Der Leipziger Reclam-Verlag hatte enorme Bedeutung bei der Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit in Ostdeutschland. In seiner Universal-Bibliothek (RUB) erschienen neben den Klassikern aus dem Fundus des traditionellen Familienverlages und Titeln der "sozialistischen Gegenwartsliteratur" seit Mitte der 1960er Jahre (Taschen-) Bücher - 1371 Nummern in millionenfacher Auflage - die vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts viel Aufsehen erregten.

Darunter waren Autoren der russischen, ost- und westeuropäischen und der lateinamerikanischen Avantgarde, Victor Klemperers “LTI” (1966) und Walter Benjamins “Zeitzeichen” (1970), musikliterarische Biographien und Dokumentenbände über Carl Philipp Emanuel Bach, zweimal über Schostakowitsch (1961 und 1980) und über Theodorakis, philosophische Primärtexte von Aristoteles über La Mettries “Der Mensch eine Maschine” bis zu Xenophon sowie die weltweit erste Ausgabe jiddischer Gedichte “Der Fiedler vom Getto”.

Für ostdeutsche Leser waren die Sammlungen mit expressionistischen Gedichten “Menschheitsdämmerung” (1968) und Erzählungen von Kafka (1978) ebenso wichtig wie das Erscheinen der Autoren aus dem Exil Ost und dem Exil West, zwischen die der aus Siebenbürgen stammende Georg Maurer (1961) gestellt wurde.

Besonders hervorzuheben sind auch Titel von Autoren der nachfolgenden Generation: von Volker Braun über Reiner Kunze, Heiner und Inge Müller bis zu Christa und Gerhard Wolf, und 1983 endlich Wolfgang Hilbig. Nach mehr als 25 Jahren kam 1985 der von der Leipziger Universität vertriebene Philosoph Ernst Bloch in Ostdeutschland (wieder) heraus, 1987 Hans Mayer, daneben eine überstürzt anmutende Anhäufung von Editionen westdeutscher Autoren: Peter Rühmkorf, Peter Härtling, Günter Grass, Walter Jens, Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser. Die Kompendien “Sorbisches Lesebuch”, “Surrealismus in Paris”, “Die Sonnenuhr” (Tschechische Lyrik aus 11 Jahrhunderten) und “Russen in Paris” machten den Verlag zu einer wichtigen Adresse.
Nach der temporären Rückführung des Archivs an den Fachbereich Buchwissenschaft, die von den Stuttgarter Eigentümern im Herbst 2008 schon zwei Jahre nach der Schließung des Leipziger Verlages veranlasst wurde, ist es erstmals möglich geworden, die Firmengeschichte und die geheimen Geschichten hinter den Büchern über einen Zeitraum von 45 Jahren (1945 bis 1990) zu bewerten.

Das wird Thema einer Konferenz am Donnerstag, 25. Oktober, und Freitag, 26. Oktober, im Haus des Buches (Gerichtsweg 28) und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (Karl-Tauchnitz-Straße 1) unter dem Titel “Eine einzigartige Bibliothek der Weltliteratur. Reclams Universal-Bibliothek im Leipziger Reclam-Verlag 1945-1990”.
Die öffentliche Konferenz wird im Rahmen des Pilotprojekts “Leipziger Verlagsarchive: Reclam als Erinnerungsspeicher und Labor” und des Programms “Geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung” des Freistaates Sachsen am Fachbereich Buchwissenschaft im Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig und in Zusammenarbeit mit der Sächsischen Akademie der Künste (SADK), der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (SAW) und dem Literaturhaus Leipzig durchgeführt und vom Verlag Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart unterstützt.

Zur Konferenz werden mehr als 33 Wissenschaftler, Autoren und Herausgeber sowie Zeitzeugen erwartet. Am Vorabend der offiziellen Eröffnung sprechen Reiner Kunze und sein Lektor Hubert Witt in einer Veranstaltung der Reihe “Bücher, Mythen und Verlage” im Haus des Buches über die Hintergründe der Gedichtsammlung Mein Wort – ein weißer Vogel, die Ende des Jahres 1961 in einer kleinen Auflage im Reclam-Verlag herausgekommen ist.

Die Konferenz, die von Prof. Siegfried Lokatis, Fachbereich Buchwissenschaft, Gundula Sell, Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, vom Präsidenten der SAW, Prof. Dr. Permin Stekeler-Weithofer, sowie vom Vizepräsidenten der SADK, Prof. Wilfried Krätzschmar, am 25. Oktober eröffnet wird, steht unter einem Motto des einstigen Leipziger Literaturkritikers und -wissenschaftlers (und Reclam-Herausgebers) Hans Mayer. Sie stellt die RUB mit ihren klassischen und neuen Werken der deutschen und der internationalen Literatur, Philosophie, Kunst- und Kulturgeschichte ins Zentrum und zur Diskussion.

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Gefragt wird nach den Spielräumen gegenüber der Zensur und den Aktivitäten des Verlages im deutsch-deutschen Literaturaustausch. Außerdem danach, wie es dem langjährigen Verlagsleiter Hans Marquardt im zentral gesteuerten Verlagswesen der DDR gelingen konnte, Reclam Leipzig wie ein Privatunternehmen zu führen.

Zum Abschluss der Konferenz debattieren in der Sächsischen Akademie der Künste zu Leipzig der Linguist Prof. Dr. Manfred Bierwisch, die Musikwissenschaftler Prof. Dr. Detlef Altenburg, Prof. Frank Schneider, der Komponist Steffen Schleiermacher und die Lektorin Barbara Fleischhauer über den “Kreis um den Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm und den Schriftsteller Uwe Johnson”.

Die Rückkehr von Autoren, Wissenschaftlern und Zeitzeugen von internationalem Rang würdigt nicht nur den einstigen Buchhandelsplatz. Die wissenschaftliche und historische Aufarbeitung dieses wichtigen Verlages dient sowohl dem interdisziplinären Wissenschaftsaustausch als auch der Bildung regionaler und überregionaler Kooperationsnetze und somit der Sicherung des Verlags- und Wissenschaftsstandortes Leipzig und der internationalen Reputation Sachsens. Die Digitalisierung des Archivs, die das Projekt ebenfalls leistet, wird künftigen Forschergenerationen Gelegenheit geben, moderne deutsche Verlagsgeschichte am angestammten Ort weiterzuführen.

www.uni-leipzig.de/~buchwiss

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