Nicht der ist schon eines Spieles mächtig, der die Regeln desselben auswendig gelernt und in diesem Sinne verstanden hat. Vielmehr jener, der gekonnt – spielerisch und das heißt mit einiger Leichtigkeit, diese Regeln beim Spielen, im Spiel selbst, souverän anzuwenden versteht. Allein in dieser Feststellung liegen bereits verschiedene Bedeutungen des Begriffs „Verstehen“.

Eines Spieles mächtig sein, das bedeutet gekonnt zu spielen. Künstler des Spielens zu sein. Ob jemand Spielkünstler tatsächlich ist, offenbart sich im Spielvollzug. Klar ist, dass Regeln Gerüst entlang der Dauer und Abfolge eines bewusst abgenommenen und gewollten Spieles sein können, dass sie einen Rahmen bilden.

Doch wo Gerüst und Rahmen ist, ist gleichzeitig Begrenzung. Sie begrenzen nicht nur den Freiraum zum Spielen, sondern sind auch Grenzpfeiler zur Abtrennung dieses Raumes von allem, das sich außerhalb befindet.

Sie zeigen ein Außen und ein Innen an als Raumvorgaben und bilden damit – aus Sicht des einzelnen Spielers – eine für alle Beteiligten objektive Maßgabe. Aber ist der Spieler an seiner eigenen Grenze, wenn er am Rand oder direkt am Grenzpfahl anlangt?

So ist es auch mit dem Zeitraum. Mit dem Anpfiff eines Fußballspieles beispielsweise ist der für alle Beteiligte Beginn des Spieles gegeben. Dieser objektiv nachvollziehbare, Maßstabsetzende, wenn aus Sicht des Einzelnen auch fremdbestimmten Beginn des Spieles, heißt aber nicht, dass für alle und ganz objektiv ein selbes beginnt. Im Grunde hat jeder Spieler seinen eigenen Anfang, seine individuelle Wahrnehmung und auch Form und für alle beginnt ein anderes, je eigenes, noch unvorhersehbares neues als Spiel.

Gekonnt Spielen bedeutet, dass sich der Spieler einlässt auf das auf ihn zukommende offene transzendentale Feld, dass er die Regeln des Spieles im Spielen nicht bedenken muss, sondern, dass sie ihm eigen sind, weil sie in der Normal-Empraxis seiner Trainingseinheiten ihm eingekörpert zur Verfügung stehen. Er wendet sie anstrengungslos an und kann sich auf sein Spielen des Spieles konzentrieren, sich dem Geschehen in der Lust an der bedingungslosen Hingabe hineinwerfen. Virtuos Spielen bedeutet zumindest die Lust zur bedingungslosen Hingabe – geländerlos die Intensität des Unbekannten erfassend – rückzieherlos und sehnsuchtgetrieben voran spielend.

Der eigene Griff definiert im Vollzug dieses Greifens das vorher gegenstandslose – denn: begriffs- wie angriffslose, neue Geländer und Grenzabsteckung für die Weile dieses Intensitätsmomentes. Sich von der Situation des Spieles ergreifen lassen, um das neu auf ihn Zukommende zu begreifen – das ist die Kunst.

Geburt der Sprache

Echte Begriffe sind immer radikal. Geburtsort ist die empraktisch-rauschhafte Intensität der noch unbegriffenen, aber je selbst leiblich schon inmitten der Lebendigkeit seienden, existenziellen Wurzel-Haft. Begriffe sind grundlegende Instrumentarien unserer Sprache.

Als diese radikalen leiblich-verfassten Entwicklungsgebiete sind sie ebenso wie sie an einer Stelle Wort oder Laut oder Satz oder Silbe eines Wortes sind: geboren im Affekt, der Leidenschaft, der Stimmung. Sie gründen sich im „Willen zur Macht“[1], in der Empraxis vorrationalen Eingebundenseins unseres Daseins, unserer Existenz und haben sich auf abstrakter, rational-theoretischer Ebene selbst eben im Gefühl, in ihrer Gestimmtheit des Leibes, im empraktischen, individuell angewandten Erfahrungswissen je immer schon verstanden.

Deshalb dulden sie keine Willkür auf der „höheren“ Ebene, die dann beispielsweise eine Grammatik oder Rechtschreibung formuliert. Ihr „Richtig“ und „Falsch“ verifiziert sich auf jeder Ebene in der Authentizität und Nicht-Authentizität.

Verkommt der Begriff und die Sprache zur bloßen Dekoration, Illustration, zum Beiwerk zweckgerichteter Kosten-Nutzen-Propagandismen, ist der Begriff nicht mehr Begriff und Sprache höchstens Wortaneinanderreihung, deren Absurdität kein Dadaismus bisher einzufangen imstande war.

