„Wie aber kann die deutsche und europäische Kulturszene reagieren? Reichen Solidarität und Empathie?“, das waren so zentrale Fragen in der Talkrunde „Der Krieg gegen die Ukraine und die europäische Kultur“ am Samstag, 19. März, im Rahmen des Lesefestivals weiter:lesen im Felsenkeller.

Das Fazit war dann eigentlich das zu erwartende, denn es ist das Resultat von so vielen Jahrzehnten an Literatur zum und über den Krieg. Aus Betroffenheit allein heraus kann Literatur nicht reagieren. Das wird entweder Propaganda oder schlechte Tagesliteratur. Oder der Unfug, den deutsche Literaten beim Kriegsausbruch 1914 ablieferten, Zeug, das mehr Schaden anrichtete, als es überhaupt zu begreifen half, was da geschah, warum und mit welchen Folgen. Das konnte man erst viele Jahre später in den starken (Anti-)Kriegsromanen der Weimarer Republik lesen.

Menschen, die sich nicht mundtot machen lassen wollen

Die russische Schriftstellerin Katerina Poladjan brachte es im Grunde auf den Punkt, indem sie mehrfach auf die notwendige Zeit zum Nachdenken einging. Noch befindet sich die Ukraine ja im Krieg, werden ihre Städte von russischen Raketen angegriffen, stehen sie unter Artilleriebeschuss, die Fluchtwege sind abgeschnitten, die Versorgungslinien unterbrochen und die Menschen harren in Schutzkellern aus.

Und versuchen dort, dennoch nicht zu verstummen, wie Svetlana Lavochkina erzählt, die als ukrainische Autorin in Leipzig lebt und den Kontakt hält zu den Menschen in Kiew. Die natürlich weiter Musik machen, Gedichte, Texte, die sich nicht mundtot machen lassen von der russischen Kriegsmaschine. Und natürlich ergab die vom Börsenverein organisierte Diskussion, dass es dringend angeraten ist, diesen Stimmen weiterhin Gehör zu verschaffen, sie zu verstärken.

Was natürlich die Frage mit sich bringt, ob man da nicht dem Informationskrieg auf den Leim geht.

Die Rolle des Journalismus bei Krieg und Katastrophen

Aber das ist eigentlich nicht das Thema von Autor/-innen. Und auch nicht von Journalisten wie Arndt Ginzel. Der Leipziger war jetzt schon mehrfach in der Ukraine und wird auch demnächst wieder hinfahren, um von dort zu berichten.

Denn Journalismus steht nun einmal in der Pflicht, das zu zeigen, was wirklich passiert. Er zeigt das reale Bild des Krieges – jedenfalls so nah, wie Journalisten herankommen, ohne dabei selbst in Gefahr zu geraten. Und für diesen Auftrag zum Berichten über das, was dort wirklich passiert, sprach Ginzel an diesem Tag noch ein sehr emotionales Plädoyer. Und man merkte, dass ihm das selbst nahe geht. Denn natürlich fühlt auch ein Journalist mit, wenn er über solche Dinge berichtet.

Man hat dann schnell den alten, scheinbar so wahren Spruch von Hanns Joachim Friedrichs im Kopf: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten Sache; dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazu gehört.“ Aber das hat er auch mal anders formuliert: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein.“

TV-Journalist und Ukraine-Berichterstatter Arndt Ginzelin der debatte am 19. März 2022.Foto: Videoscreen weiter:lesen22
TV-Journalist und Ukraine-Berichterstatter Arndt Ginzel in der Debatte am 19. März 2022.Foto: Videoscreen weiter:lesen22

Empathie und Journalismus

Aber wer diesen Spruch meist verkürzt auf das „sich nicht gemein machen“, der hat überhaupt nichts begriffen. Schon gar nicht von der Arbeit eines Journalisten, der zwar professionell arbeitet vor Ort, der aber nicht einfach aufhört, ein empathischer Mensch zu sein. Erst die Empathie schafft das Verständnis für die menschliche Dimension all der Dinge, über die einer berichtet. Und seien es Katastrophen wie ein Krieg, der alle humanen Maßstäbe scheinbar überfährt und niederwalzt.

Man merkte nicht nur Ginzel an, dass ihn der Krieg eigentlich sprachlos macht. Und gleichzeitig fürchtet er natürlich, dass sich das Publikum bald an die Kriegsbilder gewöhnt hat. Denn anders reagiert ja der menschliche Geist nicht auf Bilder einer Katastrophe, die einfach nicht enden will. Es ist auch ein Schutzmechanismus. Was freilich den Berichterstattern ihre Arbeit nicht abnimmt, trotzdem zu zeigen, was weiter passiert.

