Am 16. März brachte „The Leipzig Glocal“ ein Interview mit dem Leipziger Buchprofessor Siegfried Lokatis. Natürlich zu Büchern und zur Innenstadt-Ausstellung „Messegastland DDR“. Natürlich auf Englisch. Wir bringen das Interview heute auf Deutsch, mit freundlicher Genehmigung und natürlich (unterm Text) direktem Link zu „The Leipzig Glocal“. Das Interview führte die Soziologin Helena Flam.

Lieber Siegfried Lokatis, Bücher werden gelesen oder, wenn sie sich davon erholen, gehören sie ins Regal – entweder in der Bibliothek oder in der Buchhandlung. Bücher in Schaufenstern von Warenhäusern oder Restaurants zu sehen, ist außergewöhnlich. Was hat diese Idee inspiriert?

Sie ist langsam gewachsen. Es begann 2013, als wir zum 100. Jubiläum der Insel-Bücherei Plakate hängen wollten: Das war schwierig, weil Ladengeschäfte selten Platz dafür haben, die Schaufenster sind das Allerheiligste eines Geschäfts. Aber die Adler-Apotheke in der Hainstraße fragte mich, ob wir nicht einzelne Inselbücher von ihrem einstigen Lehrling Fontane hätten. Und so ging es los. Schließlich sah es so aus.

Es ist eine Leistung, die Warenhaus-/Restaurantmanager/eigentümer für diese außergewöhnliche Idee zu gewinnen. Wie haben Sie das geschafft?

Anfangs war es sehr schwer und hing am Enthusiasmus einzelner Geschäftsführer, ich denke an Peter Becker in der Commerzbank, wo unsere Inselplakate auch dieses Jahr wieder beleuchtet werden. Andere musste man bei ihrer Leipziger Ehre packen. Läden wie Zara haben dafür gar keinen Handlungsspielraum, die müssen in Hamburg oder sogar Madrid fragen. Inzwischen stellen manche Geschäfte von sich aus Inselbücher ins Fenster, wenn ich sie vergessen habe und ich werde angesprochen: „Oh Professor Lokatis, Sie hier, ist wieder Buchmesse?“

Es ist in jedem Laden unterschiedlich. Ein Geschäftsführer besaß selbst über 1.000 Inselbücher, andere wissen nicht, wo bei Büchern vorne und hinten, oben und unten ist. Das muss ich dann immer wieder geraderücken.

Es handelt sich nicht um irgendwelche Bücher, sondern um Bücher mit Vergangenheit. Könnten Sie ein bisschen über sie erzählen?

Diesmal lautet das Thema: „Messegastland DDR. Vergessene Buchkunst?“ – Diese Bücher wurden 1990 aus den Läden gedrängt und landeten oft auf Müllkippen. Peter Sodann sammelt sie inzwischen in seinen Hallen in Staucha bei Riesa bei Meißen und stapelt mehrere Millionen in Bananenkisten, die beste Erfindung des Westens, wie er gern sagt. Bibliothek-Profis hielten das für Quatsch, weil die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig ja jedes Buch gesammelt habe. Stimmt in der Regel, nur hat man dort, in der DB, bis 1985 die Buchumschläge entfernt und die Bücher in monochrome Plastikeinbände gebunden. Dann halten sie besser, aber welche Buchkunst wurde damit zerstört! In der DDR war das Papier sehr schlecht und deshalb konzentrierten die Verlage ihre Kreativität, die ihrer berühmten Buchkünstler, auf die Umschläge. Eine ganze Kulturschicht, die wir retten mussten. Glücklicherweise lagerten versteckt in den Kellern des Grassi-Museums noch über 100.000 Buchumschläge, aus denen wir etwa 10.000 aus der DDR heraussuchen durften.

Unglaublich tolle, ganz unbürokratische Unterstützung fanden wir bei der Wüstenrot-Stiftung, die uns ermöglicht, die Umschläge zu digitalisieren, einzuscannen und zu kommentieren, wie der Verlag, wie der Künstler hieß, wann der Umschlag entstanden ist usw. Jetzt hilft uns auch die Leipzig-Stiftung. Sonst könnten wir die Umschläge jetzt gar nicht zeigen, dann wären das Unikate.

War es schwierig zu entscheiden, welche Bücher und Umschläge ausgestellt werden?

Ja, natürlich. Ein Master-Seminar war im Winter beschäftigt, sie zunächst nach Verlagen zu ordnen und dann die schönsten herauszusuchen, die womöglich auch noch zu bestimmten Läden im Alten Rathaus passen sollten, mit Schuhen, Schmuck oder Handtaschen drauf.

Es gab aber in der DDR eine kleine Reihe ambitionierter Verlage, die immer wieder Preise für besonders schöne Bücher erhielten, allen voran Reclam und Volk und Welt, aber auch der Buchverlag der Morgen, Aufbau, Verlag der Kunst, Neues Berlin, der Satireverlag Eulenspiegel  – und natürlich die Inselbücherei. Denen haben wir eigene große Fenster gewidmet.

Wer hat die Idee umgesetzt – die Bücher und Informationsblätter sind so lebenslustig und schön arrangiert?

Das machen inzwischen unsere begeisterten Studentinnen, manche von ihnen freiwillig, obwohl sie ihr Studium schon abgeschlossen haben.

Wie stehen die schönen Ausstellungen, die Sie über das Stadtzentrum verstreut hatten, zur Buchmesse?

Die Buchmesse und „Leipzig liest“ sind unser natürlicher Resonanzboden, die Fenster in der City stehen für so viel Arbeit nicht lange, einige immerhin über Ostern, aber hunderttausend Bücherfreunde können sie sehen. Die Läden machen auch nur mit, weil es eine kurze Zeit ist, auch um die in den Norden ausgewanderte Buchmesse sichtbar in die Stadt zurückzuholen, wo sie früher war.

Wichtig ist noch: so ein Projekt kann Leipzig keine andere Stadt nachmachen, weder Berlin, München noch Hamburg und schon gar nicht Frankfurt. Dazu braucht es eine so schöne, in sich abgerundete Innenstadt und den gewachsenen Buchmesse-Enthusiasmus der Ladeninhaber. Wir basteln also ein echtes Alleinstellungsmerkmal für die Leipziger Messe.

Früher hatten Sie nicht über die schönen Bücher, sondern über die Zensur in der DDR geforscht, gibt es da einen Zusammenhang?

Als Zensurforscher bekommt man den Adlerblick, den Blick des Zensors auf das ganze Verlagswesen der DDR. Sonst könnte man eine so breit angelegte Ausstellung vielleicht gar nicht machen. Man muss ja z. B. die Profile der Verlage, ihre Freiräume kennen und wie sie welcher Verleger genutzt hat, welches künstlerische Milieu sie pflegten, wie ihre „künstlerischen Leiter“ vernetzt waren, mit welchen Tricks sie an gutes Papier und seltene Farben kamen.

Spannend ist die Fortexistenz einer bürgerlich geprägten bibliophilen Szene in der DDR, aber auch eine bemerkenswert breit gestreute sozialistische Lesekultur, weshalb sich so viele Leute ja noch nach 25 Jahren an ihren alten Büchern freuen. Die Reaktion vieler Leute auf unsere Fenster finde ich überwältigend, so etwas habe ich auch mit den Inselbüchern noch nicht erlebt.

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