In dieser erfahrenen, mutigen existenziellen Vergegenständlichung und individuell gesetzten objektiven Grenze, die in diesem Moment zumindest gültig ist, hat der spielerische Umgang mit der Tat in ein NICHTs hinein ein subjektives Maß erschaffen. Einen Maßstab dessen, der sich – mit der Forderung Nietzsches ernst machende Künstlerphilosoph, nämlich am Leitfaden des Leibes zu philosophieren – am empraktischen Selbstmaß orientierend, Freiheit für sein Leben erschaffen. „Nur der verdient die Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss!“ (Goethe)

Das Selbstmaß am Leitfaden des Leibes erprobt, gibt vor Sehnsucht nach MEHR von nun keine Ruhe mehr, ehe es weiter und wieder und wieder und Tag für Tag den Mut zur echten empraktisch ergriffenen Intensität seines Schöpfers erfährt. Es will ganz und gar Freiheit sein und muss doch wieder und wieder erobert werden, um echt und befriedigend über sich hinaus, selbst steigernd zu bleiben vermag. Der Künstler ist nun in der Pflicht gegen sich und würde, kämpfte er nicht bis zur absoluten Erschöpfung unermüdlich weiter, das eingeübte selbsterschaffene Maß seiner Existenz verlieren und so auch sukzessive seinen Willen zur Freiheit.

Der Wille zur Macht als individueller Wille zur Höchstleistung, zu größtmöglicher Intensität des Denkens und Tuns des Einzelnen. Im experimentellen Umgang mit den eigenen Grenzen, im Hören auf den eigenen Körper und seine Fähigkeiten zu Kraftsteigerung und Fülle entwickelt er eine Haltung zu sich selbst und darüber hinaus zu anderen. Die „Große Gesundheit“ erprobt sich das Individuum, indem es das je eigene Maß erkennt, lebt und möglicherweise weiter und weiter steigert.

Dieses Experimentieren mit und am eigenen Leibe ist das existenzielle Spielen des Leibes im Leben als Lebendiges inmitten des Lebendigen. Der Leib oder auch: das Leben ist der unmittelbare Zugang oder das wesentliche Einssein mit allem, was außer ihm lebt und leibt. Es gilt demzufolge nicht das Motto René Descartes: „Ich denke, also bin ich (cogito, ergo sum), sondern vielmehr mit Nietzsche gedacht: somnio, ergo sum (=ich leibe, also bin ich!).“

Die sportiv-asketische Einübung in ein bejahenswertes und sich selbst überwindendes Intensitätsmaß, das den Wert, die Würde und letztlich auch den Sinn des eigenen Lebens bestimmt, ist die Einübung in das Möglichkeitsfeld gelebter Freiheit. Der so verstandene Asket ist gleich einem Seiltänzer über dem Abgrund immer auch in der Gefahr abzurutschen und aus der eigenen Höhe in eine unabsehbare Tiefe zu fallen.

Fällt er und ist nicht tot, ist seine Erfahrung des Maßes der anderen inmitten einer Welt ihrer Notwendigkeiten sein Schicksal. Dann findet er sich in einsamster Verlorenheit im Auffangnetz ihrer Gutgemein(t)heiten und wünschte sich wohl eher unter Bösen, als unter Gutmenschen gelandet zu sein …

Die selbst erkämpfte Höhe verloren zu haben, das Erübte an Eigenmaß undurchschaubarer, unbegreifbarer, unergreifbarer Massenmadenbreikonsistenz verloren, wird ihm sehr bald gewahr sein und er wird sich im Mittelmaßnetz noch jedes geringe Niveau, das fremdbleibend das eigene Abgegebensein bedeutet – alle noch so gutgemeinten Gegebenheiten unter ihnen zerstrampeln.

Das Netz im „Trotzdem“ (der drohenden gänzlichen Absturzgefahr) seiner verschwenderischen Größe, seiner rauschhaften Leidenschaft unwillkürlich zerfetzen. Seine Hände, seine Arme, seine Glieder je einzeln sind messerscharf und zerschneiden mit jeder Bewegung die Seile, die die anderen so sicher zu halten meinen.

Im Vorbeirausch das unsichere Gewahr einer – anscheinend allein ihm unzugänglichen – Netzwerkwelt.

