Bisweilen muss ein Film brutal sein. Nicht brutal schmerzhaft für die Figuren, etwa bei der Inszenierung eines blutigen Gemetzels. Sondern brutal für den Zuschauer, weil seine Bilder im Kopf des Rezipienten negativ beladene Gefühle evozieren, die einerseits belasten, aber andererseits zum Weiterschauen zwingen. Der Kanadier Denis Villeneuve (46) hat mit "Prisoners" solch einen Neo-Noir kreiert, der das Publikum zu elektrisieren weiß.
Dieser Film geht ins Mark. Zwei sechsjährige Mädchen werden entführt. Zwar kann der ehrgeizige Detective Loki (Jake Gyllenhaal) mit dem geistig zurückgebliebenen Alex Jones (Paul Dano) schnell einen Verdächtigen fassen. Doch die Kinder bleiben trotz großangelegter Suche verschwunden. Mangels Beweisen muss Loki den mutmaßlichen Kidnapper laufen lassen. Der Vater eines der Opfer, Keller Dover (Hugh Jackman), ein bibelfester Kriegsveteran, nimmt das Recht selbst in die Hand. Der Mittvierziger entführt Jones, um ihn zum Geständnis zu zwingen. Notfalls mit roher Gewalt.
Villeneuve (“Die Frau, die singt”) erzählt in “Prisoners” die Geschichte zweier grundverschiedener Männer, die in einer Notlage miteinander kollidieren: Einerseits der loyale Cop, Mitte dreißig, der von seiner Versetzung in die Großstadt träumt. Andererseits der gläubige Christ mit Kriegserfahrung, der in einem ruhigen Vorort sein Familienglück gefunden zu haben scheint.
Die christliche Religion zieht sich wie ein roter Faden durch die Inszenierung. Permanent rezitiert Dover aus der Bibel. “Auge um Auge, Zahn um Zahn.” Was der Familienvater nicht ausspricht, treibt ihn an. Du hast mein Kind entführt, also sperre ich dich ein, bis du es mir zurückgibst. Selbst als sein Opfer, der vermeintliche Entführer, mit stark verquollenem, blutverschmiertem Gesicht vor ihm hockt, brüllt ihn Dover noch an: “Sag’s mir, sag’s mir!”
Sein Agieren mag ein Stück weit nachvollziehbar erscheinen. Doch ist der Familienvater mit seiner Folter-Methode auch im Recht? Aus der juristischen Warte heraus betrachtet, postuliert Villeneuve in einer der letzten Szenen ein klares Nein. Und moralisch? Die Beantwortung dieser Frage überlässt der Kanadier dem Zuschauer.
Der wird zweieinhalb Stunden lang mit dem Alptraum aller Eltern schockiert. Zwei Kinder verschwinden ohne jede Spur. Die Polizei tappt im Dunkeln. Die Väter und Mütter gehen durch die Hölle auf Erden, müssen durch den Lügendetektortest, greifen teils zu Medikamenten. Die Medien stürzen sich auf den Fall. Dass der Hauptverdächtige nach 48 Stunden ohne Anklage ein freier Mann ist, entspricht dem amerikanischen Gesetz. Seine Freilassung wirft aber das Gerechtigkeitsempfinden der Opfer-Eltern über den Haufen.
Der Zuschauer leidet mit Villeneuves Figuren. Hugh Jackman spielt Vater Dover mit Rauschebart, kriegsverdrossen, streng gläubig und rasend vor Wut. Das wirkt glaubhaft. Jake Gyllenhaal brilliert als empathischer Polizist mit Impulskontrollstörung und Hang zu Selbstzweifeln. Ein Borderliner, wie er im Lehrbuch steht.
Zahlreiche dramaturgische Irrungen und Wirrungen sorgen für Adrenalin bis zum allerletzten Augenblick. Ein Priester hat eine Leiche im Keller, ein früherer Entführungsfall spielt alsbald eine Rolle und dann taucht auch noch ein Verwirrter auf, der manisch Labyrinthe an die Wände seiner Zimmer zeichnet. Am Ende finden alle Puzzleteile in der Auflösung des kriminalistischen Mysteriums ihren Platz. Dass keine Spur offen bleibt, ist eine erzählerische Glanztat von Drehbuchautor Aaron Guzikowski (“Contraband”), wie man sie im US-amerikanischen Film dieses Kalibers nicht alle Tage erlebt.
Die pessimistische Grundstimmung wird von Star-Kameramann Roger Deakins (64) in düsteren, durchkomponierten Einstellungen präzise umgesetzt. Villeneuve arbeitet die inneren Konflikte seiner Figuren en detail heraus, ohne den Zuschauer mit ausufernden Längen zu konfrontieren oder gar den Spannungsbogen zu zerstören.
“Prisoners” unterhält nicht als x-beliebige Rache-Phantasie, “Made in Hollywood”. Das Werk konfrontiert den Zuschauer eindringlichst mit komplexen, ethischen Fragen nach der Legitimität von Selbstjustiz und Rache. Deswegen zählt der Film zu den herausragendsten Produktionen des Kinojahrs 2013.
USA 2013, R: Denis Villeneuve, D: Hugh Jackman, Jake Gyllenhaal, Maria Bello, Terrence Howard, Viola Davis, Paul Dano, Melissa Leo, 153 Min, FSK 16.
Filmstart ist der 10. Oktober, zu sehen im CineStar, Cineplex, Regina Palast und UCI Nova Eventis.
Die Seite zum Film:
www.prisoners-derfilm.de
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