Seit rund 20 Jahren gibt es ihn. Irgendwann wird er selbst zum historischen Zeitzeugnis: der historische Leipzig-Kalender, den die Leipzig Tourismus und Marketing GmbH (LTM) zusammen mit dem Stadtgeschichtlichen Museum herausgibt. Denn das Museum hat natürlich die Fotos, die diesen Kalender zur Attraktion machen. Der neueste Kalender holt jetzt eine Zeit ins Bild, die viele Leipziger noch erlebt haben.

„Leipziger Alltagsmomente – Fotografien von Sigrid Schmidt“ ist der Titel des Kalenders, der von der LTM GmbH in Zusammenarbeit mit dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig herausgegeben wird.

Die Fotografin Sigrid Schmidt, Jahrgang 1938, hielt die Menschen auf den Straßen und Plätzen sowie in ihrem Alltag in der Großstadt mit der Kamera fest. Ihre Fotografien zeigen Menschen bei der Arbeit, im Straßenverkehr oder beim Verweilen, bei Sonne und Regen. Sie zeigen Stadträume, die es heute so nicht mehr gibt, Orte, die sich verändert haben, ebenso wie heute noch erhaltene, traditionsreiche Gebäude.

Die gezeigten Fotografien sind Momentaufnahmen innerhalb eines Zeitraums von über 30 Jahren, entstanden bei Spaziergängen durch das Leipzig der späten 1950er-Jahre bis nach der deutschen Wiedervereinigung 1990. Die Aufnahmen zeigen die Stadt und die Menschen, die hier lebten – unverfälscht und ungekünstelt, immer spontan und fast wie zufällig in den Fokus genommen, tatsächliche Alltagsmomente.

Und das Besondere: Sigrid Schmidt war auch bei der Gestaltung und Auswahl des Kalenders mit dabei, hat mit ihren Erinnerungen den Hintergrund der Aufnahmen zu erläutern. Denn manches wirkt seltsam, wen man mit diesen Fotos zurückschaut in die 1950er, 1960er und 1970er Jahre.

Noch einmal auf die Linie 28 springen

Dr. Anselm Hartinger, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums, fühlte sich vom April-Foto besonders angeregt, das zwei kostümierte Kinder und eine Straßenbahn der Linie 28 auf dem Hauptbahnhofvorplatz zeigt – ein in Bautzen gebauter Triebwagen der Linke-Hoffmann-Busch AG. Solche Triebwagen schafften die LVB 1930 an. Und sie fuhren noch bis in die 1960er Jahre. Hartinger fühlte sich sofort an ihr Rumpeln erinnert, die Schiebetüren, die man kräftig aufziehen musste. Und die längst wegrationalisierte Linie 28 natürlich.

Aber es ist eben auch ein Foto, das sichtbar macht, was längst zur inhaltlichen Arbeit des Stadtmuseums geworden ist: die Erforschung der Leipziger Alltagskultur. Und da gehört der „Reichtum des großen Straßenbahnnetzes“ schlichtweg mit dazu, so Hartinger. Für viele Leipziger über Jahrzehnte das ganz normale Fortbewegungsmittel in der großen Stadt, gerade in den Zeiten, in denen das Automobil die Straßen noch nicht beherrschte.

Da war das Abenteuer freilich auch oft, so Hartinger, dass die Bahn nicht kam. Also fiel die Schule aus.

Aber seine Alltagsbahn, mit der er praktisch alle seine Ziele im Jugendalter erreichte, war die Linie 24. Auch sie längst wegrationalisiert.

Warten in der Rudolphstraße …

Es ist viel Mobilität, was die ausgewählten Kalenderblätter für 2024 zeigen. Im Juni ein Trabi mit Campingzelt auf dem Dach vor dem Völkerschlachtdenkmal. Das fand LTM-Geschäftsführer Volker Bremer besonders anheimelnd. Da wurde ihm gleich wieder urlaublich zumute. Im Juli ein Handwagen-Zieher, der mit dem motorisierten Verkehr zusammen die Kreuzung überquert. Im August eine Straßenbahn der Linie 5 in der Rudolphstraße – das war 1961, da rollte die Linie 5 hier noch vom Rathaus bis nach Großzschocher.

So schnell geht das, und Dinge, die im Moment des Fotografierens noch ganz gewöhnlich sind, haben sich in Geschichte verwandelt. Und die heutigen Betrachter kommen ins Grübeln, weil das Foto zu ihrem Bild von der heutigen Stadt nicht passt.

