Alles neu machte die Wende: Als Anfang der 1990er gefühlt von einem Tag auf den anderen das gesellschaftliche Gerüst einstürzte, auf welches sich die Menschen im Osten Deutschlands vier Jahrzehnte lang gestützt hatten, bedeutete das vor allem: Neuorientierung. Wie wird es weitergehen? Nach welchen Regeln wird jetzt gespielt? Fragen, auf die erst nach und nach und mit der Erfahrung des „Machens“ echte Antworten gefunden werden konnten.
Eben dieses „Machen“ war ein beliebtes Stichwort am Dienstagabend, als im Rahmen der aktuellen Sonderausstellung „Zwischen Aufbruch und Abwicklung – die 90er in Leipzig“ im Stadtgeschichtlichen Museum vier Akteur*innen der Leipziger Kulturszene im „Freiraum“ in die Vergangenheit eintauchten. Auf dem Podium gaben Kathrin Hart vom Kabarett academixer, Heike Engel von Anker e.V., Peter Matzke, Geschäftsführer des Krystallpalast Varietés und naTo-Chef Torsten Hinger Einblicke in ihre persönlichen Erfahrungen mit der Zeit des Umbruchs.
„Man musste sich ständig neu erfinden“
Das Ende der DDR bedeutete für künstlerische Institutionen zunächst einmal, den Kapitalismus zu lernen. Wirtschaftlich arbeiten, ein Unternehmen sein, das sich selbst finanzieren kann – das war für die meisten bis dato nicht vonnöten gewesen. Viele Kulturhäuser waren vorher direkt an Betriebe angeschlossen. Mit Beginn der „neuen Zeit“ war das passé. Man organisierte sich in gemeinnützigen Vereinen, gründete GmbHs. Was genau das bedeutete, wussten viele zunächst nicht. Peter Matzke erinnert sich: „Mit der Wende kam das Organisatorische – die bestehenden Strukturen sind zusammengebrochen. Die Moritzbastei gehörte der FDJ, die FDJ gab’s nicht mehr. Plötzlich mussten wir sehr schnell aufs Geld schauen und die MB in einen kapitalistisch organisierten Laden umwandeln.“ Matzke, der während seines Studiums als Booker in der MB aktiv war, hatte 1989 sein Diplom als Historiker in der Tasche. Als mit der Wende das Institut und damit seine wissenschaftliche Laufbahn den Bach runtergingen, entschied er sich, zu bleiben.
„Es ging damals alles wahnsinnig schnell“, pflichtet Kathrin Hart ihrem Gesprächspartner bei. Neben der Umstrukturierung der Ensembles galt es auch, das gesamte Programm einmal auf den Kopf zu stellen. Was auf die Bühne gebracht wurde, musste nahezu täglich neu ausgelotet werden. Das Publikum sehnte sich in dieser aufregenden Zeit nach frischem Wind, nach der Auseinandersetzung mit aktuellen Ereignissen. „Wir mussten sämtliche Texte überarbeiten, ein Programm hat nur eine Woche gehalten, dann musste es das nächste geben und in der darauffolgenden Woche war auch das schon veraltet.“ In der Anfangszeit rangen die Künstler*innen damit, Worte zu finden für alles, was sie jahrelang nicht hatten sagen dürfen. „In der DDR hatten wir es stets vermieden, Dingen an den Kern zu gehen und sie zuzuspitzen. Auf einmal durften wir alles sagen, was wir dachten, daran mussten wir uns gewöhnen.“
Torsten Hinger ging es in der naTo ähnlich: „Man musste sich ständig neu erfinden. Wir haben darüber oft gar nicht lange nachgedacht – wir hatten keinen Plan und haben einfach versucht, etwas auf die Beine zu stellen.“ Des Öfteren ging es mit einer Gruppe von rund 50 Künstler*innen auf Kennlern- und Inspirationsreisen in den Westen – auch, um sich zu zeigen. „Wir waren manchmal positiv gedankenlos und hatten viel Energie.“ Energie, die oft während nächtlicher Gespräche in neue Ideen umgewandelt wurde. So kam es auch zum ersten Seifenkistenrennen, das die naTo seit Beginn der 90er für 30 Jahre lang am Fockeberg im Leipziger Süden ausrichtete. Die Stadt vernetzte sich neu, die Nacht wurde zum Tag und an jeder Ecke wartete ein Angebot, eine Nische, die durch kurze Wege erobert werden konnte. Ein Merkmal, das Leipzig auch heute noch für viele so interessant macht.
