30.000 Teilnehmer meldet der LTM zum Lichtfest 2013. Im Rahmen des Lichtfests Leipzig erlebten sie vor der großen Front des Leipziger Opernhauses eine künstlerische Auseinandersetzung unter dem Motto "Wie geht's? Über Prag!". Tanzte im Jahr 2012, beim Gastspiel der Ungarn, das Leipziger Ballett die eindrucksvollen Szenen zum Mauerfall auf der Bühne, so waren es diesmal Leipziger Schauspieler aus der freien Szene, die das Stück des Autors Ralph Oehme darboten.
Der Leipziger Regisseur und Schauspieler Ralph Oehme wurde 1954 in Geithain geboren. Und natürlich hatte das, was da auf der Bühne zu sehen war, viel mit seinem Leben und der ganz speziellen Leipziger Weltsicht zu tun. Wäre es nur Theater gewesen, man hätte sich durchaus auch an das Musical “Elixier” von Tobias Künzel erinnert fühlen dürfen. Die Ostdeutschen haben ein durchaus buntes und uneindeutiges Verhältnis zu Prag. Und einen sichtlichen Hang zur volkstümlichen Erzählung.
Das beginnt ja schon mit den Erinnerungen an den Prager Frühling. Der nicht erst 1968 begann, sondern 1963 mit der Kafka-Konferenz der tschechischen Schriftsteller. Der tschechische Frühling begann mit der Wiederentdeckung dieses faszinierenden Schriftstellers, der die vormundschaftlichen Systeme der Moderne schon im Ursprung beschrieb – aus der Sicht jenes ausgelieferten Menschen, der in den wuchernden Apparaten keine Erlösung mehr findet.
Und weil das auch in der CSSR so war, wurden die Schriftstellertreffen zur Institution. 1968 kam dann der mutige Versuch Dubceks dazu, den längst erstarrten Staat zu reformieren. Ein Versuch, der von russischen Panzern beendet wurde. Die Radio-Stimme aus dem Off erzählte dann mal wieder die bis heute malträtierte Unwahrheit: Die Truppen der DDR sind nicht einmarschiert. Das hatte ihnen Moskau schlichtweg untersagt.
Nur kurz spielte das auf der großen Leinwand auf dem Augustusplatz eine Rolle, auf der die Ereignisse in Tschechien und der Slowakei (bis 1989 ?SSR) thematisiert wurden. Von Anfang an sah Jürgen Meier, der künstlerische Leiter des Lichtfestes Leipzig, wie komplex das Thema Prag tatsächlich ist. Mit dem Zug reiste er die ganze Strecke ab, die im September 1989 die Züge mit den Prager Botschaftsbesetzern über das DDR-Gebiet nach Hof nahmen.
Hof kam auch in Oehmes fröhlich gereimten Stück vor: Hier sitzt der Obdachlose in seiner Tonne, der eben noch im sächsischen Bergbaurevier die Öfen heizte. Er kann sagen: Ick bin allhier. Oehme ist ein Schalk. Er erzählt keine Geschichte, die gut ausgeht. Und er hat auch seine bissigen Pointen zur besetzten Prager Botschaft gesetzt, in der die Ausreisewilligen gepfercht wie die Hühner verharren, bis der Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon tritt und seinen viel zitierten Satz sagte.
Den an diesem Abend auch wieder Leipzigs OBM Burkhard Jung zitierte. Er hat das Ganze ja damals aus beschaulicher Entfernung miterlebt. Die Gewissenskonflikte hatten ja jene, die in der späten, selbst schon erstarrten DDR, ihre Entscheidung fällen mussten: Ausreisen und die Chance auf ein neues Leben nutzen? Nach Prag fahren und dieses vielleicht allerletzte Schlupfloch nutzen, um rauszukommen? Oder wie die Eltern des jungen Arztes, der nach seinem Ausreiseantrag den Bahnhof fegen darf, dableiben und ausharren, wissend, dass die Chancen für Ältere im gelobten Westen auch nicht wirklich rosig sind?