Aber genau das sei nun einmal Geschichte, sagt Hartinger: das, was nicht mehr ist. Und er ist froh, dass das Stadtgeschichtliche Museum nicht nur die Glasfotoschätze vom Beginn des 20. Jahrhunderts besitzt, sondern auch Fotografinnen und Fotografen aus der zweiten Hälfe des Jahrhunderts ihre Archive manchmal dem Stadtmuseum überlassen. Oder nur ausgewählte Fotos, die das Alltagsleben der Stadt zeigen. „Und Sigrid Schmidt hat dafür immer den ganz besonderen Blick gehabt“, sagt Hartinger.

Das Titelblatt des Leipzig-Kalenders 2024. Foto: LTM
Das Titelblatt des Leipzig-Kalenders 2024. Foto: LTM

Über 100 Fotos der aufmerksamen Alltagsfotografin hat das Museum schon im Vorlass bekommen. Aus ihnen konnte dieser neue stimmungsvolle Kalender zusammengestellt werden, der die Betrachter jetzt in eine Zeitschicht mitnimmt, die mittlerweile auch schon wieder über ein halbes Jahrhundert her ist. Wie die Zeit vergeht, möchte man sagen. In diesem Fall besonders, weil sich ältere Leipzigerinnen und Leipziger an Vieles noch erinnern werden, weil das mal ihre Jugend war.

Ein rätselhaftes Titelfoto: Können Sie helfen?

Und beim Titelbild bittet das Stadtgeschichtliche Museum sogar um Hilfe. Denn nicht einmal Sigrid Schmidt kann sich noch daran erinnern, warum die Leute auf dem Foto vor einem alten (damals natürlich neuen) Barkas brav in Reih und Glied stehen. Im Hintergrund das noch in der Reparatur befindliche Neue Rathaus. Möglicher Ansatzpunkt: Es zeigt eine Werbeaktion des DDR-Fernsehens in den 1950er Jahren, als der Fernsehfunk auch im Osten noch ganz neu war und landesweit Werbung gemacht wurde für das Programm. Vielleicht mit so einem Barkas als rollendem Fernseher.

Wer tatsächlich weiß, was auf dem Foto zu sehen ist, kann sich jederzeit ans Stadtgeschichtliche Museum wenden.

Mit einer kleinen Plastekiste …

„Das Leben in Leipzig war für mich auch immer das Fotografieren der Stadt Leipzig und ihrer Menschen“, sagt Sigrid Schmidt. Die LTM spricht von einer „poetischen Bildsprache“, die gleichzeitig auch dokumentarisch ist. Und mit jener Hoffnung aufgeladen, die ja die Leipzigerinnen und Leipziger damals auch hatten. Immerhin war Leipzig mit 585.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt der DDR. Man baute wieder auf und träumte von einer lichteren Zukunft.

Etwas, was auch das Septemberbild mit der Mutter und dem Kinderwagen an einem der Brunnen auf dem Sachsenplatz (der längst ebenso verschwunden ist) zeigt.

Entstanden sind die Fotos, so Sigrid Schmidt, in der Regel bei Spaziergängen durch die Stadt. Anfangs mit einer „kleinen Plastekiste“ namens POUVA-Start, nach dem Studium an der HGB und dem Beginn der Arbeit als freie Fotografin natürlich mit professioneller Technik. Man sieht, dass sie den Blick für die Motive hat. Das sind keine Schnappschüsse, wie sie heute jeder mit seinem Handy gleich ins Internet beamen kann.

Ausstellungstipp: Und das Schöne ist: Das Stadtgeschichtliche Museum zeigt in der Reihe „Neu im Museum“ einige Originalabzüge von Schmidt Fotos in seiner Dauerausstellung „Moderne Zeiten“ im Alten Rathaus. Zu sehen sind sie dort noch bis zum 2. Oktober.

Die Verkaufsstellen: Den neuen Leipzig-Kalender, der in 2.000er-Auflage gedruckt wurde, bekommt man jetzt wieder in den Leipziger Buchhandlungen, in der Tourist Information und etlichen Konsum-Verkaufsstellen. Nur durch die Steigerung der Papierpreise bedingt, hat sich der Verkaufspreis inzwischen auf 21,90 Euro erhöht.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar