Andris Nelsons weilt wieder in Leipzig. Anlässlich der ersten Boston-Woche dirigierte der Gewandhauskapellmeister am Donnerstag und Freitag Werke, die zum Kernrepertoire des Boston Symphony Orchestra zählen. Dramaturgischer Dreh- und Angelpunkt des besonderen Konzertabends war mit Elliott Carter der Nestor der amerikanischen Moderne.

Dass Carter, der 2012 kurz vor seinem 104. Geburtstag verstarb, hierzulande nur Kennern bekannt ist, ist Spielplangestaltern und Kapellmeistern zu verdanken, die die Qualität seiner Arbeit beharrlich ignorieren. Jenseits des Atlantiks zählte der New Yorker schon zu Lebzeiten zu den einflussreichsten Komponisten des 20. und frühen 21. Jahrhunderts.

Als der Sohn eines Teppichhändlers 1924 in der Carnegie-Hall einer Aufführung von Strawinskys „Le sacre du printemps“ beiwohnte, beschloss er, Musiker zu werden. Sechs Jahre später, Carter studierte zu dieser Zeit bei Walter Piston und Gustav Holst in Harvard Musik und Englisch, schrieb Strawinsky im Auftrag des Boston Symphony Orchestra seine Psalmensinfonie.

Das ungewöhnliche Chorwerk, das ganz ohne Violinen und Bratschen auskommt, war in Leipzig zuletzt im Jahr 2000 zu hören. Insoweit erschien es nur logisch, ihm im Rahmen des Boston-Programms wieder eine Chance zu geben. Nelsons legte in seiner Interpretation den Fokus auf den Fluss der Musik. Die sakralen Chöre, wunderbar gesungen vom GewandhausChor, bildeten zusammen mit den ausbalancierten Orchesterklängen ein akustisch betörendes Gesamtkunstwerk. Nelsons künstelte nicht, sondern ließ die in Musik gegossenen Emotionen Strawinskys sprechen.

Der GewandhausChor interpretierte Strawinskys Psalmensinfonie. Foto: Luca Kunze
Der GewandhausChor interpretierte Strawinskys Psalmensinfonie. Foto: Luca Kunze

Den Kontrast bildete die Arbeit eines Freundes Carters. Aaron Coplands „Old American Songs“ sind fester Bestandteil amerikanischer Liedtradition. Die humorvollen Lieder entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts und sind bis heute fester Teil des amerikanischen Konzertrepertoires. Das Gewandhaus hatte den gefeierten Liedsänger Thomas Hampson eingeladen, um einige Stücke zum Besten zu geben. Der Publikumsliebling arbeitete sich gekonnt durch anspruchsvolle Songs wie „The Dodger“ und schmetterte Baladen wie „Long Time Ago“ sehnsuchtsvoll in den Saal.

Nach der Pause rückte die Instrumentalmusik ins Blickfeld. Den Anfang machte ein Spätwerk Carters. Das Klarinettenkonzert entstand 1996 anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Pariser Ensemble InterContemporain, das die Komposition im Januar 1997 unter Pierre Boulez uraufführte. Das höchst virtuose Werk für einen Solisten und Kammerorchester fordert von den Mitwirkenden neben ausgeprägter Fingerfertigkeit ein sehr gutes Hörverständnis, um die zahllosen Disharmonien, wechselnden Rhythmen und farbenreichen, abstrakten Figuren zu erfassen und umzusetzen.

Thomas Hampson sang Lieder von Aaron Copland. Foto: Luca Kunze
Thomas Hampson sang Lieder von Aaron Copland. Foto: Luca Kunze

Den Solo-Part übernahm in Leipzig Jörg Widmann, den das Publikum im Laufe der Saison als Hauskomponist kennenlernen durfte. An der Klarinette erweist sich der 45-Jährige als begnadeter Virtuose, der das anspruchsvolle Werk mit träumerischer Leichtigkeit interpretierte. Leider fanden nicht alle Zuschauer Gefallen an der fulminanten Darbietung moderner amerikanischer Musik, was in dieser Spielzeit immer wieder zu erleben war, wenn zeitgenössische Musik auf dem Programm stand.

Den krönenden Abschluss bildete die leichte Muse. Leonard Bernsteins „Symphonic Dances from West Side Story“ luden zum Mitwippen ein. Die Suite mit Melodien aus dem Musical ist ein Dauerbrenner in den Konzertsälen. Im Gewandhaus war die Compilation zuletzt im März 2017 zu hören. Das komplette Musical lief – mit Gewandhausorchester – im Mai im Opernhaus. Für die Gewandhausmusiker sind die flotten Melodien vertraute Gefilde.

Andris Nelsons zelebrierte den gut 20-minütigen Mix aus Swing, Jazz, Mambo und Co. wie sonst eine klanggewaltige Sinfonie. Die Streicher durften sich in einen Rausch spielen. Das Schlagwerk funktionierte rhythmisch präzise wie ein Schweizer Uhrwerk. Holz und Blech wirkten als die belebenden Elemente. Nelsons vertraute ganz der sinfonischen Wucht des modernen Klassikers, verzichtete folgerichtig auf jegliche Abstraktionen, sondern ließ der Magie des Meisterwerks ihren Lauf. Das spürbar mitgerissene Publikum spendete dafür anhaltenden Beifall.

Am kommenden Wochenende endet die 237. Gewandhaussaison mit zwei Open-Air-Konzerten im Rosental. Beim diesjährigen KlassikAirleben stehen am Freitag und Samstag unter Leitung von Andris Nelsons Musik von George Gershwin und Filmkomponist John Williams auf dem Programm. Der Eintritt ist frei.

 

 

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