Das Musical-Highlight des Jahres ist 2015 in der Messestadt zu erleben. Ballettdirektor Mario Schröder inszenierte an der Oper Leipzig mit einem internationalen Solisten-Ensemble, der Ballett-Compagnie und dem Gewandhausorchester eine progressive wie bildgewaltige "West Side Story". Das Premierenpublikum spendete am Samstag anhaltenden Beifall.
In Leipzig gibt es seit Samstag großes Mucial für vergleichsweise kleines Geld. Mario Schröder befreit den Broadway-Klassiker mit der bekannten Musik von Leonard Bernstein und dem Libretto von Musical-Legende Stephen Sondheim vom Kitsch der sechziger Jahre. Wer den bekannten Hollywood-Film auf der Bühne nachgespielt sehen möchte, sollte um diese Inszenierung einen Bogen machen. Der Leipziger Ballettdirektor begreift den Stoff als Parabel für politische und soziale Verwerfungen unserer Zeit. Der zweieinhalbstündige Abend kreist thematisch um blutige Gangrivalitäten, Polizeigewalt, kulturelle Identitäten, den Umgang mit Fremden und der Frage nach Geschlechterrollen.
Ästhetisch bleibt Schröders Inszenierung in den Vereinigten Staaten haften. Eine szenische Verlagerung nach Leipzig gestaltet sich schon aufgrund des Librettos schwierig. Die Parallelen zu Leipziger Verhältnissen sind allerdings deutlich erkennbar. Die Cops, die mit Gangmitgliedern vor Erklingen der Ouvertüre in Standbildern brutalste Gewalt abbilden, könnten jene Prügelpolizisten sein, die kürzlich am Neuen Rathaus auf friedliche Legida-Gegner losgegangen sind. Die blutige Gangfehde, um die die Handlung zirkuliert, erinnert die Leipziger sofort an die Bandenrivalitäten in der Eisenbahnstraße oder den berüchtigten Disko-Krieg.
Schröders “West Side Story” ist ein Abend großer Bilder. Das ist auch ein maßgeblicher Verdienst der beiden Ausstatter Andreas Auerbach und Paul Zoller. Schauplatz ist eine asphaltierte Straße, deren durchgezogene Mittellinie die unüberwindbare Rivalität zwischen den Jets (Amerikaner) und Sharks (Puerto Ricaner) auf der Bühne visualisiert. An den Seiten flankieren Straßenlaternen den Schauplatz, der mittels Projektionen und herabsinkender Prospekte im Hintergrund eine langgezogene Landstraße, aber auch der Platz vor Docs Drugstore oder – Lichteffekten sei Dank – der Ballsaal im Gym sein kann.
Ein weiteres Stilmittel ist der Einsatz dreier freischwebender Stahlträger, deren räumliche Anordnung flexibel gestaltet wird. Sie deuten die Brücke an, unter der sich die Gangs zur Schlägerei treffen, sind aber auch Sitzgelegenheit für Tony und Maria . Im Anschluss an die Balkonszene schweben die Verliebten, “Only You” singend, auf einem Träger gen Himmel.
Der Showstopper “America” persifiliert bei Schröder den American Dream. Während im Vordergrund die Shark-Ladys von ihren Träumen im gelobten Land singen, schwebt von der Decke eine gigantische USA-Flagge ein. Die Straßenlaternen leuchten rot und blau auf. Mickey Mouse, Super Mario, das Krümelmonster, Superman und andere bekannte Comic-Figuren tanzen auf die Bühne. In den Schlusstakten reißen die Frauen das Nationalsymbol von der Decke. Der Moment zählt zu den visuellen Höhepunkten des Abends.
