Abfahrt Bootshaus, Nonnenstraße 23, so steht es auf dem Ticket. Dort finden sich in der Abenddämmerung die Teilnehmer ein, wenig Aufwand, kein Geschwätz, alles zielführend. Platz nehmen, eine Frau in Stöckelschuhen muss für fünf Begleiter noch Plätze reservieren, 22 Passagiere, das Boot MS "Sturmvogel" , die Reisetrainerin Franziska von Leipzig begrüßt Kapitän Erik und die Insassen. Sie werden die Tour über eingewiesen ins Karl-Heine-Gewässer, denn rückwärts soll ja geschwommen und getaucht werden! Da sollten aber, fordert Franziska, die Stöckelschuhe ausgezogen werden.

Agentur Anders reisen

So läuft das ab bei der Agentur “Anders reisen”, den Rest legt der Zufallsgenerator als Bordinstrument fest. Es geht zeitenreisend zurück und wieder vorwärts.  “Nach dem Beginn ist kein Einlass mehr”, steht auf dem Ticket. Stimmt, denn dann ist der Kahn abgefahren. Schiff ahoi!

Wer rechtzeitig kam erlebte sogar noch ein Hörspiel-Vorprogramm in einem Pavillon. Jugendliche erzählten abwechselnd von ihren Leipziger Lieblingsplätzen in knappen, Beobachtungen beschreibenden Dialogen mit mundgemachten Geräuschen. Krasses Gegenteil zum alltäglichen Gesimse und Getwittere. Thx!

Stadt-Landschaft erzählt Geschichten

Vor der ersten Brücke prasseln Geisterstimmen auf die Passanten, Äußerungen über Leipziger und die Leipziger aus mehreren Jahrhunderten. Nö, die Informanten werden nicht preisgegeben, denen kann man ja anderswo wieder begegnen (dass es Martin Luther war, der Leipzig als “üblen Wurm” titulierte, ist oft genug zitiert. Richard Wagner liebte altersweise die mutige Theaterdirektion… Und Klein-Paris…)

Zum dritten Mal wird der Karl-Heine-Kanal zum Theater, konzipiert von Theater der Jungen Welt- Intendant Jürgen Zielinski, der auch bei der Serien-Vorstellung von der Brücke des Riverboats aus kontrolliert. Marion Firlus hat diese Reise, wie auch schon andere solche und ähnlich aufwändige Mit-Wander-Theater geschrieben und inszeniert. Und bei ihr bleiben es kunstvoll gestaltete dramatische Situationen, nur die Bühnen sehen anders aus, es sind die Plätze, die schon da waren. Als Erzähl- und Mitspiel-Medium sind Darsteller und Handlung fixierte Inszenierungen, keine touristischen Events lebendiger Geschichte mit improvisierbaren Elementen. Aus dieser Mixtur macht man anderswo “Dungeon”-Geschichts-Theater in vollklimatisierten Kulissen-Räumen. Aber hier sind die Kulissen landschaftlich und architektonisch da, sie müssen nur ergänzt und zum Reden gebracht werden. Alte, vergessen geglaubte Geschichten immer willkommen! Das gelingt und wirkt betörend.

Mönche und die Ur-Leipzigerin haben eine Urkunde und schon ist der Weg frei. Und "Mit 1000 hat man noch Träume..." Foto: Karsten Pietsch
Mönche und die Ur-Leipzigerin haben eine Urkunde und schon ist der Weg frei. Und “Mit 1000 hat man noch Träume…” Foto: Karsten Pietsch

Souvenir anno damals 1015

Im Zeitkanal sind Quertreiber und Gegenverkehr und Lauscher unterwegs. Hier ist alles mit 1000 Wassern gewaschen, mindestens seit dem Jahr 1015 auch mit Urkunde. Mönche führen das vor, auch das Souvenir, respektive Geschenk, das jener Bischof Eido im Reisegepäck mitführte, wovon er nach seinem Ableben nichts mehr hatte. So kriegen wir es, frisch ausgepackt aus der Versandkiste: Polnisches Talent an Folklore, und schließlich ein gesangssicheres Biest im kleinen Schwarzen. Eine feurige Polin eben! Außerdem werden große Ziffern wie Power-Points präsentiert und eine Null wahrhaftig notdürftig vorgeführt… Alle Wasser eben.

Zollstation

Noch vor der Zollschranke samt Zollbeamten  – mit namentlicher Vorratsdatenspeicherung – begegnen sich Sage, Fabel, Dichtung und Wahrheit. Von sagenhaft 25 verbrannten Hexen ist die Rede, historische Quellen interessieren heute nicht. Heute wollten wir ja gerade in Sagen abtauchen und scheuten Spuk und Grusel nicht. Sogar das Leipziger Allerlei wird als Variante von Mischgemüse tituliert. Und wenn schon… Warum nicht auch mit Vorurteilen spielen und den Leuten Er- und Aufklärungen überlassen. “Was ein Schüler selbst finden kann, soll man ihm nicht geben”, sagte Schulmeister Gustav Friedrich Dinter, kein Leipziger, in Borna gebürtig.