Und immer wieder dazwischen der freche, boshafte Bursche in der Tonne, der aus eigener Erfahrung weiß, dass nur Wenige wirklich das große Glück ernten. Den anderen ergeht es … Das lässt er dann lieber weg. Es spricht für sich. Das Jahr 2013 ist auch ein nüchternes Jahr. Nicht nur in Leipzig. Auch in Prag. Und der bekannte slowakische Schauspieler Róbert Roth zitierte in Leipzig eben mal nicht die Szene in Auerbachs Keller, sondern jene Szene am Schluss, als Faust mit der Formel “Zum Augenblicke könnt ich sagen, verweile doch …” seine Seele verspielt, weil er träumt, weil er sich eine Gesellschaft ersehnt, die mit der aktuellen nichts zu tun hat. Der Vers wird meistens losgelöst zitiert – ohne das, was Faust davor sagt. Wie das oft so ist: Das Wichtigste fehlt.
Roth hat es an diesem 9. Oktober zitiert, ausführlich. Es war keine Sonntagsrede, die er hielt. Als Faust-Darsteller kennt er seinen Text und weiß, wie viel Vision in diesem Faust-Text steckt. Uneingelöst bis heute. Auch in Prag. Auch der Samtenen Revolution von 1989 ging eine Zeit der Erstarrung voraus, ein hilfloser Versuch, den Freiheitswunsch des Volkes irgendwie doch noch zu unterdrücken. Ein Moment der drohenden Gewalt, der mit neuer Hoffnung einher ging.
Doch auch für Roth hat sich 24 Jahre später Vieles nicht erfüllt. Von Goethe kommt er zu Becket. Dessen “Warten auf Godot” interpretiert er an diesem Abend auf seine Weise. Denn der da kommen soll, der steht ja für das Unerfüllte in den beiden abgerissenen wartenden Gestalten, für ihre eigene Freiheit, die sie sich nicht zu nehmen trauen. “Godot ist in uns”, sagt Roth.
Erstaunlich: Die 30.000 auf dem dunklen Augustusplatz hören zu.
Und sie verfolgen auch aufmerksam das Stück, das Oehme geschrieben hat und in dem die Szenen von 1989 wieder lebendig werden. Und die flaue Ernüchterung danach. Zwischendrin immer wieder die Zugszenen, untermalt von einer Truppe, die zum Schönsten an diesem Abend gehörte: der Brünner Band Ty Sy?áci, drei Herren, denen man eigentlich eher eine 30-jährige Rockerkarriere angedichtet hätte. Aber in einer burlesken Freude zelebrierten die Drei auf der Bühne Lautmalerei vom Schönsten, ließen die Züge hörbar werden und die ganze Verrücktheit der Zeit, die halbe Erdgeschichte wurde lebendig.
Am Ende fehlte dann trotzdem die Pointe. Der Zug fuhr in den Leipziger Hauptbahnhof ein. Als Bild: die Promenaden, die schöne bunte Shopping-Mall. Unübersehbar waren da einige Künstler am Werk, die 24 Jahre nach dem großen hoffnungsvollen Aufbruch stark geneigt sind, ihre Fragezeichen zu setzen. Wie weiter? – War wirklich das Shoppen auf dem Leipziger Hauptbahnhof Ziel der Reise?
Beifall bekam nicht nur der Bursche in der Tonne, sondern auch Bundespräsident Joachim Gauck, der von der anwesenden Fotografenschar abgelichtet wurde, als wär’s der neue König von Deutschland.
Ein schräger Abend, fast ein wenig kafkaesk. Aber damit wohl passend zum Leipzig von 2013. Aber genau so war es von Meier und Oehme auch gedacht. Ralph Oehme: “Als Zeitzeuge – bei der ersten Leipziger Demonstration war ich per Zufall in vorderster Reihe dabei und den Einmarsch der Roten Armee in die ?SSR 1968 habe ich als Vierzehnjähriger in Karlsbad selbst mit ansehen müssen – ist mir der Zugang zum Thema natürlich leicht gefallen. Dabei hat es mich besonders gefreut, dass wir mit unserem Kommentator auch eine durchaus kritische Stimme einfließen lassen durften. Die Geschichte des Herbst `89 kann fast 25 Jahre danach auch eine von enttäuschten Hoffnungen sein. Diesen Aspekt wollten und konnten wir zeigen.”
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