Die Großen Concerte in dieser Woche sind ein Beispiel dafür, wie ein Orchester mit guter Musik sein Stammpublikum verärgern kann. Die Aufführung von Werken Wolfgang Rihms und seines Schülers Jörg Widmann sorgten bei Teilen des Publikums für deutlich vernehmbare Verstimmungen.
Seien wir ehrlich. Die allermeisten Gewandhaus-Abonnenten rennen dem Konzerthaus die Bude ein, um Werke von Komponisten wie Mendelssohn, Mozart, Beethoven und Brahms zu hören. Von letzterem stand diese Woche die 4. Sinfonie auf dem Programm. Ein fester Teil des deutschen Kernrepertoires. Zuvor ließ Chefdirigent Andris Nelsons zeitgenössische Musik spielen. Damit kennt sich der Lette wunderbar aus. Die ausgewählten Werke fügen sich nahtlos in den Jahresspielplan mit seinem Schwerpunkt im Oeuvre Widmanns ein. Das konservative Publikum reagiert allerdings schon seit Wochen verstimmt auf die Leidenschaft des neuen Gewandhauskapellmeisters, der in seinen Programmen vorzugsweise Modernes mit Bewährtem verbindet.
Zwar erntete das Orchester zur Pause keine Buhs. An der Sektbar wurde aber gepoltert, was das Zeug hielt. „Das war fürchterlich. Fürchterlich“, raunte etwa ein älterer Herr. „Man kann doch nicht zwei solche Stücke hintereinander spielen“, echauffierte sich ein anderer.
Das Fachpublikum ist freilich anderer Meinung. Für die Entdeckung der Avantgarde im Großen Concert erntete Nelsons unter Kollegen und Kritikern bereits viel Lob, und das völlig zu Recht. Die Zahl der Uraufführungen wurde diese Saison vervielfacht. Die schwerpunktmäßige Beschäftigung mit einem Komponisten der Gegenwart über eine ganze Saison ist an anderen Häusern, etwa der Semperoper, längst gang und gebe. Die Uraufführungen und die für die Komponisten noch viel wichtigeren Wiederaufführungen bewegen sich durchweg auf hohem musikalischem Niveau und tragen ganz selbstverständlich zur Belebung des Spielplans bei.
Von einem Kulturorchester, das zu den weltweit führenden seiner Art zählt, darf man die Pflege von Musik des 20. und 21. Jahrhunderts erwarten. Insoweit entbehrt das Gemecker jeglicher argumentativer Grundlage.
Diejenigen Zuhörer, die sich auf das Neue, das Unbekannte einließen, konnten sich über zwei sinfonische Leckerbissen freuen. Wolfgang Rihms „Nähe fern 4“ ist ein kurzweiliges, assoziatives Stück. Die bleiernen Auftaktakkorde führen in einen pulsierenden Schwebezustand, der in abstrakten, harmonisierenden Schwingungen mündet. Aus dem Hintergrund legt sich ein hohles Holzklopfen auf den sinfonischen Teppich, das schließlich von dem makaber klingenden Pfeifen der Flöte abgelöst wird.
Die tonalen Bezüge zu Brahms’ Vierter sind nicht zu hören. Zu weit entfernt ist das Neue, das Rihm aus Brahms’ Werk seziert und wieder zusammengewürfelt hat. Das Orchester spielte das höchst anspruchsvolle Werk technisch sauber. Nelsons hielt die atonalen Einwürfe der Partitur mit bewundernswerter Penetranz zusammen, dabei stets auf der Suche nach höchster Perfektion. Das Resultat sind vollmundige Klänge, die den Zuhörer zum Assoziieren einladen.
Diese fand der Maestro auch in Widmanns Trauermarsch für Orchester und Klavier. Als Solist hatte das Gewandhaus Superstar Yefim Bronfman eingeladen, der schon 2014 die Uraufführung mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle gespielt hatte. Die in sich verworrene Partitur verlangt von allen Mitwirkenden ein absolutes Höchstmaß an musikalischer Disziplin. Der Grat zwischen ernster Kunst und heiterer Parodie ist ein sehr schmaler.
Der Zuhörer bemerkt schnell, dass das Werk keineswegs ein Trauermarsch ist. Eigentlich ist Widmanns unrhythmisches Dickicht aus Tönen und Akkorden eines Marsches nicht einmal ansatzweise würdig. Der Komponist reizt das Publikum, fordert die Zuhörer heraus und bricht mit allen denkbaren Assoziationen, die der Titel hervorrufen könnte.
Andris Nelsons, der im März noch Wagners weltberühmten Trauermarsch aus der Götterdämmerung dirigierte, nahm die Partitur zum Anlass, um ein ganzes Genre auf den Prüfstand zu stellen. Trotz Bronfmans Meisterleistung und dem satten, farbenreichen Spiel des Orchesters waren viele Zuhörer erneut nicht gewillt, sich auf die Musik einzulassen. Ein Konzertbesucher verließ am Donnerstag sogar vorzeitig den Saal – immerhin ohne die Tür wutentbrannt zuzuknallen.
Der Applaus fiel nach einer knappen halben Stunde standesgemäß aus. Buh-Rufe sind dem Leipziger Publikum ohnehin fremd. Der Respekt für die Künstler ist gigantisch. Noch lauter wurde der Beifall, als Bronfman Schumanns Arabeske als Zugabe auspackt. Endlich Musik, werden sich viele gedacht haben.
Nach dem deutlich vernehmbaren Gemecker auf den Fluren kamen die Romantiker endlich auf ihre Kosten. Nelsons brauchte 47 Minuten, um sich durch Brahms’ Vierte zu arbeiten. Waren die Leipziger von seinem Vorgänger Riccardo Chailly wahre Husarenritte im Schweinsgalopp gewohnt, ist Nelsons jeder Ton, jeder Akkord heilig. Der Maestro dirigiert langsam, beinahe zu sehr schleppend, aber doch mit einer sprudelnden Dynamik, die sich an seiner exzessiven Körpersprache ablesen lässt.
Tief taucht der Kapellmeister in ruhigen Momenten ins Orchester hinein, während er bei den lauten Knallmomenten die Faust gar nicht hoch genug in den Saalhimmel strecken kann. Sein Brahms klingt warm, weich, irgendwie wonnig. Das ist Musik, die sich wohltuend aufs Ohr legt. Und die man stundenlang genießen könnte. Zumindest in diesem Punkt sind sich an diesem Abend alle einig.
Der MDR hat das Konzert mitgeschnitten. Die Ausstrahlung erfolgt am 27. April um 20:05 Uhr bei MDR Kultur.
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