Bauherren verewigten sich vor 100 Jahren gern mit ihren Initialen an dem Haus, das sie erbauen ließen. Manchmal ist auch der Architekt an der Fassade verewigt. Aber an jedem Haus sind die unterschiedlichsten Gewerke beschäftigt. Und oft stammen viele schöne Details aus Werkstätten, die man heute gar nicht mehr kennt, die aber zur Zeit der Erbauung einen Ruf hatten. Zum Beispiel in Großzschocher, wo 1897 bis 1899 der Arzt Erich Freud seine Villa bauen ließ.
Hübsch gelegen an der Einmündung der Huttenstraße (Kirchstraße) in die Hauptstraße (heute Dieskaustraße), mit Backsteinmauer um den Garten, der heute als große Wiesenfreifläche direkt an der Straßenbahnhaltestelle Huttenstraße zu sehen ist. Und nicht jeder achtet beim Blick auf das heute von der Sparkasse genutzte Gebäude auf die Details. Warum auch? Sind wir denn Flaneure?
Werner Franke, der den kleinen „Heimatblick“ in Großzschzocher betreut und seit 16 Jahren richtige Ortsteilkalender für Großzschocher herstellt, wurde wieder zum Flaneur, ging meistens in sonntäglichen Morgenstunden los, wenn auch in Großzschocher nicht so viele Autos herumfahren und man die Häuser des 1922 nach Leipzig eingemeindeten Ortsteils in aller Ruhe betrachten kann.
In etlichen der Bände, die die Interessengemeinschaft „Chronik Großzschocher-Windorf“ herausgegeben hat, sind schon etliche dieser Details zu sehen, die man meist nicht beachtet, wenn man mit hängendem Kopf vorübertrottet – Hauszeichen, schön gestaltete Giebelfenster, Erker, Fassadenschmuck, Schilder oder eben auch das, was vor 100 Jahren noch zum normalen Auftragsbestand eines gestandenen Schreiners gehörte: stilvoll gestaltete Türen.
Die Interessengemeinschaft trifft sich noch immer regelmäßig. Aber einen weiteren Band zur Chronik Großzschocher-Windorfs habe man ganz bestimmt nicht in Arbeit, sagt Werner Franke. Man lädt sich zwar immer wieder spannende Vortragsredner ein, die immer neue Aspekte zum Ortsteil sichtbar machen. Aber die meisten Mitglieder der Gruppe sind inzwischen längst im Rentenalter. Da fehlt irgendwann die Kraft für neue Buchprojekte.
„Das müssen wir den jüngeren Generationen überlassen“, sagt Franke.
Aber für den bei den Zschocherschen beliebten Kalender ist er doch noch einmal mit der Kamera losgezogen und hat ein Dutzend der eindrucksvollsten Türen im Ortsteil fotografiert – von den Kirchentüren bis hin zum Hauseingang der einst von Dr. Freund beauftragten Villa, die für ihn ein gewisser Anton Schmidt nicht nur entwarf, sondern auch baute. Bis hin zu diesem Eingang an der Huttenstraße, der wahrscheinlich sogar der Haupteingang war, bevor das Haus 1935 von der Sparkasse gekauft und umgenutzt wurde.
Davon erzählen schon die Fliesen, die nicht nur ein orientalisch anmutendes Teppichmuster bilden, sondern den Eintretenden mit dem lateinischen Gruß „Salve“ empfangen. Da werden sich die Patient/-innen von Dr. Freund schon freundlich begrüßt gefühlt haben, bevor sie auch noch an der sauber gearbeiteten Tür läuteten, die nicht nur von der Kunstfertigkeit des Tischlers erzählt, sondern auch von der Schmiedekunst der Werkstatt, die die Fenstergitter herstellte, und der Arbeit einer Glaserei, die das eindrucksvolle Jugendstil-Oberlicht geschaffen hat. Wer hier mit seinem Schmerz zur Sprechstunde kam, wurde fast festlich empfangen.
Kann es sein, dass unsere Vorfahren vor 120 Jahren noch wussten, dass Häuser mehr sind als Wohnzweckeinheiten? In allen Teilen der Gründerstadt Leipzig kann man es besichtigen. Es war das Hauptaugenmerk all jener Engagierten, die 1990 darum kämpften, dass dieses grau und ruinös gewordene Leipzig gerettet wurde. Und es wurde ja gerettet.
In seinen hochherrschaftlichen Teilen (die man im Musikviertel oder im Waldstraßenviertel besichtigen kann) genauso wie in all den tausenden bürgerlichen Wohngebäuden, die alle davon erzählen, dass Wohnen damals noch als kulturvoller Bestandteil des Lebens empfunden wurde. Was man in stilvoll gestalteten Fluren und Treppenhäusern genauso sehen kann wie an auffälligen Erkern und fast majestätischen Türen, die auch dem Eintretenden das Gefühl gaben, etwas Besonderes zu sein.
Und auch wenn der Ausbau Großzschochers zum prosperierenden Leipziger Vorort erst 30, 40 Jahre später begann als in den Vorstädten des alten Leipzig, zeigt auch dieser Leipziger Ortsteil noch viel von der zwischen 1890 und 1930 erbauten Schönheit. In allen Abstufungen, was der neue Kalender auch sichtbar macht, denn natürlich wechselten in dieser Zeit die vorherrschenden Kunst- und Architekturstile, wurde aus dem historisierenden Bauen der Gründerzeit bald der Jugendstil, der sich in Art Déco verwandelte. Jedes Mal trat die Opulenz der Bauverzierungen zurück, merkt man regelrecht, wie Nüchternheit und Sachlichkeit zu dominieren beginnen und auch die Zierelemente immer zurückhaltender werden.