Kaum Regeln, dafür viel Leidenschaft
Aber back to the 90s: Dass diese „wilden Zeiten“ nahezu befreit waren von Bürokratie, eröffnete Künstler*innen und Veranstalter*innen einen unschätzbaren Freiraum. Erst nach und nach etablierten sich in den sogenannten neuen Bundesländern Brandschutzvorschriften, Hygienekontrollen, Genehmigungsprozesse und Co. In dieser Utopie, die Realität war, konnte der Anker e.V. an drei Tagen hintereinander zum beliebten Wave Gothic Treffen mehr als 1000 zahlende Gäste empfangen – in einem Raum, welcher für 100 Personen ausgelegt war. „Das wäre heute so wohl nicht mehr vorstellbar“, schmunzelt Heike Engel.
Wenn Engel, Hart, Hinger und Matzke so erzählen, wünschte ich, ich wäre dabei gewesen – in dieser Zeit, die nach Kreativität, Freiheit und Enthusiasmus klingt. Zwar bin ich in diesen Jahren in der gerade erst frisch ehemaligen DDR geboren und aufgewachsen – was politisch, gesellschaftlich und kulturell um mich herum geschah, habe ich trotzdem erst später aus den Geschichtsbüchern erfahren.
War damals also alles einfacher für die Kultur? Anders, sicherlich. „Wir wollen auch nicht vergessen: Natürlich haben manche Dinge auch nicht funktioniert“, wirft Matzke ein. „Vor der Distillery zum Beispiel gab es den Technoclub ‚Die Basis‘ – der hat es nicht geschafft, zu überleben. Und das war nicht der einzige Laden.“ Hätte der Anker e.V. nicht schon zu Beginn der 90er-Jahre eine institutionelle Förderung durch die Stadt erhalten, hätte der Verein diese Orientierungsphase wohl auch nicht überlebt, wirft Engel ein. Dem Verein war es deshalb auch immer wichtig, auch die ehemaligen DDR-Künstler*innen zu unterstützen. „Für die war die Zeit natürlich hart. Das Publikum stürzte sich jetzt auf die Musik aus dem Westen. Wir haben vielen auch weiterhin eine Bühne geboten.“
Dass es ihre Institutionen heute noch gibt, hat für die vier Podiumsgäste auch viel mit Leidenschaft zu tun. „Wir haben vieles einfach gemacht, weil wir Spaß daran hatten. Heutzutage vermisse ich dieses Engagement manchmal, dieses Feuer, ohne das es einfach nicht funktioniert“, so Engel. Für sie seien 60-Stunden-Wochen der Normalzustand, den die Arbeit in der Kultur einfach mit sich bringe. „Inzwischen ist man daran gewöhnt, dass kaum jemand noch etwas umsonst macht. Damals haben wir das alles im Ehrenamt gestemmt“, denkt Matzke an die Zeit in der MB zurück.
Mehr Verantwortung? Mehr Freiheit!
Im Angesicht der vielen Initiativen und Projekte, die in Leipzig unentgeltlich Raum für Kultur und Vernetzung bieten, ist das vielleicht eine etwas zu steile These. Auch Teile des Publikums, das inzwischen in die Gesprächsrunde miteinbezogen wurde, können diese Aussagen so nicht stehen lassen. Trotzdem ist man sich einig, dass sich die Zeiten geändert haben – auch, was die Möglichkeiten angeht, um sich auszubreiten. Von leerstehenden Gebäuden und Industriebrachen, die darauf warteten, mit Kultur bevölkert zu werden, träumen viele Akteur*innen in Leipzig heute. Wenn es sie gibt, diese Räume, sind die heiß umkämpft. Akteur*innen, die etwas aus Eigeninitiative auf die Beine stellen wollen, stehen oft vor nicht unerheblichen bürokratischen und/oder finanziellen Hürden. Als ein Beispiel sei hier der Ostwache Leipzig e.V. genannt. Und obwohl sich Leipzig als Stadt im bundesweiten Vergleich viel Kultur leistet, schrumpfen auch hier die Fördertöpfe. Und das bei wachsender Verantwortung und mehr Auflagen?
Als versöhnenden Abschluss bringt Museumsleiter Anselm Hartinger es auf den Punkt: „Wenn es künftig weniger Geld gibt, braucht es dafür wieder mehr Freiheit!“ Ein Satz, mit dem man in die Nacht entschwinden kann.
Keine Kommentare bisher