Die 1990er Jahre markierten für Leipzig und ganz Sachsen eine Zeit des dramatischen Wandels. Mit dem Ende der DDR und der deutschen Wiedervereinigung begann eine neue Ära. Die Transformation von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer freien Marktwirtschaft brachte tiefgreifende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen mit sich.
Zwischen Arbeitslosigkeit und Sanierung
Die ostdeutsche Industrie, die während der DDR-Zeit das Rückgrat der Wirtschaft bildete, geriet in den 1990ern in eine tiefe Krise. Viele Betriebe in Sachsen konnten sich den neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht anpassen und mussten schließen. Besonders in Leipzig, einem traditionellen Industriezentrum, führte das zu hohen Arbeitslosenzahlen.
Trotz dieser Schwierigkeiten entstanden in Leipzig und Sachsen auch neue Chancen. Städte wie Leipzig und Dresden zogen durch Subventionen und Förderprogramme Investoren aus dem In- und Ausland an. Die Ansiedlung von Unternehmen wie BMW und Porsche in Leipzig in den späten 1990er Jahren zeigte, dass die Region Potenzial für eine moderne Industrieentwicklung hatte.
Neben dem wirtschaftlichen Wandel erlebte Leipzig in den 1990er Jahren auch eine städtebauliche Erneuerung. Die jahrzehntelange Vernachlässigung der Bausubstanz in der DDR hatte viele historische Gebäude verfallen lassen. Doch nach der Wende begann ein groß angelegtes Sanierungsprogramm. Besonders das Stadtzentrum, das jahrzehntelang durch marode Bauten und unsanierte Altbauten geprägt war, erlebte einen Aufschwung.
„Baseballschlägerjahre“ in „Hypezig“
Leipzig entwickelte sich auch kulturell zu einer attraktiven Stadt. In den 1990er Jahren nahm die Stadt ihren Beinamen „Hypezig“ an, was die aufblühende Kulturszene und das kreative Milieu widerspiegelte. Künstler*innen und Kreative, die von den niedrigen Lebenshaltungskosten und den leerstehenden Räumen angezogen wurden, begannen, das Stadtbild zu prägen. Die Leipziger Baumwollspinnerei, ein ehemaliges Industriegelände, entwickelte sich zu einem Zentrum für zeitgenössische Kunst und zog Künstler wie Neo Rauch an.
Die 1990er Jahre waren aber nicht nur eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs in Ostdeutschland, sondern auch eine Zeit, die von Gewalt, rechtsextremen Übergriffen und politischer Radikalisierung geprägt war. Besonders in Ostdeutschland, und auch in Städten wie Leipzig, wurde dieses Jahrzehnt später als die „Baseballschlägerjahre“ bezeichnet.
Die wirtschaftlichen Umbrüche, der massive Verlust von Arbeitsplätzen und der Zusammenbruch alter sozialer Strukturen führten bei vielen Menschen zu Orientierungslosigkeit und Frust. Diese Situation schuf einen Nährboden für Radikalisierung, vor allem unter Jugendlichen, die sich oft perspektivlos fühlten. Mit Glatze, Bomberjacke und Springerstiefeln prägten rechtsextreme Skinheads das Straßenbild in vielen Gegenden und machten sie für Menschen mit Migrationshintergrund, Linke und Andersdenkende zu gefährlichen Zonen.
Doch es gab auch massive Proteste gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. In Leipzig, als eine der Hochburgen antifaschistischer Bewegungen, entstanden zahlreiche Initiativen, die versuchten, dem rechten Terror entgegenzuwirken.
Zwischen Aufbruch und Abwicklung: Ausstellung im Haus Böttchergäßchen
All diese Facetten will das Stadtgeschichtliche Museum unter dem Motto „Zwischen Aufbruch und Abwicklung“ einfangen. „Erinnerungsstücke, Fakten und Fernsehbeiträge erwecken die 90er zum Leben, mit ihren Licht- und Schattenseiten“, beschreibt das Museum die Sonderausstellung im Haus Böttchergäßchen
Im sogenannten „Freiraum“, dem offenen Forum der Ausstellung, werden alle Menschen eingeladen, sich mit aktuellen Sichtweisen auf die 90er auseinanderzusetzen. Themen und Inhalte stammen aus diversen Vorgesprächen und Projekten. „Der Freiraum ist ein Platz für persönliche Geschichten. Er wird sich im Laufe der Ausstellung stetig verändern“, so das Stadtgeschichtliche Museum.
So stellt das Team an jedem ersten Mittwoch des Monats einen Aspekt der Stadt in jener umbruchvollen Zeit vor. Während der 60-minütigen Rundgänge möchte man so mit den Besucher*innen ins Gespräch kommen.