Für die wuchtige Opulenz der Gründerzeit steht zum Beispiel noch die 1893 erbaute Friedhofskapelle.
Aber man kann sich sogar die Türen der Mietshäuser anschauen, die fast alle in den letzten drei Jahrzehnten wieder aufgearbeitet wurden, wahrscheinlich stets mit freundlichem Nachdruck des Leipziger Amtes für Denkmalschutz. Denn diese Türen sind aufwendig. Sie verlangen auch heutigen Schlosser- und Tischlerwerkstätten professionelles Können ab.
Andererseits wurden sie (wie die Tür am Haus Dieskaustraße 218) vor 120 Jahren so stabil gebaut, dass sie zwei Weltkriege und selbst die Vernachlässigung in DDR-Zeiten überstanden. Neu justiert und mit neuem Schloss sind sie heute wieder in alter Schönheit zu bewundern.
Wenn man sich Zeit nimmt dafür und den eiligen Schritt des Neuzeitbewohners einfach mal unterlässt. Was schwer ist. Wir haben ja alle immerzu zu tun und irgendwohin zu eilen. Nie passt alles, was wir vorhaben, in den Tag. Immer glauben wir, irgendetwas zu verpassen. Wir haben uns selbst zu Hamstern im Laufrad gemacht. Und selbst wenn wir mal Zeit haben, glotzen wir lieber auf wimmelnde Bilder auf künstlichen Bildschirmen.
Statt einfach die bequemen Schuhe anzuziehen und die kleine Welt rings um unser Wohnhaus zu erkunden und zu entdecken.
Auch wenn wir nicht erfahren, wer die klassisch schöne Tür in der Wilhelm-Michel-Straße 9 geschreinert hat. Oder die Art-Déco-Vase über der Tür der Huttenstraße 28 in den Putz geformt hat. Es steht nicht dabei. Und selbst wenn die Meister damals ihre Werkstatt in Großzschocher hatten, sind wir diesmal aufgeschmissen, weil die Adressbücher der Sächsischen Landesbibliothek ausgerechnet dieser Tage vom Netz genommen sind.
Das sind die Handwerkeleien der Gegenwart: „Bis einschließlich 26.08.2020 finden in der SLUB auf Veranlassung und in Abstimmung mit dem Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement (SIB) umfassende Wartungs- und Reparaturarbeiten – vor allem an technischen Anlagen – statt, deren Auswirkungen auch die digitale Infrastruktur betreffen. Ein wesentlicher Teil davon ist gesetzlich vorgeschrieben“, kann man da lesen.
Mit einigem Bedauern. Auch Dr. Achim Bonte, Generaldirektor der SLUB, bedauert uns ja: „Wir wissen, dass diese Einschränkungen kurz nach dem coronabedingten Lockdown eine Belastung sind und bitten noch einmal um Verständnis und Geduld.“
Aber haben wir nicht in elf Tagen vergessen nach den Tischler-, Schlosser- und Glasermeistern in Großzschocher zu suchen, die zum Beispiel dabei waren, als die Schule gebaut wurde und richtig stilvolle Türen bekam? Haben Sie schon einmal auf die eindrucksvolle Schönheit von Schultüren geachtet (in diesem Fall sogar der Hausmeistertür)?
Türen, vor denen man automatisch Ehrfurcht bekommt vor den Gängen und Klassenräumen dahinter. Türen, vor denen man einerseits kleinlaut wird und andererseits frech. Das ist Schularchitekten meist gar nicht bewusst: Dass man mit architektonischer Ehrfurcht auch das Rebellische in Jugendlichen erst so richtig herausfordert.
Aber je weiter man mit Werner Franke kommt, umso mehr merkt man, wie Türen von 1913 oder 1910 immer auch Gesamtkunstwerke waren, eben eine richtige Visitenkarte für das Haus. Und dass wir das alles wohl verloren hätten, wenn nicht nervige Mitarbeiter/-innen des Denkmalschutzamtes darauf beharrt hätten, dass alle diese schönen Details wieder hergestellt werden.
Denn wo sie nicht einschritten, weil das Haus schon lange nicht mehr im Originalzustand war, da haben die Hausbesitzer in der Regel das Billigangebot aus dem Baumarkt gewählt, jene vielen weißen Plastiktüren, vor denen man schon beim Anschauen denkt: Jetzt wird es billig.
Selbst wenn die Mieten dahinter nicht billig sind. Aber das ist vielleicht der Unterschied zu damals, wo das Wohnen doch deutlich günstiger war, dafür schon der Eingang ins Haus ein Hinweis auf Wertschätzung, egal, ob für Besucher oder Bewohner. Heute ist es andersherum, beginnt das Unwohlsein schon beim Anblick der gesichtslosen Tür.
Den Kalender bekommt man wieder an den bekannten Verkaufsstellen in Großzschocher oder direkt bei Werner Franke in der Herberge „Zur alten Bäckerei“.
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