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Cover Leipziger Zeitung Nr. 124, VÖ 03.05.2024. Foto: LZ

Die anderen erkennen nicht die große Not des so plötzlich zu ihnen und in ihre seilschaftsverknoteten Regeln des ihrigen Spieles erkennend, nur eines sehen: einen Wüterich, der ihre Regeln, ihre Ordnung, ihr Glück, das doch alle bisher so gut hielt, kaputtmacht. Sie treten ihm nach und spucken auf ihn in der Angst, seiner Wucht nicht standzuhalten und in einen Abgrund, den sie sicher nicht überleben würden – dafür haben sie den richtigen Instinkt – zu fallen. Denn ihre sicheren geknoteten Seile würden augenblicklich reißen an der Schärfe seiner Glieder – aus der Höhe eines völlig anderen Spielens und Spiels, weder wähnend, erblickend noch ahnend.

Ihre Regeln sind eineindeutig und vergleichbar und messbar und wer darin sich falsch bewegt, muss raus und weg. Ihr Wissen ist ein mechanisches bestenfalls innerhalb der Spielregeln, die rational gelernt, reproduziert und auf Dauer geltend gemacht wurden. Der Metatrop, der Künstler wird aus seiner empraktischen Spielweise Feind ihrer abgesteckt sauberen Spielwiese. Jeder von ihnen wird das bestätigen.

Näheres zum „Spielen des Spielers“

Im Spielen des Spielers: des Künstlers, des Athleten bildet sich das Spiel selbst wesentlich. Je mehr es aus der existenziellen Hingabe, der sich SELBST-verständlich aus Lust und Wille zur Selbstmacht intensivierenden Souveränität des Einzelnen gründenden Ordnung und Sicherheit Eigenwelt wird, je mehr strahlt es über sich hinaus. Das über die Einzelnheit Hinausstrahlende ist das Wesen.

Das Wesen, was ist das? Es ist vielerlei benannt worden – als das SEIN, der KERN, das EIGENTLICHE – der STOFF – das DIONYSISCHE … wie es auch benannt wurde oder fixiert im Wort, trotz eigentlicher Unbenennbarkeit.

Ich nenne es das Rauschhafte oder: das Prinzip „aktiver Wahnsinn“. Oder, etwas begrifflich fundierter: das Prinzip Sehnsucht. Es ist rasend und tobend und doch die Existenz perspektivierend. Es zwingt das Chaos und das Ungezügelte, das Zerstörerisch-Formlose und Formen-Lösende auf die unermüdliche Bildungsreise zu anderer Form. Es will Ordnung und Form, weil es selbst einer Form dient, die sich unserer Vorstellungskraft entzieht und doch Grundlage jeglichen Gemeinsamkeitsstiftenden und Zusammenhaltstiftenden ist.

Das Wesen ist säkular formuliert: das, das uns zusammenhält, das uns verbindet und uns spüren lässt, dass wir in Verbindung immer je schon mehr sind und sein wollen, als wir es vereinzelt, allein sind und sein können.

Das Wesen ist die formlose Form, die uns verpflichtet „Ja“ zum Leben zu sagen, „da capo! Noch einmal!“ und unsere Existenz nicht leidenschaftslos zu verschwenden, sondern in voller Inbrunst Fähigkeiten zu Fertigkeiten auszubilden, unsere Existenz um der Sache willen zu verschwenden, damit die Welt intensiver, nicht dauerhaft gähnend-quälend langweilig bis in einen knechtischen Tod hinein führt.

Per sportiver Askese üben wir uns ein in die Notwendigkeit der Formenschaffung aus der Inbrunst aller innewohnenden Ausdruckskraft. Geburtenfähig müssen wir bleiben, um Souverän eines für uns letztendlich undurchschaubaren Spieles im „immer weiter“ werden zu sein.

Das Wesen ist die ereignishafte Wucht und Größe, das uns Momente von Erhabenheit erfahren lässt – ungefragt – dann unvergessen als existenzielle Wende, vielleicht in eine Kehre unseres Daseins erlebt. Es ist der chaotische Wirbel vor jeglicher Ordnung, die Angst vor dem Mut, die Verwirrung zur Sinnlosigkeit vor der Entscheidung.

Vor allem aber ist das Wesen ausschließlich erkennbar in Teilen und handhabbar als individuell-existenzielles Phänomen, das sich in der Empraxis virtuoser Könnerschaft offenbart, es zeigt sich uns im Ereignis an uns selbst erfahrener Souveränität. Das Wesen kennt keine Objektivität, es ist die Herausforderung für den Einzelnen, für das Individuum, das Wagnis einzugehen und voranzutreiben, Eigenmaß selbst experimentell einzuüben. An sich selbst maßgebend zu wirken und damit exemplarisch für die Menschheit.

„Culture-Topia: Zur Weisheit des Spielens“ erschien erstmals im am 03.05.2024 fertiggestellten ePaper LZ 124 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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