Ohne Wertung und Urteil. Das werden erst spätere Berichte können. Es ist auch ein enormer Druck, der auf den Journalisten liegt. So wollen und müssen ja sofort berichten. Sie können das nicht einfach alles sacken lassen. Noch mal darüber nachdenken, einen anderen Zugang suchen.

„Mir ist der Atem abhandengekommen“

Da glaubt man dann, Dichter und Schriftstellerinnen sind besser dran. Sind sie aber nicht, wie Katerina Poladjan betont. „Mir ist der Atem abhandengekommen“, sagt sie. Um diesen Krieg und das Leid der Menschen literarisch fassen zu können, werde sie drei, vier Jahre brauchen. Denn Literatur entsteht erst, wenn die Atemlosigkeit endet.

Wobei keiner weiß, wie lange das wirklich dauern wird. So war auch die Warnung wichtig, die sowohl Katerina Poladjan als auch der ukrainische Gewandhausmusiker Ivan Bezpalow aussprachen: Man darf nicht auf die Kriegspropaganda hereinfallen und nun ausgerechnet die Menschen verantwortlich machen, die an diesem Krieg nicht schuld sind. Dazu zählen auch die vielen russischen Künstler, die schon vor dem Krieg unter einer massiven Gefährdung ihrer Arbeit versucht haben, dem menschlichen Russland eine Stimme zu geben.

Es ist ein Fehler, ihnen nun auch noch das Wirken im Westen unmöglich zu machen. Sie sind in der Regel die Stimme des friedlichen Russland. Nur von ihnen jetzt besonders stimmgewaltige Kunstwerke gegen Putin und den Krieg zu erwarten, das wäre eine unmögliche Forderung, stellt Poladjan fest.

Lebendige Literaturszene der Ukraine

Sodass sich die Aufgabe der Kultur tatsächlich völlig anders stellt: Sie muss Grenzen überwinden und den menschliche Stimmen aus Russland genauso Raum geben wie den Stimmen aus der Ukraine. Denn natürlich zerstört der Krieg auch die Veröffentlichungsmöglichkeiten in der Ukraine, wie Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, feststellt.

Der Börsenverein arbeite derzeit an mehreren Programmen, der ukrainischen Literatur, den Verlagen und Autor/-innen aus der Ukraine so gut wie möglich zu helfen. Aber die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass man ukrainische Bestseller nicht einfach neu auflegen kann so schnell. Die Verlage in Deutschland haben seit über einem Jahr mit einer massiven Papierknappheit zu kämpfen.

Andererseits ist es ein großes Anliegen, gerade jetzt noch mehr ukrainische Autor/-innen in Deutschland bekannt zu machen. Denn – wie Svetlana Lavochkina festellt, die ja auch als Übersetzerin ukrainischer Bücher bekannt ist – es ist seit dem Referendum für die Unabhängigkeit der Ukraine vor 30 Jahren eine ungemein lebendige ukrainische Literatur aufgeblüht. Es gibt mehr zu entdecken als die zwei, drei in Deutschland schon berühmten Autoren.

Bewahrung der Menschlichkeit

So gesehen wurde es am Ende eine ermutigende Aufforderung, dass man sich nicht entmutigen lassen darf von diesem Krieg und dem gleichzeitig stattfindenden Informationskrieg made in Moskau. Journalisten holen tief Luft und berichten weiter, um der Welt zu zeigen, was passiert. Autor/-innen werden ihre Zeit brauchen, um die aktuellen Ereignisse in literarisch tragfähigen Stoff zu verwandeln. Und Verlage und Börsenverein können versuchen, den ukrainischen Stimmen einfach Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Und dass das auch Autor/-innen aus Deutschland nahe geht und ihnen „den Atem nimmt“, das war dann am Ende auch Lena Falkenhagen, der Bundesvorsitzenden des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), anzumerken. Auch Schriftstellerinnen sind atemlos und betroffen, wenn so ein Krieg alles verändert.

Was bleibt? Sich die Menschlichkeit bewahren, aufmerksam bleiben und sich vom Informationskrieg nicht irre machen lassen. Es geht immer um Menschlichkeit – im Journalismus genauso wie in der Literatur. Und wer glaubt, dass er sich damit nicht gemein machen darf, der hat es nicht begriffen. Wirklich nicht.

Hinweis d. Redaktion: Zur Stunde (16 Uhr), Sonntag, 20. März 2022, läuft die Veranstaltung auch heute Abend noch mit Lesungen unter anderem von Schauspieler Peter Schneider und Wladimir Kaminer bis etwa 20:30 Uhr im Felsenkeller und Moritzbastei.

Weitere Infos unter: www.weiterlesenleipzig.de

Die Debatte vom 19. März 2022 zum Ansehen


Video: weiter:lesen22

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