Um auch mit Menschen im Stadtraum ins Gespräch zu kommen und Personen zu befragen, die das Museum nicht oder nicht regelmäßig besuchen, ist das Museum bereits seit Sommer 2023 mit einer eigens entwickelten Wanderausstellung im Stadtraum unterwegs: unter anderem auf dem ibug-Festival für urbane Kunst, im Heimatverein Rückmarsdorf, im Stadtbüro Burgplatz, im Allee-Center Grünau oder im Westwerk. Auch diese Stimmen, Meinungen, Erinnerungen und Impulse fließen mit in die Ausstellung ein.
Terminalrundgang, Podiumsdiskussionen und ein Filmprojekt
Vom Vortrag „T-Shirts, Tattoos, Trainingsanzug. Erinnerungen an die 90er“ über die szenische Lesung „Halber Löwe“ bis zum „90er-Talk“: Das Programm zur Sonderausstellung ist prall gefüllt. So wird es im Januar beispielsweise einen Rundgang mit Vortrag im Flughafen Leipzig/Halle geben. Und über den ganzen Herbst und Winter Gesprächsrunden zu Themen wie der Aufarbeitung der DDR-Geschichte, migrantischen Perspektiven auf die Umbruchszeit oder auch die „Baseballschlägerjahre“.
Unter dem Motto „Umbruch hautnah“ werden außerdem verschiedene Filme gezeigt und besprochen. „Wie sehr die Höhen und Tiefen dieser Umbruchszeit den Menschen in unserer Stadt unter die Haut gingen, wird in Fernsehbeiträgen und Dokumentationen sichtbar. Sie zeigten erstmals nach der DDR ungefiltert und unzensiert Menschen und ihre Meinungen – Entscheider, Aktivistinnen und Aktivisten, Prominente, aber auch Jugendliche mit ihren Problemen, die Vielfalt der Stimmen auf der Straße oder am Arbeitsplatz“, so das Stadtgeschichtliche Museum.
Jugendliche von damals sprechen mit Jugendlichen von heute
Für ein Bildungs- und Forschungsprojekt sucht das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig zudem Teilnehmende. Beim Projekt „Zeitreise“ sollen Menschen, die die 1990er Jahre als Jugendliche erlebt haben, mit Teenagern und jungen Erwachsenen ins Gespräch kommen.
„Es soll ein Austausch darüber entstehen, wo in den Lebensrealitäten von damals und heute Parallelen liegen – und wo Unterschiede“, so Pressesprecherin Katja Etzold vom Stadtgeschichtlichen Museum. Doch wie versucht das Museum eine große Vielfalt an Menschen für das Projekt zu begeistern?
„Erwachsene erreichen wir über den Aufruf zum Mitmachen und alle unsere Presse- und Öffentlichkeitsarbeitskanäle“; so Etzold. „Die Jugendlichen sprechen wir durch Aktivitäten wie Besuche und Flyer in Jugendtreffs, Vereinen, kulturellen Zentren, Schulen und auch auf Social Media an.“ Tatsächlich sei es aber herausfordernd, die Jugendlichen bei der Umsetzung mit abzuholen.
Für das Projekt mit voraussichtlich fünf Einzelterminen im November und Dezember 2024 werden noch junge Menschen gesucht. Bis Ende September können sich 13- bis 19-Jährige per E-Mail an vermittlung.stadtmuseum@leipzig.de wenden.
Von der Vergangenheit in die Zukunft
„Eine Botschaft der Ausstellung und des Begleitprogramms beziehungsweise der Projekte ist: Alles bietet Raum für Diskurs“, so Katja Etzold. „Wir öffnen uns und möchten dazu beitragen, dass die Menschen anhand des Verständnisses ihrer gemeinsamen Geschichte miteinander ins Gespräch kommen, sich gegenseitig besser verstehen und so vielleicht konstruktiver mit und in den gegenwärtigen Verhältnissen agieren können.“
Denn wie die 90er Jahre in den Köpfen der Menschen und im Stadtbild fortwirken, ist heute noch offen. Und zur Beantwortung dieser Frage möchte die Ausstellung „Zwischen Aufbruch und Abwicklung“ einen Beitrag liefern.
Für weitere Informationen zur Ausstellung, den Veranstaltungen und Projekten einfach hier klicken.
„Eine Zeit des Umbruchs: Projekt im Stadtgeschichtlichen Museum beleuchtet die 1990er in Leipzig“ erschien erstmals im am 27.09.2024 fertiggestellten ePaper LZ 129 der LEIPZIGER ZEITUNG.
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