
Die nächsten Termine: Große Bühne: Fr, 28. April, 19:30 / Sa, 06. Mai, 19:30 / Mi, 14. Juni, 19:30 || So, 04. Juni, 18:00 und Mo, 05. Juni 18:00, Ruhrfestspiele Recklinghausen
Die Maßnahme/Die Perser beim Schauspiel im Netz
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