Schröder verlagert den Plot in die Gegenwart. Die Figuren erscheinen in zeitgenössichen Klamotten. Die Sharks tragen blaue Kutten mit großen Aufnähern auf dem Rücken, die Jets T-Shirts mit fetzigen Sprüchen wie “Suck Off” oder “The Worst Party Ever”. Wie jedes Musical lebt die “West Side Story” von ihrer Musik. Leonard Bernstein vermengte in dem Werk sinfonische Töne mit Anklängen aus Swing, Jazz und Popularmusik. Opernintendant Ulf Schirmer findet am Pult des Gewandhausorchesters einen griffigen und doch intimen Zugang zu der Partitur. Die Hits und Balladen werden von den Mitwirkenden unter seiner Leitung in bester Manier performt. Im Orchestergraben besticht das exzellent disponierte Schlagwerk mit einem Höchstmaß an Rhythmik und Präzision.
Mario Schröder lässt Bernsteins Melodien nahezu durchweg vertanzen. Die sinfonischen Tänze oder die Ballettszene laden freilich dazu ein. In dieser “West Side Story” wird allerdings weit mehr getanzt. Und das auf höchstem Niveau. Die Ballett-Compagnie präsentiert sich wieder einmal in bester Verfassung. Schröders Choreografien brechen diesmal bewusst die Grenzen zwischen klassischem Ballett und modernem Tanztheater auf.
Die Bühnenschlägereien erschöpfen sich beispielsweise nicht in bloßen Andeutungen, sondern werden von dem Choreographen in präzisen einstudierten Bewegungsabläufen ausgetragen. Um den Musicalsängern in ruhigen Momenten keine komplizierten Tanzschritte zuzumuten, bedient sich der Regisseur mehrmals der Verdoppelung. Während im Vordergrund gesungen wird, drücken im Hintergrund einzelne Balletttänzer die Gedankenwelt der Handelnden in Bewegungen aus.
Zur Umsetzung seiner Einfälle kann Schröder auf ein großes Ensemble zurückgreifen, das in weiten Teilen aus Gästen besteht. Kein Darsteller ist doppelt besetzt. Die Oper führte bereits im Frühjahr 2014 ein Solisten-Casting durch, da eine Besetzung aus den Reihen des musicalerprobten MuKo-Ensembles schon aus dispositionellen Gründen nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen war. Das “Haus Dreilinden” ist gewissermaßen trotzdem beteiligt. Der künftige Chefregisseur Cusch Jung lieferte bei der Premiere als sadistischer Inspektor Shrank eine starke Vorstellung ab.
Myrthes Monteiro (Maria) glänzt mit mädchenhafter Attitüde und durchschlagender Stimme. Carsten Leppner (Tony) wirkt indes stets ein wenig unterkühlt. Obendrein singt er die Partie mit hörbar deutschem Akzent. Erdmuthe Kriener gibt Anita mit berstendem Timbre und gehässigem Unterton. Rupert Markthaler (Bernardo), Andreas Wolfram (Riff) und Ronan dos Santos Clemente (Chino) singen ihre kleineren Partien rundum zufriedenstellend.
Laura Costa Chaud gefällt als trotzige Anybodys, die bei den Jets nicht mitmischen darf, weil sie ein Mädchen ist, gesanglich wie schauspielerisch. Eduard Burza (Doc) spielt den rauschebärtigen Outlaw mit Kriegserfahrung. Hans-Georg Pachmann (Krupke) beschert dem Publikum diverse Lacher.
Die Dialoge werden, wie in Musical-Produktionen hierzulande üblich, auf Deutsch gesprochen. Die bekannten Songs erklingen in englischer Sprache. Dieser sollten die Zuschauer mächtig sein. Die Oper verzichtet auf den Einsatz von Übertiteln. Verbessungswürdig ist die Soundabmischung. Jeder noch so leise Stöhner und Schnaufer der Tänzer wurde bei der Premiere von den Mikros erfasst und in den Saal transportiert.
Trotz des kleinen Mankos und der Verständnisprobleme für nichtenglischsprachige Gäste gehört diese “West Side Story” gewiss zu den großen Neuproduktionen des diesjährigen Musical-Kalenders. Mario Schröder hat bewiesen, dass er Musical kann. Seine Inszenierung führt Bernsteins Jahrhundertwerk einer zeitgemäßen Neudeutung zu, an der sich künftige Produktionen messen müssen.
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