Fleißige Gastwirte, träumende Nixen, wartender Angler

Zwei Gastwirte kapern mit Schlauchbooten das Kreuzfahrtschiff, streiten sich um die Gäste, die Bewirtung und die Unterhaltungs-Darbietungen. Und dabei bieten sie eine Show, die eigenständig auf Tournee gehen könnte. Hier ist nichts Klamauk und alles zufällig scheinende ist perfekt gebaut. Zwischenrein läuten schon die Glocken der Philippuskirche. Rührend besingen die Kanal-Nixen mit langen Schlepp-Schwanz-Flossen-Kleidern den perfekten Mann namens Hans. Unvermeidlich am Kanal ist ein in gelbem Plastik gekleideter offensichtlicher Schwarz-Angler, der mit einem Korb im Trüben nach Frauen fischt…

Theaterprinzipalin Neuber zündet Feuer, als ob sie Hanswurst, die Bühne und sich selbst vernichten will... Foto: Karsten Pietsch
Theaterprinzipalin Neuber zündet Feuer, als ob sie Hanswurst, die Bühne und sich selbst vernichten will… Foto: Karsten Pietsch

Spiel im Spiel

Frau Theaterprinzipalin Friederike Caroline Neuberin erscheint hoch oben auf einem Brückenrest wie auf einer Kirchenkanzel mit einem Kollegen Verwandlungs-Darsteller vom Hanswurst zu Gottsched, und hier brennt dann die Luft wahrhaftig, denn sie fackelt Hanswurst und nun auch Gottsched und sich selbst und die Bretter ab. Wie sich da aus einem Hanswurst-Darsteller der Theaterprofessor Gottsched hervor- und zurück zaubern lässt, hat Potenzial zu größeren Handlungen. In einer alten Haushalts-Zinkbadewanne erwacht Leben in Form von zwei älteren Herren und einer Ente, die angeblich draußen bleiben soll, aber zu Herrn Dr. Klöbner und Herrn Müller-Lüdenscheid gesellt sich sächsischer Adel, Otto und August, mit ramponierten Roben aber wachem Verstand mischen sie sich ein. Wie geschickt sich die beiden Puppenspieler und die Puppen in und aus der Badewanne winden, fällt gar nicht auf, man sieht nur die Veränderungen.

Am und im Wasser zaubern die Arbeiter von ATONOR aus Erwin Staches Klangmaschinen den vermeintlich letzten Abgesang auf den Industrie-Sound von Lindenau und Plagwitz. Produktion, Handel, Arbeiten und Industrie waren einmal Karl Heines Parameter, und der Kanal ein Abwasser-Produkt. Heute sind die Arbeitsplätze in der Freizeitgesellschaft der anderen zu suchen…

Hoch oben auf dem Brückenpodest unter neuzeitlichem Graffito-Spruch reist noch einmal die Arbeiterbewegung an, an der überlangen Fahnenstange flattert ein rotes Tuch wie beim Wagentransport von Langholz… Es dauert nur eine Vorbeifahrt des Bootes am Brückenpfeiler, da erscheinen die revolutionären Hoffnungsträger als Barbie-World wieder. Spaß ist Trumpf!

“La Dolche Vita”? – “Lodder-Lähm!”

Und dann wird es Sächsisch! Ein moderner Balladensänger, Superstar im Hippie-Outfit will seine Leipzig-Hymne trällern. Aus dem Gossen-Sächsisch wird plötzlich das, was man “frisierte Schnauze” nennt. Und schon gibt er Begriffs-Nachhilfe. “La Dolce Vita” heißt nämlich auf Sächsisch “Lodder-Lähm”!  Zu seinem Schlager-Finale kommen kleine Mädchen aus dem Gebüsch, tanzen mit, wie es in der Inszenierung noch gar nicht vorgesehen war.

Kanal-Nixen verwirren Paddelfamilienväter... Foto: Karsten Pietsch
Kanal-Nixen verwirren Paddelfamilienväter… Foto: Karsten Pietsch

Souvenirs

Ein gebackenes Lindenblatt gibt Reise-Trainerin Franziska von Leipzig jedem als Souvenir mit, in Erinnerung an die erste Urkunde und “urbe libzi”. Und da ist es nun egal, ob Leipzig dem Namen und seinen Deutungen nach die Stadt der Linden oder die Stadt bei den Sümpfen ist, mit 1000 Wassern gewaschen ist diese Scholle allemal.

Schwer zu erraten, wie viele Spiel-Orte und Mitwirkende es eigentlich gab aus Theater-Ensemble und -mitarbeitern und Studenten-Jugendclubs. Erinnerungswerte haben diese Sommer-Events des Theaters der Jungen Welt wie an große kilometerlange Festumzüge mit Stationen der Geschichte und örtlicher Überlieferung, wie es sie vielerorts gibt und auch 1965 in Leipzig zur 800-Jahr-Feier gab. Da hat die Serie des Theaters der Jungen Welt mit der Auswahl von Inhalten und Formen in jedem Sommer neu an einem anderen Ort oder in anderer Spiel-Zeit ganz anderes Temperament und auch schon andere Tradition, als die Leipziger Löwenjagd des StadtFestSpiels 2015.

Leider ist die Vorstellungszahl begrenzt, die Platzkapazität ebenso. Geheimtipp: als Zaungast auf dem Rad- und Fußweg bekommt man zwar bestimmt nicht alles, aber sicher eine ganze Menge mit. Nachahmung dürfte nicht verboten sein, egal ob nun auf dem Kanal oder anderswo. Lindenau und Plagwitz haben viel zu erzählen. Und Leipzig auch.

Vom Karl-Heine-Kanal an die Wupper

Wasser-Wandertheater gibt es auch anderswo. In Wuppertal wurde Else Lasker-Schülers “Die Wupper aufgeführt. Eine böse Arbeitermär” mit vier Stunden Spieldauer und Bustransfer zwischen den Spielorten. “Die Wupper” gibt es nächstes Jahr wieder neu inszeniert, in den Theaterhäusern von Mühlheim und Düsseldorf. Leipzigs “Mit 1000 Wassern gewaschen” wäre auch eine Wiederholung oder eine Theaterhaus-Version zu wünschen!

Vorstellungen am Karl-Heine-Kanal bis zum 21. Juni, Fr/Sa/So, Starts jeweils 19:00 Uhr, 19:30 Uhr und 20:00 Uhr.

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